Laut dem aktuellen Global Trends Report vom Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR waren Ende 2022 weltweit 108,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Insgesamt sind Ende 2022 neunzehn Millionen Menschen mehr auf der Flucht als noch Ende 2021 – dies entspricht einem Anstieg von 21 Prozent. Dies ist der größte Anstieg innerhalb eines Jahres, den UNHCR je verzeichnet hat. Seit 2013 – also binnen weniger als zehn Jahren – hat sich die Zahl der gewaltsam Vertriebenen damit verdoppelt.
Inge Höger
Immer mehr Menschen fliehen vor Kriegen und Konflikten. Die meisten kommen aus Syrien, der Ukraine und Afghanistan. Der Krieg um die Ukraine hat Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Der UNHCR schätzt, dass durch den Konflikt im Sudan die Zahl der weltweit Vertriebenen inzwischen auf 110 Millionen angestiegen ist. 45,9 Millionen Menschen haben laut UNHCR im Jahr 2022 außerhalb ihres Landes Zuflucht gesucht. 62,5 Millionen Menschen sind als Binnenvertriebene innerhalb ihres Herkunftslandes auf der Flucht vor Gewalt und Konflikten.
Von 159 324 Geflüchteten, die bis Anfang September 2023 die Mittelmeeranrainerstaaten erreichten, sind 154 800 übers Mittelmeer gekommen, 2323 ertranken bei der Überfahrt. Seit dem Sommer der Migration 2015 sind mindestens 26 800 Menschen im Mittelmeer ertrunken. An den EU-Außengrenzen verloren Zehntausende durch das Grenzregime ihr Leben.
Erregte das alltägliche Sterben von Männern, Frauen und Kindern auf den Fluchtwegen in den Jahren bis 2015 noch Entsetzen und Fassungslosigkeit, hat sich die Stimmung inzwischen verändert. AfD, Pegida und Co. machen Stimmung gegen Migration und Politik und Medien lassen sich zu immer neuen Vorschlägen gegen die angebliche Überlastung treiben. Die Öffentlichkeit schaut kaum noch auf die Situation von Geflüchteten. Stattdessen überbieten sich deutsche und europäische Politiker mit Vorschlägen wie man die Tore Europas vor ungebetenen Schutzsuchenden endgültig verschließen könnte.
Die häufigste Fluchtursache sind Kriege. Laut Angaben des UNHCR gab es im Jahr 2022 fast 103 Millionen Menschen, die aufgrund bewaffneter Konflikte und Gewalt von ihrem Zuhause vertrieben waren. In allen zehn Staaten, aus denen 2022 die meisten Menschen sich auf den Fluchtweg machten, herrschte Krieg oder ein bewaffneter Konflikt. Die meisten dieser Kriege gingen von den USA und den westlichen Verbündeten aus, die versuchten eine Weltordnung in ihrem Sinne zu erhalten. So in Afghanistan, dem Irak, Syrien, Libyen, aber auch in Afrika. Aus Syrien sind über fünf Millionen geflohen und es gibt über sechs Millionen Binnenflüchtlinge. In dem aktuellen Krieg um die Vorherrschaft um die Ukraine sind bereits über acht Millionen Menschen ins europäische Ausland geflohen. Hinzu kommen 5,35 Millionen Binnenflüchtlinge.
Der zweite Grund zur Flucht vieler Menschen sind Perspektivlosigkeit und Armut. 700 Millionen Menschen leiden weltweit unter extremer Armut. Armut macht krank und Krankheit macht arm. Viele Menschen haben keinen Zugang zu gesunder Ernährung und guter Gesundheitsversorgung, es fehlt an sauberem Wasser und sanitären Anlagen. Die Kindersterblichkeit ist hoch und die medizinische Versorgung schlecht. Viele Länder des Südens wurden durch Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds zu Einsparungen bei Gesundheit und Bildung und zu Privatisierungen der Daseinsvorsorge gezwungen.
Die zehn ärmsten Länder der Welt sind alle reich an Rohstoffvorkommen. Die Industrienationen haben seit dem Ende der Kolonialzeit Mittel und Wege gefunden, diese Rohstoffe weiter auszubeuten und sich das zu holen, was sie für die kapitalistische Produktion benötigen. In einer Vielzahl rohstoffreicher Länder, vor allem in Afrika, lebt die Mehrheit der Bevölkerung in Armut. Über Kreditauflagen, Entschuldungsprogramme, aber auch mittels sog. Freihandelsverträge, wird dieses System der Ausbeutung der Ressourcen aufrechterhalten. Inzwischen kommt auch noch der Landraub fruchtbarer Böden dazu. Dazu werden Menschen massenhaft ihrer Existenzgrundlagen beraubt. Vielen bleibt nichts anderes als Auswanderung und Flucht.
Die auf ständiges Wachstum ausgerichtete Produktionsweise und die zunehmende Konkurrenz auf dem Weltmarkt verschärfen den Raubbau und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Die Schmierstoffe des Kapitalismus, die Verbrennung fossiler Brennstoffe wie Kohle, Öl und Gas, aber auch die zunehmende Entwaldung sowie die intensive Land- und Viehwirtschaft verursachen die hohe Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre, die unser Klima bedroht. Das Weltklima verändert sich. Viele Regionen der Erde sind mit langanhaltenden Dürren konfrontiert; Unwetter nehmen zu. Und zu nimmt auch die Zahl der Klimaflüchtlinge. Nach Zahlen des UNHCR haben 2022 rund 32,7 Millionen Menschen ihre Heimat aufgrund von Naturereignissen, wie Dauerregen, langanhaltenden Dürren, Hitzewellen und Stürmen sowohl kurz- als auch langfristig verlassen müssen. Achtzig Prozent der Flüchtlinge stammen aus armen krisengeschüttelten Ländern, die vom Klimawandel betroffen sind, aber kaum Ressourcen haben, um die Auswirkungen zu verhindern oder abzumildern. [1] Für das Jahr 2050 werden bereits 200 Millionen Umweltflüchtlinge prognostiziert.
In die USA und die EU bzw. die reichen Industriestaaten fliehen nur wenige der weltweit flüchtenden und migrierenden Menschen: Mehr als vier von fünf Geflüchteten leben in sogenannten Entwicklungsländern. Die meisten finden Zuflucht in den Ländern des Südens. Trotzdem schottet sich die EU immer mehr gegen Flucht und Migration ab. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen, um ihre Außengrenzen durch Mauern und Zäune gegenüber Geflüchteten zu befestigen und die Außengrenzen hermetisch abzuriegeln.
Seit 1999 wurde in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und dem gemeinsamen Europäischen Asylsystem beschlossen, die Asyl- und Flüchtlingspolitik zu vereinheitlichen.
Aber anstatt sich auf die Entlastung der Länder an den Außengrenzen, faire Asylverfahren und die Verteilung von Geflüchteten zu verständigen, wurden mit dem Dublin III-Abkommen geregelt, dass die Einreiseländer für die Asylverfahren zuständig sind.
Die EU-Regelung schiebt damit die Verantwortung an EU-Randstaaten – das sind vor allem die Mittelmeerländer – ab. Diese Länder werden wegen Überlastung motiviert, Flüchtlinge an den Grenzen abzuwehren oder sie so schlecht zu behandeln, dass sie in andere EU-Staaten weiterfliehen. Flüchtlinge irren durch Europa, versuchen in anderen Ländern Asyl zu beantragen und werden hin- und hergeschoben und häufig in die Erstaufnahmeländer zurückgeführt. Für Flüchtlinge bedeutet Dublin III Elend und Abschiebungen und die Aufhebung des Grundrechts auf Asyl. Für das Sterben an Europas Außen- und Binnengrenzen ist die Flüchtlings- bzw. Abschottungspolitik der EU verantwortlich.
Mit dem Türkei-Deal 2016 gilt für die Geflüchteten, die über die Türkei nach Griechenland fliehen, die Inhaftierung in Lagern und die Rückführung in das angeblich sichere Drittland Türkei. In von der EU finanzierten Unterbringungslagern werden Schutzsuchende festgesetzt, registriert und einem Screening unterzogen. Diese Lager sind seit Beginn völlig überfüllt, die Infrastruktur ist häufig zusammengebrochen. Der Brand im Lager Moria auf der Insel Lesbos hat die katastrophalen Bedingungen dramatisch aufgezeigt. Nach dem Brand sollte alles besser werden. Nun wurden Closed Controlled Access Centers (CCAC) – „Geschlossene Zentren mit kontrolliertem Zugang“ gebaut. Die weit von den urbanen Zentren der Inseln entfernten CCACs sind eher Hochsicherheitsgefängnisse.
Das gemeinsame Abschottungssystem wurde nun im Juni 2023 von den EU-Innenminister*innen im EU-Innenrat perfektioniert. Es wurden neue Grenzverfahren beschlossen. Das Dublin-System bleibt weiter bestehen. Alle Geflüchteten, die es in die EU geschafft haben, sollen an den EU-Außengrenzen in Lagern nach dem Vorbild Griechenlands festgesetzt werden. Dort soll geklärt werden, ob sie überhaupt ein reguläres Asylverfahren erhalten. Ziel dieser neuen Grenzverfahren ist es, möglichst viele Geflüchtete bereits bei der Einreise abzuweisen. Wer aus einem angeblichen sicheren Herkunftsstaat kommt oder durch Staaten gereist ist, die als „sicherer Drittstaat“ eingestuft sind, hat kaum noch Chancen auf ein individuelles Asylverfahren. Es wird ein rechtliches Konstrukt der „Fiktion einer Nichteinreise“ konstruiert, um das Grundrecht auf Asyl auszusetzen. Der überwiegenden Mehrheit der Ankommenden wird damit die Möglichkeit genommen, das Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen und ein Asylverfahren zu durchlaufen.
Die EU-Innenminister haben mit der Einigung auf diese Verfahren rechte Forderungen erfüllt. Die Rufe nach der Einstufung weiterer Länder als sichere Herkunftsstaaten nehmen seither zu. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung stand noch: „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden. Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen, oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“ Inzwischen hat die Ampel-Koalition der Asylrechtsreform zugestimmt. Das Festsetzen von Schutzsuchenden in Lagern wird aber nicht dazu führen, dass weniger Menschen sich auf die Flucht begeben und versuchen nach Europa zu kommen. Fluchtursachen sind damit nicht beseitigt. Eine aktuelle Studie belegt, dass es keine Verbindung gibt zwischen lebensrettenden Aktionen im Meer und der Zahl der Menschen, die auf diesem Weg versuchen, nach Europa zu kommen. Menschen verlassen ihre Heimat aufgrund der Lage in ihrem Herkunftsland, auch wenn die Wege gefährlich sind.
Neben der Reform des Gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) soll nach den Vorstellungen der Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen die europäische Grenzagentur Frontex weiter aufgerüstet werden. Die Grenzschutzagentur Frontex ist seit 2005 für den militärischen Grenzschutz der EU-Außengrenzen zuständig und wurde im Laufe der Jahre mit immer neuen Kompetenzen und Mitteln ausgestattet. Das Budget der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) ist in den Jahren zwischen 2005 und 2023 stark angestiegen. Im Jahr 2005 betrug das Budget sechs Millionen Euro, im Jahr 2023 lag es bei 845 Millionen Euro. [2]
Einen Sprung machte der Etat nach dem Sommer der Migration 2015 von 142 auf 254 Millionen Euro und seitdem sind der Aufrüstung kaum noch Grenzen gesetzt. Seit 2016 darf Frontex eigene Fahrzeuge, Flugzeuge und Drohnen anschaffen. Seit 2019 wird eine sogenannte „Ständige Reserve“ mit 10 000 Beamt*innen aufgebaut. Sie besteht derzeit aus rund 2 000 Mitstreiter*innen und soll bis 2027 vollständig rekrutiert sein und ist direkt dem Hauptquartier von Frontex in Warschau unterstellt. Diese „Ständige Reserve“ ist eine eigenständige Polizeitruppe und soll an den EU-Außengrenzen eingesetzt werden und eigenständig Abschiebungen organisieren. Zudem betreut sie eine riesige Datenbank für Reisende aus Drittstaaten.
Für die Umsetzung der EU-Abschottungspolitik wird viel Technologie benötig. Diese liefert die Rüstungsindustrie. Sie verdient zum einen an der Aufrüstung der EU- und NATO-Staaten und durch Rüstungsexporte in Konflikt- und Krisengebiete weltweit. Die Menschen, die vor Kriegen und Konflikten fliehen, werden durch NATO-Stacheldraht, Drohnen, Satellitenbilder, Wärmebildkameras, biometirische Anwendungen und KI-basierte Auswertungsdaten an der Einreise in die EU gehindert. Die Rüstungsindustrie erforscht und entwickelt neue Werkzeuge und verkauft diese an Frontex und nationale Grenzpolizeien.
Mit Drohnen wird dann vor den Seegrenzen weit vor der EU nach Flüchtenden gesucht. Aber nicht um die Daten an Boote für Rettungsmissionen weiterzugeben, sondern z. B. an die libysche Küstenwache. Die libysche Küstenwache wurde von der EU für die Grenzkontrolle ausgerüstet und ausgebildet und führt Schutzsuchende widerrechtlich mit Push Backs teilweise unter Einsatz von Schusswaffen nach Libyen zurück. Durch die Luftüberwachung durch Drohnen wird die Grenzüberwachung in Hoheitsgewässer außerhalb der EU verschoben. Die libyschen Gefängnislager für Geflüchtete sind berüchtigt, die Lebensbedingungen unerträglich und die Küstenwache ist in den Sklavenhandel verwickelt.
Deshalb weichen immer mehr Flüchtlinge nach Tunesien aus und versuchen von dort mit Booten über das Mittelmeer Italien zu erreichen. Auch aus Tunesien fliehen aufgrund des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs immer mehr Menschen. Nach mehreren Besuchen von Vertretungen aus der EU und zähen Verhandlungen erreichte die EU im Sommer 2023 einen Vertrag mit Tunesien zur Migrationskontrolle. Tunesien verpflichtet sich, keine Ansiedlung von illegalen Migranten zu dulden und seine eigenen Grenzen zu schützen. Dazu gehört ein System zur Identifizierung und Rückführung in ihre Heimatländer auch von schon in Tunesien lebenden Migrant*innen. Operationen zur Suche und Rettung auf hoher See sollen effizienter werden.
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So verschiebt die EU die Grenzkontrollen zunehmend in Nicht-EU-Länder. Geflüchtete sollen abgefangen und daran gehindert werden, in die EU zu gelangen und dort Asyl zu beantragen. Damit das alles noch den Anschein von Rechtsstaatlichkeit hat, werden diese Länder als „sichere Drittstaaten“ eingestuft. Allein diese Einstufung ist ein Hohn. Die angeblich menschenrechtsbasierte Außenpolitik der EU ist an Zynismus nicht zu überbieten.
Dass es auch anders geht, zeigt der Umgang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine. Seit Beginn des Krieges um die Ukraine ist ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung auf der Flucht. Über fünf Millionen Menschen sind innerhalb des Landes Binnenflüchtlinge. Über 8,2 Millionen leben in europäischen Staaten als Flüchtling. 5,1 Millionen sind ohne Asylverfahren im Rahmen der sog. „Massenzustrom-Richtlinie“ in der EU registriert. Das bedeutet, sie bekommen vorübergehenden Schutz sowie eine Arbeitserlaubnis und Zugang zu Sozialleistungen, medizinischer Versorgung und Bildung. Dieser Aufenthaltsmöglichkeit galt erst mal für zwei Jahre und soll nach Ankündigung von Frau von der Leyen bis 2025 verlängert werden.
Große Probleme bei ihren Anträgen auf Asyl haben bisher Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Russland, Belarus und auch aus der Ukraine. Männern aus der Ukraine ist die Ausreise verboten und ihnen wird in der Ukraine das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verweigert bzw. sie landen im Gefängnis. Aus Russland und Belarus flüchten viele vor dem Kriegsdienst und ihnen wird häufig das Recht auf Asyl verweigert. Sie sollen beweisen, dass sie vor einer Einberufung geflohen sind. Die meisten warten aber die Einberufung nicht ab. Mehr als 150 000 russische Militärdienstpflichtige und Deserteure lehnen den Angriffskrieg ab und sind in Nachbarländer geflohen. Auch schätzungsweise 22 000 belarussische Militärdienstpflichtige haben ihr Land verlassen, weil sie sich nicht am Krieg in der Ukraine beteiligen wollen. Sie alle müssen wegen ihrer Haltung gegen den Krieg eine mehrjährige Verfolgung befürchten. Notwendig sind sichere Wege und eine klare Regelung bzw. das Grundrecht auf Asyl muss für alle Menschen, die aus ihrem Land fliehen, gelten.
Es wird Zeit, Fluchtursachen zu bekämpfen und nicht Flüchtlinge. Eine Voraussetzung ist der Stopp aller Rüstungsexporte. Aber vor allem eine andere Wirtschafts- und Handelspolitik, die aufhört die Ressourcen der Länder des Südens auszubeuten und diese durch Schulden und Freihandelsabkommen in immer neue Abhängigkeiten zu treiben. Bis es soweit ist, brauchen Flüchtlinge sichere Fluchtwege. Menschen brauchen das Recht zu kommen, das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen.
Inge Höger ist Mitglied im Bundessprecher*innenrat der AKL, frühere Landessprecherin der LINKEN in NRW |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz