Ökonomen, Soziologen, Politiker und die bürgerlichen Medien spielen uns regelmäßig ihr Lied vom „Verschwinden der Arbeiter:innenklasse“ vor. Die Arbeiter:innenklasse sei in einer riesigen Mittelschicht mit sehr verschwommenen Konturen untergegangen. Dabei war sie international gesehen noch nie so zahlreich wie heute, vor allem weil in den sogenannten „Schwellenländern“ die Zahl der Lohnabhängigen explosionsartig angestiegen ist.
Sandra Cormier
Die Arbeiter:innenklasse hat sich in Wirklichkeit globalisiert. In den sogenannten entwickelten Ländern stellt sie immer noch einen großen Teil der Lohnabhängigen, aber sie hat ein neues Gesicht, das durch die sukzessiven Veränderungen des Kapitalismus geprägt wurde.
Der Wandel der kapitalistischen Wirtschaft hat die Struktur der Gesellschaft und de facto auch die Arbeiter:innenklasse tiefgreifend verändert. Das Proletariat ist nicht mehr das Proletariat aus der Zeit von Marx oder der 1970er Jahre. Seine Veränderungen sind nicht nur das Ergebnis von technischen Entwicklungen oder Veränderungen im Produktionssystem, sondern auch von politischen Entscheidungen, die die Bourgeoisie getroffen hat, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten.
In den 1970er Jahren vollzog sie eine regelrechte neoliberale Wende und ergriff die Offensive, um die Arbeiter:innenklasse zu spalten und sie unfähig zu machen, sich zu organisieren. In erster Linie sorgte sie dafür, die treibenden Kräfte der Arbeiter:innenklasse wie die Stahlarbeiter, die Bergleute oder später die Automobilarbeiter – etwa mit der spektakulären Zerschlagung des Renault-Werks Billancourt – zu brechen. Heute stehen wir vor dem Ergebnis dieser Veränderungen, nämlich eine starke wirtschaftliche Zersplitterung mit dem verstärkten Einsatz von Subunternehmen, einer enormen Differenzierung des arbeitsrechtlichen Status der Beschäftigten und ihrer „Uberisierung“ und Prekarisierung.
Aber es gibt auch eine geografische Aufsplitterung mit der Umgestaltung des Produktionsapparats (Auslagerungen, Verlagerungen, Verkleinerung der Standorte) oder auch die Umgestaltung des Produktionsprozesses mittels Digitalisierung. Diese Realität spiegelt wider, was Marx und Engels im Manifest formulierten, nämlich dass „die Bourgeoisie nicht existieren kann, ohne die Produktionsinstrumente, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“.
Infolgedessen ist das, was die Arbeiter:innenklasse symbolisierte, der Industriearbeiter, ein Mann, der in einer Fabrik mit mehreren tausend Arbeitern unbefristet beschäftigt ist, in der Tat numerisch geschrumpft. Allerdings ist diese restriktive und auch bloß eingebildete Sicht der Arbeiter:innenklasse nicht unsere und auch nicht die der Mehrheit der Strömungen in der heutigen Arbeiterbewegung. Das meinen wir, wenn wir in unseren Gründungsprinzipien von der „Klasse der Arbeiter:innen“ sprechen: „Die große Mehrheit der Bevölkerung besteht aus Arbeiter:innen, ob Hand- oder Kopfarbeiter:innen. Denjenigen, die nur ihre Arbeitskraft einzusetzen haben, meist gegen Lohn, unabhängig davon, ob sie einen Arbeitsplatz haben oder nicht, ob sie berufstätig sind oder sich im Ruhestand befinden. Die überwältigende Mehrheit der jungen Menschen in der Ausbildung ist dazu bestimmt, Bestandteil dieser Arbeiter:innenklasse zu werden“.
Dieses weitgefasste Verständnis der Arbeiter:innenklasse, die also einen großen Teil der Lohnabhängigen umfasst, widerspricht dem künstlichen und hohlen Konzept einer immer größeren „Mittelklasse“, von der man uns die Ohren volljammert und die das Proletariat zum großen Teil aufgesogen hätte. Sie ist in Wirklichkeit eine Nicht-Klasse oder eine Anti-Klasse, da sie sich gegen nichts und niemanden stellt und in der relativ subjektiven Kategorie von Reichtum und Armut und nicht im gesellschaftlichen Verhältnis zum Kapital definiert ist.
Die Industriearbeiter:innen sind übrigens nicht verschwunden. Statistisch (INSEE) machen sie immer noch 18,9% der erwerbstätigen Bevölkerung aus. Vor allem aber sind große Teile der Arbeiter:innen infolge der explosiven Zunahme des Dienstleistungssektors Angestellte. Diese Arbeiter:innen sind nicht in der verarbeitenden Industrie tätig, nehmen aber ebenfalls an der Produktion teil. Die Logistik ist indirekt an der Produktion von Mehrwert im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung beteiligt.
Aber auch diese neue Klasse von Dienstleistungsarbeiter:innen teilt oft die gleichen Arbeitsbedingungen, sei es die Akkordarbeit, die Arbeitsbelastung oder die repetitiven Arbeitsschritte. Und wie die Industriearbeiter:innen entscheiden auch diese Dienstleistungsarbeiter:innen so gut wie gar nichts und haben keine wirkliche Kontrolle über das, was sie tun und wie sie es tun. Ein weiterer Aspekt ist, dass die meisten Dienstleistungsarbeiter:innen Frauen sind. Diesen Arbeiterinnen ein Gesicht zu geben, ermöglicht es, aus dem Männlichkeitswahn und den Geschlechterstereotypen auszubrechen, auf denen das Bild des Proletariats basiert.
Diese vom neoliberalen Kapitalismus umgeformte Arbeiter:innenklasse hat Probleme, wahrgenommen zu werden und sich zusammenzuschließen. Zwar war das Proletariat numerisch noch nie so stark, doch sozial und politisch war es noch nie so schwach. Das ist ein Phänomen, das man sowohl in Frankreich als auch in England, Deutschland und den USA beobachten kann. Es gibt objektive Faktoren, die mit der Zersplitterung des Produktionsapparats zusammenhängen. Heute arbeitet mehr als die Hälfte der Arbeiter in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten, die oft in ländlichen Gebieten liegen.
Die Auslagerung bestimmter Tätigkeiten durch den verstärkten Einsatz von Subunternehmen, insbesondere in der Logistik- oder Transportbranche, die ein Viertel der Beschäftigten ausmachen, ist Teil dieser Zersplitterung, die nicht nur geografisch, sondern auch durch die Differenzierung des Status und der Löhne bedingt ist.
Auch die „Uberisierung“ der Arbeiterschaft, die uns an den Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts erinnert, ist Teil einer Zersplitterung und noch mehr einer Individualisierung der Arbeiterschaft, die im Rahmen des Neoliberalismus bewusst betrieben wird. Doch auch wenn all dies schwer wiegt, reicht es nicht aus, um den Rückgang des Bewusstseins oder die Schwierigkeit unseres sozialen Lagers, sich zusammenzuschließen, zu erklären. Die Arbeiter:innenklasse des 19. Jahrhunderts war auch extrem prekarisiert, heterogen und die Zahl der Beschäftigten war nicht so hoch wie heute. Dennoch wurden in diesem schwierigen Umfeld Gewerkschaften aufgebaut, die Hunderttausende von Arbeiter:innen vereinten, und die Arbeiterbewegung wurde organisiert.
In diesem Zusammenhang kann man die sogenannte „Wirtschaftswunderzeit“ als eine bloße Parenthese in der Geschichte des Proletariats und sogar des Kapitalismus begreifen. Die Probleme der Arbeiter:innenklasse, sich als revolutionäres Subjekt zu begreifen, sind daher in erster Linie auf den Niedergang der Arbeiterbewegung und insbesondere auf die Häufung ihrer Niederlagen in den letzten Jahrzehnten zurückzuführen. Das Hindernis ist also in erster Linie politisch und kann nicht auf soziologische Elemente reduziert werden, da uns dies grundsätzlich keine Perspektive und kein Mittel zum Handeln lässt.
Im Übrigen waren es die prekarisierten und meist unsichtbaren Sektoren, die die tiefen Spaltungen infolge der Neuorganisation der Arbeit überwinden konnten. In jüngster Zeit haben vorbildliche Kämpfe wie der der Zimmermädchen bei Ibis in Batignolles, die sich nach 135 Tagen Streik durchgesetzt haben, oder die Streiks bei den Lieferdiensten Uber Eats, Deliveroo etc., die überall in Europa und in den USA entstanden sind, zur Entstehung dieser neuen Arbeiter:innenklasse beigetragen.
Das macht Marx’ Formulierung „Die Arbeiter:innenklasse ist revolutionär oder sie ist nichts“ immer aktueller. Sie bedeutet, dass die Arbeiter:innenklasse nur dann existiert, wenn sie sich als soziale Kraft konstituiert und sich politisch mit dem Kapitalismus auseinandersetzt. Die größte Schwierigkeit besteht also darin, die Arbeiter:innenklasse als Subjekt zu konstituieren, d. h. von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ überzugehen. Und dieser Übergang erfolgt notwendigerweise vorwiegend durch Kämpfe.
Die wichtigste Frage bleibt also, wie Antikapitalist:innen am effizientesten vorgehen können, um diese riesige soziale Kraft, die so zersplittert und sich ihrer Stärke nicht bewusst ist, politisch zu einen. Zunächst einmal sollten sie sich aktiv an den Kämpfen beteiligen. Ob defensiv oder offensiv, Kämpfe ermöglichen es nicht nur, Errungenschaften Stück für Stück zu erkämpfen, sondern auch, ein höheres Klassenbewusstsein zu schaffen. Dies gilt umso mehr, als sie komplexe Formen annehmen können, die uns in Zeiten zurückversetzen, in denen die Mobilisierungen sehr heterogen waren, wie etwa im 19. Jahrhundert. Konflikte sind vorhanden, aber sie nehmen manchmal neue Formen an, erobern neue Räume und das Proletariat ist auch dort in Bewegung, wo man es nicht erwartet.
Deshalb müssen wir parat stehen und in diese Bewegungen, die manchmal von Konfusion geprägt sind, eingreifen, indem wir Forderungen stellen, die das Klassenverhältnis verdeutlichen. Aber auch, um den Reaktionären und Faschisten die Führung in diesen Bewegungen streitig zu machen und dazu beizutragen, das für einen Sieg erforderliche Kräfteverhältnis aufzubauen. Das haben wir in der Bewegung der Roten Mützen in der Bretagne mit dem Aufbau des „Arbeiterpols“ getan oder auch durch unser Eingreifen in die Gelbwesten-Bewegung.
Unsere politische Strömung ist seit jeher in der Arbeiter:innenklasse aktiv, aber angesichts des fortgeschrittenen Zerfalls der Arbeiterbewegung mit unzähligen gewerkschaftsfreien Sektoren, isolierten oder abtrünnigen Aktivisten ist es heute besonders wichtig, eine proaktive Politik in dieser Richtung zu betreiben.
|
||||||||
Dafür müssen die Organisationen der Arbeiter:innenklasse und insbesondere der Gewerkschaften wieder aufgebaut werden, aber auch Arbeiter:innen rekrutiert werden. In der Arbeiter:innenklasse Fuß zu fassen bedeutet, regelmäßig in ihr zu intervenieren und kämpferische Strukturen zu schaffen, die auf die Betriebe ausgerichtet sind. Aber es bedeutet auch, ein Engagement in den Lebenszusammenhängen, den Stadtvierteln und den Bildungsstätten, insbesondere der Jugend, zu erbringen.
Eine Intervention in diesen Zusammenhängen erleichtert auch das Zusammengehen. Sie ergänzt die Intervention in den Betrieben, ersetzt sie aber nicht, denn wir müssen auch Sorge tragen, dass Streiks als strategisches Mittel begriffen und eingesetzt werden, was bei der jüngsten Bewegung gegen die Rentenreform schmerzlich gefehlt hat. Der Streik bleibt die wirksamste Waffe, um die Wirtschaft zu blockieren und der Bourgeoisie die Macht streitig zu machen, aber er spielt auch eine wichtige Rolle bei der Emanzipation des Proletariats.
Unsere Intervention zielt auch notwendigerweise auf die politische Vereinigung der Arbeiter:innenklasse ab, um ihre Aktionen überhaupt koordinieren zu können. Wenn das Proletariat, wie wir bereits betont haben, als organisierte Kraft zersplittert ist, ist es auch von Spaltungen durchzogen, die vorrangig Folge der Unterdrückung auf verschiedenen Ebenen sind. Insofern sind die Kämpfe gegen diese Unterdrückung letztlich Kämpfe für die Vereinigung des Proletariats, das durch die kapitalistische Ausbeutung segmentiert und gespalten wird. Der Wiederaufbau eines antirassistischen, feministischen und gegen LGBT-Phobie gerichteten Bewusstseins steht in keiner Weise im Gegensatz zur Entstehung eines neuen Klassenbewusstseins, sondern ist im Gegenteil ein wesentlicher Bestandteil davon.
Die Einheit der Arbeiter:innenklasse kann daher nur unter Berücksichtigung all ihrer Parameter erreicht werden. Eines ist sicher: Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung bildet das Proletariat und wird daher in der Konfrontation mit der Bourgeoisie eine wesentliche Rolle spielen. Die Arbeiter:innenklasse, das Proletariat in seiner Komplexität und Vielfalt, muss seine Fähigkeit wiedererlangen, wieder zum historischen Subjekt der Revolution zu werden. In dieser Eigenschaft bleibt es der Dreh- und Angelpunkt unserer gesamten Politik.
aus: l’Anticapitaliste Nr. 156 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2024 (September/Oktober 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz