Migration
Thesen zur Migrationsdebatte
Koordination der ISO
Die Hauptursachen für Flucht und Migration sind die imperialistische Ausbeutung der Länder des globalen Südens, wie sie besonders in den Freihandelsabkommen zum Ausdruck kommt, der Klimawandel, dessen Hauptverursacher in den Ländern des Nordens, dessen Hauptleidtragende aber in den Ländern des Südens leben. Hinzu kommen patriarchale Unterdrückung und Kriege, die ebenfalls hauptsächlich von den des globalen Nordens vom Zaun gebrochen oder angeheizt werden, um ihre Dominanz über die Ressourcen der Welt zu festigen. Alle diese Ursachen lassen sich auf eine Hauptursache zurückführen: die kapitalistische Produktionsweise mit ihrer inhärenten Tendenz zur Verschärfung von Ausbeutung, Krisen und Krieg. In allen unseren Stellungnahmen zum Thema Migration wird der Tenor deshalb sein: „Das Problem heißt nicht Migration. Das Problem ist der Kapitalismus!“
Die weltweiten Migrationsbewegungen sind eine Folge der internationalen Klassenpolitik des Kapitals. Schon innerhalb Europas führt die massiv zunehmende soziale Ungleichheit zwischen den Ländern der EU dazu, dass Migrationsbewegungen wieder zunehmen (besonders aus Griechenland und anderen Ländern Süd- und Südosteuropas). Vor allem aber die dramatische Verarmung und die Perspektivlosigkeit im globalen Süden veranlassen immer mehr Menschen zu Flucht und Migration.
Der Kapitalismus ist aufgrund der Gesetzmäßigkeiten, die sich aus der kapitalistischen Wirtschaftsweise ergeben, nicht in der Lage, diese Logik zu durchbrechen und eine Umkehr dieser Entwicklungen einzuleiten. Ein Ausbruch aus dieser fürchterlichen Logik – also um annehmbare Lebensverhältnisse für alle Menschen zu gewährleisten und gesellschaftliche Unterdrückung abzuschaffen – ist nur möglich, wenn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse überwunden werden, sprich: wenn die warenproduzierende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung durch eine demokratisch geplante Wirtschaftsweise ersetzt wird und wenn weltweit Beziehungen globaler solidarischer Kooperation an die Stelle von Konkurrenz und Dominanz gesetzt werden.
Auf dem Weg hin zu einer Entmachtung des Kapitals und zur Selbstermächtigung der großen Bevölkerungsmehrheiten – sowohl in den Metropolen als auch im globalen Süden – ist es von erheblicher Bedeutung, dass umfassende praktische internationale Solidarität entfaltet wird. Nur so kann sich eine Möglichkeit ergeben, dass wir sowohl die Tageskämpfe wie auch den Kampf für einen Systemwechsel so breit und so gemeinsam wie möglich führen.
Die Grundlage für internationale Solidarität ist der gemeinsame Kampf für gleiche Rechte für alle, überall. Dazu gehört auch das Recht, sich im Land seiner Wahl niederlassen zu dürfen.
Wer den proletarischen Internationalismus ernst nimmt, wer real zur Überwindung der Spaltung zwischen den Belegschaften entlang der Wertschöpfungsketten oder zwischen Nationen und Ethnien oder zwischen den Menschen in den Metropolen und denen im globalen Süden beitragen will, der/die muss sich aus prinzipiellen und aus politisch-strategischen Gründen gegen jegliche Abschottungspolitik wenden. Dies ist aber nur möglich auf der Grundlage eines allgemeinen Rechts auf Niederlassungsfreiheit. Die Abschottungspolitik dient der Ablenkung von den Ursachen der Migrationsbewegungen und spaltet die Menschen kategorial auf. Ist diese rassistische Politik erfolgreich, wird es noch schwieriger als bisher schon, einen gemeinsamen Kampf zu entwickeln, ganz gleich zu welchem Thema.
In der derzeitigen innerlinken Diskussion werden häufig „offene Grenzen“ gefordert. Als Kontrapunkt gegen die rassistische Hetze gegen Flüchtlinge, insbesondere aus islamischen Ländern, ist diese Forderung unterstützenswert. Sie stößt aber in der breiteren Öffentlichkeit häufig auf Unverständnis, weil nicht hinzugefügt wird, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit diese Forderung nicht gnadenlos gegen die einheimische Bevölkerung gewendet wird. Konkret müssen auf zwei Ebenen Verhältnisse geschaffen werden, damit eine solche Forderung Wirklichkeit werden kann:
- Im Inland muss eine reale Integrationspolitik gegenüber den Neuankömmlingen betrieben werden; gerade in Deutschland gilt: Es ist genug für alle da!
- Statt sich abzuschotten und eine Festung um Europa herum zu bauen, müssen sich die politischen Anstrengungen, insbesondere der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen, darauf richten, gleiche soziale Rechte für alle zu schaffen – sei es im Rahmen der EU, der ILO oder anderer internationaler Zusammenschlüsse. Das ist der einzige Hebel, der sicherstellt, dass Menschen nicht mehr gezwungen sind zu fliehen und bei sich zu Hause eine Perspektive entwickeln können.
Die Herstellung gleicher sozialer Rechte ist auch ein mächtiger Hebel gegen Lohn- und Sozialdumping und die Verschärfung der sozialen Ungleichheit, die damit einhergeht. Die Durchsetzung dieser sozialen und finanziellen Forderungen für „Alle“ kann nur gemeinsam erreicht werden. Der „einheimische“ Teil und der neu hinzukommende Teil der Arbeiter*innenklasse müssen dafür gemeinsam kämpfen. Die meisten Flüchtlinge sind objektiv Lohnabhängige bzw. werden es (entweder zeitweilig, zum größten Teil aber für immer) in dem Moment, in dem sie in Europa ankommen. Dies deshalb, weil der Zugang zum Arbeitsmarkt (auch für akademisch Gebildete) in ihren angestammten Berufen für die allermeisten kaum oder gar nicht offensteht.
Ausgangspunkt solcher Forderungen muss immer sein, dass das Geld dafür bei denen zu holen ist, denen die politische Verantwortung für dieses verheerenden System zuzuweisen ist: Regierung und Kapital!
Besonders abstrus ist es, wenn die Skepsis von Wagenknecht & Co. gegenüber der Losung „Offene Grenzen“ scharf kritisiert und gleichzeitigdie Landesregierungen mit Linkspartei-Beteiligung (Berlin, Brandenburg, Thüringen) samt ihrer Abschiebepraxis verteidigt werden. Beide Pole der Debatte stehen vor großen Herausforderungen: Die Kritik an der Forderung nach „Offenen Grenzen“ muss aufpassen, nicht in rechte Rhetorik abzugleiten und damit Andock-Möglichkeiten für Querfront-Manöver zu bieten und darüber hinaus bedenken, dass Argumente gegen „Offene Grenzen“ in der breiten Öffentlichkeit anders wahrgenommen werden (können) als in einem linken Diskurs.
Bei der Verteidigung der „Offenen Grenzen“ hingegen muss darauf geachtet werden, nicht in einem Boot mit den „progressiven Neoliberalen“ und dem „Brain-drain-Internationalismus“ des Silicon Valley zu landen. Das wird nur gehen mit nachvollziehbaren Vorschlägen, wie zu verhindern ist, dass die ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Migration auf die ärmeren Teile der Bevölkerung abgeladen werden.
Uns ist klar, dass wir nur dann in breiteren Kreisen die Zweifelnden von der Forderung nach offenen Grenzen überzeugen werden, wenn wir es schaffen, möglichst konkret darzulegen, wie auch unter kapitalistischen Bedingungen damit angefangen werden kann, eine Perspektive der offenen Grenzen und des Bleiberechts für Alle ohne weitere Eingrenzung der in diesem Lande erreichten sozialen Errungenschaften umzusetzen.
Wir können und wollen nicht akzeptieren, dass Flüchtlinge faktisch in Konzentrationslager (offiziell „Auffangzentren“) in Nordafrika eingepfercht werden, angeblich um sie vor dem Tod im Mittelmeer zu schützen. Diese Lager werden für die Flüchtenden zunehmend zu Todesfallen. Grund- und Menschenrechte müssen universell gelten.
Wir verurteilen die Kriminalisierung der Bewegung der Rettungsschiffe für Flüchtlinge und fordern einen sofortigen freien Zugang zu allen Häfen am Mittelmeer.
Wenn wir die imperialistische Weltordnung als Verursacherin der wachsenden Misere anprangern, bleiben wir nicht bei abstrakten Feststellungen oder bei nur moralischer Empörung stehen. Wir beteiligen uns an konkreten Kampagnen gegen die unfaire Weltwirtschaftsordnung, aber auch gegen imperialistische Interventionen jeglicher Art (gegen wirtschaftliche und politische Erpressung und erst recht gegen militärische Interventionen). In diesen Kampagnen bzw. Aktivitäten vertreten wir u. a. folgende Forderungen:
- Kündigung der Freihandelsabkommen und Ausrichtung der Handelspolitik an gehobenen sozialen und Umweltstandards;
- breite Unterstützung der Kämpfe der Arbeitenden in den Ländern des Südens;
- Unterstützung der Protektion einheimischer, auf den Binnenmarkt ausgerichteter Industrien in den Ländern des Südens und Einschränkung bis hin zum Verbot des Exports von Lebensmitteln, die in diesen Ländern selbst hergestellt werden können;
- Harmonisierung der sozialen Rechte und des Arbeitsrechts auf europäischer Ebene, Angleichung sozialer Rechte an die jeweils besseren Standards;
- Stärkung der Arbeiter*innenrechte im Rahmen der ILO;
- Abzug aller imperialistischen Truppen aus dem Ausland;
- Austritt aus der NATO und Auflösung der Bundeswehr;
- Stopp aller Waffenlieferungen;
- Auflösung von Frontex.
In unserer Solidaritätsarbeit dürfen wir uns nicht anmaßen, bei der Schutzbedürftigkeit zwischen Flüchtlingen und Migrant*innen zu unterscheiden. Sprich: Es steht uns nicht zu – erst recht, wenn wir in den Metropolen leben und gemessen am globalen Süden ein vergleichsweise gesichertes Leben führen –, eine Abweisung von Migrant*innen als nicht schutzbedürftig hinzunehmen. Schon damit würden wir Spaltungslinien akzeptieren.
Diese Grundhaltung muss auch unsere konkrete Solidaritätsarbeit bestimmen. Die Viertelmillion Menschen bei #Unteilbar in Berlin waren ein wunderbares Zeichen: „Wir sind – deutlich! – mehr“. Diese Massenmobilisierung hat uns alle positiv überrascht. Aber natürlich hatte diese Demo auch was von einer grün-linksliberalen Wohlfühlparty („Wir sind die Guten“). Als Marxist*innen stellen wir Klassenfragen in den Mittelpunkt unserer Analyse und Bewertung der rechten Gefahr (natürlich ohne dies zur Voraussetzung für gemeinsame Aktionen zu machen).
Solche Massen wie bei #Unteilbar sind nur mit ganz breiten Bündnissen zu mobilisieren. Und natürlich muss deshalb darin auch für Parteigliederungen von SPD und Grünen Platz sein.
Gleichwohl sollte bei der inhaltlichen Ausrichtung nicht darauf verzichtet werden, die Politik eben dieser Parteien zu kritisieren – ist es doch u. a. genau deren Regierungshandeln, das die Ursachen für die Fluchtbewegungen schafft bzw. noch verschärft. Das Mindeste wären klärenden Worte eines Demobündnisses, wenn eine solche Demo anschließend instrumentalisiert werden soll (etwa wie geschehen – ausgerechnet! – von Außenminister Maas).
Deshalb: Allen Menschen, die es bis nach Deutschland geschafft haben, muss ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden. Konkret setzen wir uns ein für:
- keine Unterbringung in Durchgangslagern länger als 2 Wochen;
- keine Residenzpflicht;
- weg mit den Arbeitsverboten;
- Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes;
- sicheren Aufenthaltsstatus für Menschen, die hierbleiben wollen, ohne Umschweife;
- Kündigung aller Flüchtlingsabkommen (mit der Türkei, Tunesien usw.);
- volle Wiederherstellung des Asylrechts.
Parallel dazu – aber in keinem Fall als Ersatz oder als Alibi – müssen wir die soziale Ausgrenzung bedeutsamer Teile der „einheimischen“ Bevölkerung (also all der Armen, Prekären usw.) anprangern und entsprechende Kämpfe zur Besserung der sozialen Verhältnisse unterstützen. Das Gegeneinander-Ausspielen zu verhindern (bzw. dagegen anzugehen) wird ohne jeden Zweifel auf Jahre hinaus eine Daueraufgabe für Sozialist*innen und Internationalist*innen sein.
Teil dieser Arbeit wird es sein, sich beispielsweise für folgende Forderungen zu engagieren:
- massive Kampagnen gegen die Gentrifizierung ganzer Stadtviertel;
- verbindliche Mietobergrenzen;
- die sofortige Inangriffnahme eines massiven Sozialwohnungsbaus;
- die Requirierung aller leerstehenden Wohnungen für Bedürftige (also nicht nur für Migrant*innen);
- die Abschaffung von Hartz IV;
- Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro in der Stunde und Abschaffung aller prekären Beschäftigungsverhältnisse;
- sofortige Abschaffung aller Sanktionen für Empfänger*innen von Transferzahlungen;
- die Anhebung der Regelsätze der wiederherzustellenden Sozialhilfe auf mindestens 700 Euro plus Wohngeld.
Koordination der ISO, 1. Dezember 2018
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2019 (Januar/Februar 2019).
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