Der russische Präsident Wladimir Putin versucht bereits, den schrecklichen Terroranschlag, der am 22. März in einer Konzerthalle bei Moskau verübt wurde, für seine imperialistischen und autoritären Ziele zu nutzen. Im Gespräch mit Ashley Smith analysiert Ilja Budraitskis den Terroranschlag, die russische Präsidentschaftswahl und den Kriegsverlauf.
Interview mit Ilja Budraitskis
Die Terrorgruppe Islamischer Staat - Khorasan (IS-K bzw. ISIS-K) hat sich zu dem Anschlag bekannt, bei dem eine Gruppe von Terroristen in einem Vorort von Moskau Hunderte von Besucher:innen eines Rockkonzerts getötet bzw. verletzt hat. Auch offizielle Vertreter der USA haben IS-K die Schuld an dem Anschlag gegeben. Präsident Putin und andere russische Staatsvertreter haben jedoch Erklärungen abgegeben, mit denen sie versuchen, die Ukraine in den Anschlag zu verwickeln – ein rhetorischer Kniff, der die Aufmerksamkeit davon ablenken soll, dass es dem Regime nicht gelungen ist, den Anschlag zu verhindern, und der für eine Eskalation seines imperialistischen Krieges Unterstützung anfachen soll.
All dies spielt sich unmittelbar nach der manipulierten russischen Präsidentschaftswahl vom 15. bis zum 17. März ab, bei denen alle Oppositionskandidaten ausgeschlossen waren und Putin sich einen überwältigenden Sieg sicherte. Mit seiner neuen Amtszeit, die bis 2030 dauern soll, wird er der seit dem sowjetischen Diktator Josef Stalin am längsten regierende Herrscher des Landes sein. Putin stellt die Wahl als Bestätigung dafür dar, dass die Bevölkerung sein Regime unterstützt, und bereitet sich darauf vor, seine reaktionäre Herrschaft in Russland zu konsolidieren und seinen imperialistischen Krieg in der Ukraine auszuweiten.
Ashley Smith: Was ist bei dem grauenhaften Terroranschlag in Moskau passiert? Wer steckt dahinter? Wie haben die russischen Behörden und Putin darauf reagiert? Wie werden sie den Anschlag in Russland und in ihrem imperialistischen Krieg gegen die Ukraine nutzen? |
Grafik: Posle |
Ilya Budraitskis: Eine mit Maschinengewehren und Sprengsätzen bewaffnete Gruppe von Terroristen drang in die Crocus City Hall ein, eine Konzerthalle bei Moskau. Sie nahmen sich das Personal eines privaten Sicherheitsdienstes vor, schossen auf die Anwesenden und zündeten Sprengsätze, wodurch ein Feuer ausgelöst wurde und mindestens 133 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt wurden.
Russische Sicherheitskräfte haben elf Personen festgenommen, vier von ihnen, als sie versuchten, aus dem Land nach Belarus oder in die Ukraine zu fliehen. Bei den vier Personen handelt es sich um Wanderarbeiter aus Tadschikistan, einer zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepublik, die sich zu dem Anschlag bekannt haben und behaupten, sie hätten für dessen Ausführung 5000 Dollar erhalten.
Unmittelbar danach gaben russische Beamte und Nachrichtenagenturen, ohne den geringsten Beleg dafür zu haben, der Ukraine die Schuld und deuteten sogar eine Beteiligung der USA an. Putin zögerte zunächst jegliche öffentliche Äußerung hinaus, in der Hoffnung, noch Beweise finden oder herstellen lassen zu können, die gegen die Ukraine verwendet werden könnten.
Als er dann zwanzig Stunden später im Staatsfernsehen sprach, behauptete er, die Ukraine versuche, den Terroristen bei der Flucht aus Russland zu helfen. In den offiziellen russischen Medien prangerten Kommentatoren auch die Arbeitsmigrant:innen aus Zentralasien an, als ob sie alle eine Art Kollektivschuld an dem Anschlag trügen.
Keiner dieser Vorwürfe ist glaubwürdig. Unmittelbar nach dem Angriff haben ukrainische Sprecher jegliche Beteiligung von sich gewiesen und davor gewarnt, dass Putin der Ukraine die Schuld zuschieben und die Unterstützung für seinen Krieg anfachen würde. Der Angriff auf die Migrant:innen ist offensichtlich bloßer Rassismus und pure Fremdenfeindlichkeit.
Was die Anschuldigungen gegen die USA betrifft, so hatte Washington Russland sogar über einen bevorstehenden Angriff von IS-Khorasan, dem IS-Ableger in Afghanistan, informiert, der Russland wegen dessen Dezimierung seiner Kämpfer in Syrien und der Unterstützung des Diktators Baschar al-Assad ins Visier genommen hat. Seit dem Anschlag macht Washington IS-K für dessen Durchführung verantwortlich.
Diese Gruppe hat sich selbst zu dem Anschlag bekannt und ist wahrscheinlich die Täterin. IS-K könnte über Afghanistan ins nahe gelegene Tadschikistan vorgedrungen sein, um sich dort die Dienste der Angreifer zu sichern.
Putin tat die Warnungen Washingtons zunächst als Desinformation und Panikmache ab. Seine Sicherheitskräfte verhafteten indes mehrere Personen, die sie beschuldigten, Agenten des IS zu sein. Aber offensichtlich haben sie die Warnung nicht allzu ernst genommen, nicht alle IS-Agenten in Moskau aufgespürt und es nicht geschafft, den Anschlag zu vereiteln.
Putin hat dennoch weiter versucht, die Ukraine zu belasten. Er will den Anschlag ganz klar instrumentalisieren, um Unterdrückung im Inneren und den imperialistischen Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen.
So hat er auch auf frühere Terroranschläge reagiert. Als beispielsweise tschetschenische Militante im September 2004 eine Schule in Beslan in ihre Gewalt brachten und mehr als 1100 Geiseln nahmen, ließ Putin die Schule rücksichtslos stürmen, was zum Tod von Hunderten von Menschen führte, setzte er der demokratischen Wahl der Regionalgouverneure ein Ende und eskalierte den Krieg in Tschetschenien.
Ich sage vorher, dass Putin auch diesmal diesem Drehbuch folgen wird. Er wird weitere repressive Maßnahmen durchsetzen, und zwar nicht nur gegen vermeintliche Terroristen, sondern gegen jeglichen Dissens bezüglich seiner Herrschaft in Russland. Der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitri Medwedjew, hat sich bereits für die Wiedereinführung der Todesstrafe ausgesprochen.
Putin wird wahrscheinlich auch die patriotische Unterstützung für eine mögliche neue Offensive in der Ukraine anheizen. Auf diese Weise könnte er diese Tragödie mit Repression im Inland und Tod und Zerstörung im Ausland noch weiter verschlimmern.
Kommen wir zum Ergebnis der Präsidentschaftswahl, das natürlich keine Überraschung ist. Putin erhielt 87 Prozent der Stimmen. Wie ist dieses Ergebnis zu verstehen, wenn man bedenkt, dass die Opposition zerschlagen wurde und Kandidat:innen, die gegen den Krieg waren, ausgeschlossen waren? Inwieweit spiegelt es die Unterstützung des Regimes durch die Bevölkerung wider, inwieweit ist es das Ergebnis einer erzwungenen Unterstützung und inwieweit das Ergebnis einer passiven Einwilligung? |
Der Ausgang der Wahl war in der Tat nicht überraschend, er war wie alle anderen in Putins Karriere. Das Ergebnis war vorherbestimmt und manipuliert. Doch diesmal gab es gewisse Unterschiede. Putin erzielte einen Sieg auf nordkoreanischem Niveau, das hatte er in der Vergangenheit so noch nicht hingekriegt.
Im Jahr 2000, als er zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, gewann er mit nur 52 Prozent der Stimmen. Bei anderen Wahlen erhielt er weniger als 70 Prozent, und bei seiner letzten Wahl im Jahr 2018 erreichte er 76 Prozent.
Um sich 87 Prozent der Stimmen zu sichern, gab er sogar den Anschein von Demokratie auf. Sein Regime hat eine der größten Wahlfälschungen der Geschichte durchgeführt. Das ist das Fazit, zu dem die meisten Analytiker der russischen Präsidentschaftswahl, mit Ausnahme der Regimetreuen und ihrer Apologeten, gekommen sind.
Das Ausmaß des Betrugs ist kaum zu übertreiben. Sie haben die Ergebnisse einfach gefälscht und Zahlen angegeben, die nicht mit den tatsächlichen Ergebnissen übereinstimmten. Um diesen Wahlbetrug zu ermöglichen, hat Putin die gesamte Infrastruktur unabhängiger Beobachter zerstört.
So hat das Regime zum Beispiel die Nichtregierungsorganisation Golos („Stimme“), die die wichtigste Organisation für die Ausbildung unabhängiger Wahlbeobachter war, verboten. Die meisten ihrer Organisatoren wurden ins Gefängnis gesteckt oder aus dem Land vertrieben.
Infolgedessen hatte Putin freie Hand, ein Wahlergebnis zu erzielen, das in vollkommenem Widerspruch zum Ergebnis unabhängiger Umfragen vor der Wahl stand. Laut einer dieser Umfragen gaben nur 50 Prozent der Wähler an, für Putin stimmen zu wollen. [1]
Weitere 40 Prozent waren sich nicht sicher, wen sie wählen würden, und gaben an, dass sie ihre Präferenz nicht öffentlich bekannt geben möchten. Klar ist, dass er keine 87-prozentige Unterstützung der russischen Bevölkerung hat.
Was man über diese sogenannte Wahl wissen muss, ist, dass sie obligatorisch war und überwacht wurde. So verlangten Vorgesetzte, vor allem im öffentlichen Sektor, von ihren Mitarbeitern nicht nur, dass sie zur Wahl gingen, sondern auch, dass sie ein Foto ihres Stimmzettels abgaben. Die offenkundige Drohung war, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren würden, würden sie nicht für Putin stimmen. Die Wahl war somit das Ergebnis einer bedrückenden Kombination aus einer extrem totalitären Diktatur und einem Überwachungskapitalismus.
In diesem Sinne macht es wenig Sinn, von einer Wahl zu sprechen. Putin nutzt sie bereits, um seinen ideologischen Einfluss auf die russische Gesellschaft zu festigen, indem er die Ergebnisse als Bestätigung dafür präsentiert, dass alle geschlossen hinter seinem innenpolitischen und imperialen Projekt stehen, ihm sozusagen im Gleichschritt folgen.
In den besetzten Gebieten der Ukraine war die Wahl in noch höherem Maße manipuliert und ist das Ergebnis noch bizarrer. In der so genannten Volksrepublik Donezk stimmten 95 Prozent für Putin. Diesen Wahlausgang haben die Besatzungstruppen mit vorgehaltener Pistole bewerkstelligt.
Das Ergebnis, dem man wohl am allerwenigsten glauben kann, ist Putins „Sieg“ in Awdijiwka, einer Stadt, die kurz zuvor von der russischen Armee, die den größten Teil der Bevölkerung vertrieb, zerstört worden war. Dennoch verbuchte Putin in der Stadt eine überwältigende Unterstützung.
Diese Präsidentschaftswahl war sowohl in Russland als auch in der besetzten Ukraine ein einziger Betrug. Der Wahlausgang ist das Ergebnis von Nötigung und systematischer Fälschung.
Im Vorfeld der Wahl ließ Putin, als Signal an die nationale und internationale Opposition gegen sein Regime, Alexei Nawalny ermorden. Dennoch rief dessen Witwe Julija Nawalnaja zu Protesten an den Wahlurnen auf. Wie groß waren diese? Welche Bedeutung haben sie? |
Nawalnaja legte es mit ihrem Aufruf, den ich voll und ganz unterstützt habe, niemals darauf an, den Wahlausgang zu beeinflussen, den, wie schon gesagt, das Regime vollständig vorherbestimmt hatte. Vielmehr ging es darum, die Wahl zu nutzen, um politische Opposition zu mobilisieren.
Es sei daran erinnert, dass jede nicht vorab genehmigte öffentliche Versammlung verboten war und jede politische Abweichung, insbesondere gegen den Krieg in der Ukraine, brutal unterdrückt wurde. Unzählige Menschen wurden in Putins Gefängnisse geworfen.
Nawalnaja nutzte die Weisung des Regimes, dass jede/r zur Wahl gehen sollte, um die Opposition dazu aufzurufen, am 17. März zur Mittagsstunde an die Wahlurnen zu gehen. Die Reaktion war überraschend erfolgreich, da eine große Zahl von Menschen dem Aufruf folgte.
Die russischen Behörden hatten große Angst vor dem geplanten Protest. In den Tagen vor der Wahl forderten sie viele Menschen auf, sich bei der Polizei zu melden, und drohten damit, sie würden verhaftet und wegen einer illegalen Massenaktion zu einer Geldstrafe verurteilt, wenn sie nicht erschienen.
Außerdem unterdrückten sie Informationen über den Aufruf. Denken Sie daran, dass alle oppositionellen Websites wie Meduza Vgl. https://meduza.io/ (russ.), https://meduza.io/en (engl.) blockiert wurden. Dennoch hatte, einer unabhängigen Umfrage zufolge, fast ein Viertel der Russen von der Aktion gehört.
