Niederlande

Unruhen in Amsterdam und der Wolf, der „Antisemitismus“ rief

Alex de Jong

Die Fans des israelischen Fußballclubs Maccabi Tel Aviv haben in Amsterdam Gewalt entfacht, aber die extreme Rechte stilisiert sie zu Opfern, um die Palästina-Solidarität zu bekämpfen.

Amsterdams liberale Bürgermeisterin Femke Halsema erklärte, die Zusammenstöße nach dem Spiel zwischen Maccabi Tel Aviv und dem AFC Ajax Amsterdam Ende letzter Woche seien das Ergebnis eines „giftigen Cocktails aus Antisemitismus, Hooliganismus und Wut über den Krieg in Palästina und Israel“. Die Beschreibung ist zwar nicht völlig falsch, aber sicherlich irreführend. Dies wurde durch den Kurzbericht des Stadtrats selber deutlich, in dem Halsema die obige Erklärung schrieb.

 

Palästina-Solidarität

Rokin, Amsterdam. Foto: Vera de Kok

Jetzt benutzt die niederländische Rechte eine verzerrte Interpretation der Gewalt in der Stadt und setzt den Antisemitismus als Waffe ein, um ihre rassistische Agenda voranzutreiben und ein hartes Durchgreifen gegen die Palästina-Solidarität zu rechtfertigen.

Bereits vor dem Spiel am Donnerstagabend war klar, dass Maccabi-Fans nach Amsterdam gekommen waren, um sich zu prügeln. Sie zogen durch die Stadt, sangen rassistische und völkermörderische Gesänge und belästigten Menschen, die sie für muslimisch oder arabisch hielten. Da Amsterdam generell eine linksgerichtete Stadt mit einer bedeutenden muslimischen Bevölkerungsgruppe ist, ist es nicht ungewöhnlich, palästinensische Flaggen von Balkonen oder in Fenstern hängen zu sehen. Videos wurden vielfach geteilt, die zeigen, wie Maccabi-Fans herumliefen und sie niederrissen.

Die Lage eskalierte weiter, als Fans der Mannschaft von Tel Aviv einen Taxifahrer angriffen und damit die Reaktion seiner eng vernetzten und schnell mobilisierbaren Kolleg:innen provozierten.

Die Spannungen waren im Vorfeld des Spiels so eskaliert, dass der Amsterdamer Stadtrat sogar überlegte, das Spiel zu verbieten. Er entschied sich jedoch dagegen, aus Angst, dass die mehrere hundert Maccabi-Fans in der Stadt noch unkontrollierbarer werden würden. Stattdessen versuchte die Stadt, sich an die Fußballvereine zu wenden, um ihre Fans zu beruhigen. Auch der israelische Botschafter wurde gebeten, eine Erklärung abzugeben, dass sich Fußball und Politik nicht vermischen sollten, aber ob er darauf reagiert hat, wurde nicht mitgeteilt.


Zweierlei Maßstäbe


Diese ganze Situation war das Ergebnis einer eklatanten Heuchelei seitens der niederländischen Behörden, wenn es um das Leiden der Palästinenser:innen geht. Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine wurden russische Mannschaften ausgeschlossen, doch als ähnliche Forderungen von Palästina-Solidaritätsorganisationen nach einem Ausschluss israelischer Mannschaften gestellt wurden, wurden sie ignoriert. Die Amsterdamer Verwaltung behauptete sogar, dass Maccabi-Fans, die in Griechenland einen Mann krankenhausreif geschlagen hatten, weil er ein Palästina-Tuch trug, nicht als gefährlich bekannt seien.

Als das Spiel in Amsterdam schließlich angepfiffen wurde, störten Maccabi-Fans lautstark die Schweigeminute für die Opfer der Überschwemmungen in Spanien. Dies ist vielleicht keine Überraschung, da die spanische Regierung einer der europäischen Staaten ist, die den Krieg Israels deutlicher kritisieren.

Nach dem Spiel wurden Häuser mit palästinensischen Flaggen erneut von Gruppen von Maccabi-Fans belagert.

In dieser Nacht eskalierten die Dinge, als Gruppen einheimischer Jugendlicher mit den Maccabi-Fans in Streit gerieten und sie in der ganzen Stadt suchten. 62 Personen wurden festgenommen, zehn davon waren Israelis. Nach einem Tag, an dem die Polizei den Maccabi-Anhängern meist aus dem Weg ging, wurden stattdessen unverhältnismäßig viele einheimische Jugendliche verhaftet. Die jüdische antizionistische Gruppe Erev Rav veröffentlichte eine Erklärung, in der sie die Polizei dafür kritisierte, dass sie auf einheimische junge Menschen mit marokkanischem Hintergrund losging, während „Maccabi-Fans, die Provokationen initiierten, keine Konsequenzen zu fürchten hatten“.

Erev Rav hatte ursprünglich geplant, am vergangenen Wochenende des Pogroms von 1938 in Deutschland zu gedenken, die Veranstaltung dann aber abgesagt. Sie erklärten, dass sie wenig Vertrauen in die Amsterdamer Polizei hätten, dass sie antizionistische Juden vor den Maccabi-Anhängern schützen würde. Die Gruppe verurteilte auch die Instrumentalisierung der jüdischen Identität durch Maccabi-Anhänger.

Es überrascht nicht, dass die niederländische extreme Rechte in all dem eine Chance witterte. Nach dem Spiel erklärte Geert Wilders, der Vorsitzende der größten Partei im niederländischen Parlament, dass das, was geschehen war, ein „Pogrom der schlimmsten Art“ sei, und forderte die Entlassung von Halsema. Er behauptete, sie habe es angeblich versäumt, Juden vor antisemitischer Gewalt zu schützen. Es ist unbestreitbar, dass einige Personen, die an den Zusammenstößen beteiligt waren, mit antisemitischen Beleidigungen um sich warfen, und es wurde gesagt, dass Menschen, die „jüdisch aussahen“, aufgefordert wurden, ihre Pässe vorzuzeigen, was alles unbedingt verurteilt werden muss, aber dies als Pogrom zu bezeichnen, ist völlig unverhältnismäßig.

In Wirklichkeit instrumentalisiert die Rechte das Thema Antisemitismus, indem sie alle Juden mit dem Staat Israel gleichsetzt – die gleiche Taktik, die von der israelischen Regierung oft benutzt wird und die sie zynisch gegen ihre Kritiker:innen einsetzt. Wilders weiß genau, dass antisemitische Äußerungen im niederländischen Fußball leider nicht unbekannt sind, aber er scheint von Fall zu Fall zu entscheiden, wann er sich dagegen ausspricht. Ein besonders berüchtigter Sprechchor, der oft gegen die Amsterdamer Mannschaft Ajax geschleudert wird, fordert zum Beispiel die Vergasung aller Juden. [1] Aber weil diese Form des Antisemitismus hauptsächlich von weißen Fußballfans ausgeht, hat die niederländische Rechte daran weit weniger Interesse, sie verwendet ihre Energie lieber darauf, Antisemitismus mit dem Islam und Migrant:innen in Verbindung zu bringen.

Wilders ist auch nicht der einzige Schuldige. Nach seiner Rückkehr von einem Besuch beim rechtsextremen ungarischen Regierungschef Viktor Orbán erklärte der niederländische Ministerpräsident Dick Schoof, Antisemitismus sei das Ergebnis einer „mangelnden Integration“ in die niederländische Gesellschaft. Für ihn sind das Problem die Migrant:innen, nicht die rassistische und faschistische rechtsextreme Rhetorik, die in ganz Europa umgeht.


Wo sind die linken Politiker:innen?


Nach dem Spiel spitzte sich die Situation immer weiter zu. Am Montag [den 11. November] kam es erneut zu Zusammenstößen mit der Polizei. Dies geschah, nachdem die Verwaltung alle Demonstrationen verboten hatte und ein Protest am Sonntag aufgelöst worden war. Zwischen Sonntag und Mittwoch wurden Dutzende von Demonstrant:innen festgenommen, als die Polizei die Demonstrationen mit harter Hand auflöste. Aktivist:innen hatten zu einer Kundgebung zur Verteidigung von demokratischen Rechte und für Solidarität mit Palästina aufgerufen.

Trotz dieser Repression war die parlamentarische Linke weitgehend abwesend. Das ist jedoch keine Überraschung. In den Niederlanden gab es bedeutende palästinensische Solidaritätsaktionen von Demonstrationen bis hin zu Sitzstreiks, aber linke Parteien – mit Ausnahme der kleinen radikalen Partei BIJ1 [2] – waren daran kaum beteiligt. Schlimmer noch, große Teile der niederländischen Partei der Arbeit sind traditionell stark pro-israelisch eingestellt.

Das Schweigen der parlamentarischen Linken erleichtert es der Rechten, ein Klima des Hasses gegen Migrant:innen zu schüren, Antisemitismus mit dem Islam zu verknüpfen und Solidarität mit Palästina als Feindseligkeit gegenüber Juden zu bezeichnen.

Die grüne Bürgermeisterin Halsema hat noch Öl ins Feuer gegossen, indem sie daran festhielt, die Ereignisse der letzten Tage mit Pogromen zu vergleichen. [3] Auch ihre Verhängung des Protestverbots in Amsterdam ist eindeutig ein Versuch, weitere Kritik von rechts zu vermeiden, was aber nur ein autoritäres Durchgreifen insbesondere gegen die Palästina-Solidarität legitimiert hat.

      
Mehr dazu
Dan La Botz: Pro-Palästina-Proteste weiten sich trotz Repression aus, die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024) (nur online). Auch bei intersoz.org.
Alex de Jong: Rechtsextremer Wahlsieg in den Niederlanden, die internationale Nr. 1/2024 (Januar/Februar 2024) (nur online).
Alex de Jong: Neue sozialistische Organisation entsteht, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023).
Paul B. Kleiser: Antizionismus gleich Antisemitismus?, die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021).
Dominique Vidal: Antizionismus = Antisemitismus? . Was steckt hinter dieser Gleichung? , die internationale Nr. 3/2019 (Mai/Juni 2019).
 

Die längerfristigen Folgen der jüngsten Ereignisse bleiben abzuwarten, aber die allgemeine Entwicklung ist klar. Unterstützt durch das Schweigen und den Opportunismus von Mitte-Links waren die Rechtsextremen der Hauptnutznießer.

Eine Welle moralischer Entrüstung ist durch das Land gerollt, und wieder einmal wurden muslimische Jugendliche, insbesondere solche marokkanischer Abstammung, zu einer existenziellen Bedrohung für die niederländische Gesellschaft erklärt. Diesmal geht es um ihren angeblich angeborenen Antisemitismus. Während rechte Parteien die Idee verbreiten, ihnen die niederländische Staatsbürgerschaft zu entziehen (zumindest denen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen), ist das Rowdytum der Maccabi-Anhänger und ihre Verherrlichung des israelischen Völkermords aus dem Blick geraten.

In den kommenden Wochen und Monaten werden die Versuche, die Solidarität mit Palästina zu kriminalisieren, vermutlich zunehmen, und Eintreten für die Befreiung Palästinas wird zunehmend mit Antisemitismus gleichgesetzt werden. Bereits im vergangenen Monat wurde ein Sprecher der palästinensischen Solidaritätsorganisation Samidoun aus dem Land ausgewiesen, und das niederländische Kabinett hat gefordert, dass die Organisation vollständig verboten wird.

Die einzige Möglichkeit, sich der autoritären Politik und dem Rassismus der Rechten zu widersetzen, besteht darin, dass Linke und Solidaritätsaktivist:innen zusammenhalten, die ganze Geschichte davon erzählen, was in Amsterdam passiert ist, und das Recht verteidigen, sich zu organisieren und sich mit Palästina solidarisch zu erklären.

Mittwoch, 20. November 2024
Quelle: International Viewpoint, New Arab
Übers. und Anmerkungen: B. Mertens



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Ajax Amsterdam wird unter Fußballfans seit mehreren Jahrzehnten mit dem Judentum assoziiert. Sprechchöre gegnerischer Zuschauer wie Hamas, Hamas, joden aan het gas! (Hamas, Hamas, Juden ins Gas!) oder Wir gehen auf Judenjagd waren in den Stadien keine Seltenheit, genauso wie Zischlaute, die ausströmendes Gas imitieren sollen. [Wikipedia]

[2] „BIJ1“ wurde Ende 2016 als „Artikel  1“ unter Bezugnahme auf den entsprechenden Artikel der niederländischen Verfassung gegründet, der Diskriminierung und Rassismus verbietet. Wegen einer Namenskollision musste sie ihren Namen ändern, ohne auf die „1“ zu verzichten. Zu den Mitgliedern zählt auch die feministische Schriftstellerin und frühere SP-Senatorin Anja Meulenbelt. Siehe: Wikipedia; Website: bij1.org

[3] Nach Erstellen dieses Artikels hat die Bürgermeisterin gegenüber niederländischen Medien ihre Wortwahl bedauert, Jewish News Syndicate, 18.11.2024 und de.euronews.com, 19.11.2024 (ein Hinweis, der in der deutschen Wikipedia fehlt).