Natürlich waren die Zahlen, die am Ende herauskamen, bei weitem nicht so hoch wie dieser Prozentsatz. Aber die Tatsache, dass Menschen in großer Zahl erschienen sind, zeigt, dass es Opposition gegen Putin und seinen imperialistischen Krieg in der Ukraine gibt.
Putins Regime und der russische Kapitalismus haben sich trotz des Kriegs, des Putschversuchs von Jewgeni Prigoschin und trotz der westlichen Sanktionen erstaunlich gut gehalten. Wie erklären Sie sich das? |
Der Hauptgrund für die wirtschaftliche Stabilität Russlands ist seine Ölindustrie. Diese unterliegt nicht den Sanktionen und da der Ölpreis immer noch sehr hoch ist, konnte Russland sein Wirtschaftswachstum und seine Rentabilität aufrechterhalten.
Zugleich ist allerdings der Preis für den Krieg sehr hoch. Schätzungen zufolge verschlingt das Militär etwa 40 Prozent des Haushalts des Regimes. [3] Diese Rüstungswirtschaft kann auch in den nächsten ein bis zwei Jahren das Wachstum fördern, vor allem bei den Waffenproduzenten, aber langfristig sind solche Ausgaben nicht tragbar.
Diese Öl- und Militärwirtschaft hat nichts an Putins neoliberalem Wirtschaftsmodell geändert. Es gab zwar einige vorübergehende Verstaatlichungen von Unternehmen, aber die beschlagnahmten Vermögenswerte wurden schnell wieder an andere, regimetreue Eigentümer verkauft.
In diesem Sinne hatte es nichts mit einer Verstaatlichung im herkömmlichen Sinn zu tun. Es handelte sich um eine bloße Umverteilung von Eigentum. Dies führte zu einer gewissen Neuzusammensetzung der russischen herrschenden Klasse, ohne jedoch etwas an ihrer stark privatisierten Struktur zu ändern.
Putin hat den Krieg auch genutzt, um sich die Unterstützung von hoch bezahlten Berufssoldaten zu sichern. Diese verdienen weit mehr als reguläre Arbeiter in anderen öffentlichen und privaten Wirtschaftszweigen.
Diese Kriegswirtschaft ist aber nur eine gewisse Zeit lang tragfähig. Irgendwann werden ihre Widersprüche ihr Wachstum untergraben, und damit werden die Widersprüche des politischen Systems wieder zum Vorschein kommen und eine neue Runde von Instabilität und Krise einleiten.
Wie wird Putin seinen manipulierten Wahlsieg im Inneren für seinen neokolonialen Krieg in der Ukraine nutzen? |
Schon vor der Wahl brüstete sich Putin in einer Rede vor dem Parlament damit, dass die absolute Mehrheit der Russen seine „militärische Spezialoperation“ unterstütze. Das manipulierte Wahlergebnis wird er also als Bestätigung dafür ansehen, dass er das russische Volk ideologisch im Griff hat.
Doch das ist Hybris. Tatsächlich gibt es selbst unter den Putin-Anhängern eine weit verbreitete Unzufriedenheit darüber, dass der Krieg viel länger andauert. Viele von ihnen haben für ihn gestimmt und dabei gedacht: „Er hat diesen Krieg angefangen und er sollte ihn beenden“.
Putin hat diese Stimmung ignoriert. Während des Wahlkampfs hat er nie ein Wort darüber verloren, wie er den Frieden wiederherstellen will. Stattdessen wiederholte er immer und immer wieder die Idee, dass sich Russland in einem existenziellen Krieg mit dem Westen befinde, den es fortsetzen und auf andere Länder ausweiten müsse.
Eine Minderheit der russischen Gesellschaft unterstützt dieses Projekt, wahrscheinlich etwa zehn bis zwanzig Prozent. Aber die Mehrheit will, dass es wieder Frieden gibt. Natürlich wollen sie nicht, dass Russland militärisch besiegt wird, aber sie wollen, dass dieser Krieg irgendwann beendet wird.
Diese Gefühle nehmen zu, und sie könnten das Regime in Zukunft in eine Krise stürzen. Doch im Moment besteht die Reaktion des Regimes darin, solche Gefühle zu ignorieren oder mit Kampagnen patriotischer Indoktrination zu reagieren, um die Unterstützung für einen sich ausweitenden Krieg zu befeuern.
Der ehemalige Präsident Dmitri Medwedjew, der jetzt stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates ist, machte Putins Ziele in einer Rede wenige Tage vor der Wahl überdeutlich. Er erklärte, Russland wolle Odessa „befreien“, es als russische Stadt zurückerobern und die Ukraine als Nationalstaat beseitigen.
Außerdem schlug er seine eigene Friedensformel als Alternative zu der vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vorgeschlagenen vor. Er erklärte, die Ukraine sei keine echte Nation, sondern ein Gebiet, das zwischen Russland, Polen und Rumänien aufgeteilt werden sollte.
Die einzige Möglichkeit, das zu erreichen, ist natürlich die totale Eroberung und Einvernahme der Ukraine durch Russland. Das ist das Gegenteil von Frieden. Es ist ein Rezept für nicht enden wollenden imperialistischen Krieg und koloniale Besatzung.
Viele erwarten eine baldige Eskalation des Krieges in der Ukraine. Würde diese eine stärkere Mobilisierung der russischen Truppen erfordern? Wie wird die russische Bevölkerung reagieren? Wird dies Widerstand auslösen? |
Es ist schwer zu sagen, ob die russischen Behörden mehr russische Soldaten mobilisieren werden. Bis vor kurzem haben sie alles getan, um eine zweite Mobilisierungswelle zu umgehen.
Natürlich könnten sie jetzt – nach den Wahlen, von denen sie ja sagen, sie hätten bewiesen, dass die Russen voll und ganz hinter dem Krieg stehen – eine weitere Mobilisierung starten. Sie sind indes klug genug, um zu wissen, dass dies sehr unpopulär wäre.
Daher werden sie wahrscheinlich weiterhin enorme Gehälter an sogenannte Freiwillige zahlen. Wenn sie jedoch eine groß angelegte Offensive durchführen wollen, werden sie Wehrpflichtige mobilisieren müssen.
Sie könnten diese neue Mobilisierung mit dem Versprechen verbinden, diejenigen zurückzuholen, die 2022 eingezogen und in den letzten zwei Jahren an der Front eingesetzt wurden. Das könnte die immer lauter werdenden Rufe von Ehefrauen und Verwandten nach einer Rückkehr dieser Soldaten wieder leiser werden lassen.
Aber die Menschen werden diesen Krieg und die Mobilisierung nur eine bestimmte Zeit lang ertragen. Und jeder zurückkehrende Soldat wird Geschichten über das Schlachthaus in der Ukraine mitbringen, etwas, das für das Regime destabilisierend wirkt.
Wie stabil sind nun Putins Regime und der russische Kapitalismus? Wo liegen die Probleme und Bruchlinien des Systems? |
Ein schwerwiegendes Problem liegt genau darin, wie dieses Regime politisch aufgebaut ist. In einer seiner jüngsten Reden zeigte Putin Anzeichen dafür, dass er sich dieses Problems bewusst ist. Er erklärte, dass die alte Elite, die durch die Privatisierung des Staatseigentums der Sowjetunion entstanden ist, von der Zeit überholt sei und dass eine neue Elite geschaffen werden müsse.
Eine neue, wahre Elite solle sich aus den Helden rekrutieren, die von der Front kommen. Tatsächlich baut Putin eine neue Elite auf, aber nicht aus ihnen, sondern aus den Kindern seines engen Freundeskreises, der die großen staatlichen Unternehmen und die Privatindustrie kontrolliert.
Ihre Eltern werden immer älter, und Putin weiß, dass er mit der Reproduktion einer loyalen Herrscherclique und eines loyalen Regimes ein Problem hat. Daher sieht er ihre Kinder als seine künftigen Gefolgsleute im Staat und in den russischen Unternehmen.
Das ist ein Kennzeichen eines zutiefst personalistischen Regimes, eines Regimes, in dem Putin nur Leuten vertraut, die er als seine Freunde betrachtet. Jedoch ist die Zahl der Freunde des Diktators begrenzt, und die einzige Möglichkeit, sie zu erweitern, liegt eben darin, ihre loyalen Kinder für Positionen in der Regierungsbürokratie und den Vorstandsetagen zu rekrutieren.
Putin bindet auch seine persönlichen Leibwächter in staatliche Positionen ein. So stammen in verschiedenen Regionen des Landes die Gouverneure aus seinem persönlichen Sicherheitsteam.
Solche Methoden der Erweiterung und Konsolidierung des Regimes können nach hinten losgehen und ernste Probleme für die Kontinuität seiner Herrschaft aufwerfen. Wer beispielsweise im Staatsapparats Karriere machen will, gerät dann irgendwann in eine Sackgasse, weil an der Spitze der Bürokratie vom Diktator ernannte Putin-Loyale stehen. Wenn jemand nicht diesem Kreis angehört, ist sein berufliches Fortkommen zum Scheitern verurteilt. Das kann zu Apathie und sogar Unzufriedenheit im Staatsapparat führen, was das Regime von innen heraus untergraben kann.
Natürlich wird die oberste Schicht des Staatsapparats Putin bis zum letzten Atemzug unterstützen und die Eskalation seines imperialistischen Krieges befürworten. Aber unterhalb davon gibt es Schichten, in denen Unzufriedenheit und Opposition wachsen können. Die große Frage sowohl innerhalb als auch außerhalb des Regimes ist also, wie lange diese Loyalität nicht nur gegenüber Putin, sondern auch gegenüber dem System anhalten kann.
Ein weiteres Problem, mit dem das Regime konfrontiert ist, ist der von mir beschriebene Widerspruch zwischen Putins imaginärer Vision einer loyalen russischen Gesellschaft, die geeint hinter ihm steht, und den realen Spaltungen innerhalb der Gesellschaft, insbesondere denen, die durch den Krieg hervorgerufen wurden. Dieser Widerspruch kann nur eine gewisse Zeit lang weiter bestehen.
Um zum Schluss zu kommen: Viele Linke drängen darauf, dass sich die Ukraine auf Friedensgespräche einlässt und ein Land-für-Frieden-Abkommen mit Putin akzeptiert, was sie von den Palästinensern nie verlangen würden. Was halten Sie von dieser Position? Warum ist sie unrealistisch? Was sollte die Linke zu dem Krieg sagen, und was sollte sie stattdessen fordern? |
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass Putin die Entscheidung, diese Invasion zu starten, sehr ernst genommen hat und entschlossen ist, nicht aufzuhören, bis er seine erklärten Ziele erreicht hat – die Beseitigung der Ukraine als eines unabhängigen Nationalstaats und die Einsetzung einer Marionettenregierung in Kiew. Wenn er diese Ziele nicht erreicht, wird er das als eine für ihn nicht akzeptable Niederlage ansehen.
|
||||||||
Jegliches Fortbestehen einer unabhängigen Regierung in Kiew betrachtet er als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands. Daher wird er sich nicht damit zufrieden geben, nur Teile der Ukraine zu erobern; er will das gesamte Land in Besitz nehmen, als ersten Schritt zur Wiedererrichtung des alten Russischen Reiches.
Dies machte er vor kurzem in einem Interview im russischen Fernsehen deutlich, in dem er nach der Möglichkeit von Friedensgesprächen gefragt wurde. Er erklärte unverblümt, dass er an solchen Gesprächen nicht interessiert sei, dass sie nur dadurch motiviert seien, dass es der Ukraine an Waffen fehle.
Er würde nur Friedensgespräche begrüßen, die die imperialistischen Ziele der Eroberung und des Regimes gewährleisteten, die die Ziele seiner „militärischen Spezialoperation“ sind. An diesem Punkt wird er also jegliche Gespräche ablehnen und stattdessen wahrscheinlich den Krieg eskalieren.
Angesichts dieses nicht enden wollenden imperialistischen Kriegs sollte die Linke an der Seite der Ukraine und ihres Befreiungskampfes stehen. Wenn es Putin gelingt, die Ukraine zu erobern, wird dies einen Präzedenzfall für andere imperialistische Mächte und Staaten bilden, ähnliche koloniale Eroberungskriege vom Zaun zu brechen.
Die internationale Linke sollte das Recht der unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung ausnahmslos verteidigen und ihr Recht, sich Waffen zur Selbstverteidigung zu beschaffen. Nur eine solche Solidarität von unten kann den Drang zu mehr und mehr imperialistischem Krieg Einhalt gebieten.
25. März 2024
Ilja Budraitskis ist Politikwissenschaftler und politischer Aktivist aus Russland, Gastwissenschaftler am Program in Critical Theory an der University of California Berkeley und Autor von Dissidents Among Dissidents: Ideology, Politics, and the Left in Post-Soviet Russia [4]. Außerdem ist er Mitglied der Redaktion der russischen sozialistischen Website Posle.media [5].
|
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2024 (Juli/August 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz