Die Beschwörung angeblicher „Pogrome“ und „Judenjagden“ soll die Realität verschleiern und eine Massenhysterie erzeugen, um eine rechtsextreme Agenda zu bedienen.
Em Hilton
„Morgen vor 86 Jahren war die Kristallnacht, als Juden auf europäischem Boden angegriffen wurden, weil sie Juden waren. Dies hat sich nun wiederholt; wir haben es gestern in den Straßen von Amsterdam erlebt. Es gibt nur einen Unterschied: In der Zwischenzeit ist der jüdische Staat gegründet worden. Wir müssen dies zur Kenntnis nehmen.“
Palästina-Solidarität – Hauptfeind der Rechtsradikalen Rokin, Amsterdam. Foto: Vera de Kok |
Diese Erklärung des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu zu den Unruhen und der Gewalt rund um das Fußballspiel zwischen Maccabi Tel Aviv und Ajax in der vergangenen Woche ist eine grobe Verdrehung der Tatsachen. Die Ereignisse begannen bereits vor dem Spiel, als Fans des israelischen Vereins durch die Stadt zogen, palästinensische Flaggen von den Wohnungsfenstern rissen, einen Taxifahrer angriffen und skandierten: „Lasst die IDF gewinnen und fickt die Araber“ (bei ihrer Rückkehr nach Israel wurden sie auch dabei gefilmt, wie sie skandierten: „Warum ist in Gaza schulfrei? Weil es dort keine Kinder mehr gibt“). Nach dem Spiel am Donnerstagabend wurden Maccabi-Fans von Einheimischen wiederholt angegriffen, wobei einige palästinensische Flaggen trugen und pro-palästinensische Parolen riefen. Dabei wurden bis zu 30 Menschen verletzt und fünf ins Krankenhaus eingeliefert.
Viele bekannte Medien und Regierungen übernahmen eilfertig die Version, dass es sich bei den Unruhen um einen eindeutigen Fall von antisemitischer Gewalt handelte. Der israelische Präsident Isaac Herzog bezeichnete die Unruhen umgehend als „Pogrom“. Geert Wilders, Vorsitzender der rechtsextremen Partei für die Freiheit, der derzeit größten Partei im niederländischen Parlament, bezeichnete sie als „Judenjagd“. Der niederländische König sagte zu Herzog: „Wir haben die jüdische Gemeinde der Niederlande während des Zweiten Weltkriegs im Stich gelassen, und letzte Nacht haben wir erneut versagt.“
In den sozialen Medien wurden denkbar absurde Parallelen gezogen, etwa Fotomontagen von Anne Frank in einem Trikot von Maccabi Tel Aviv, in denen das Gedenken an die Verfolgung der Juden durch die Nazis und ihre Verbündeten auf ein finsteres Niveau herabgewürdigt wurde. Eine bittere Ironie, dass diese Ereignisse den eigentlichen Jahrestag der Kristallnacht überschatten, wo die Folgen rassistischer, staatlich unterstützter Gewalt gerade so aktuell sind.
Nach dem 7. Oktober haben Forscher:innen zu den Themen Antisemitismus, Völkermord und jüdische Geschichte davor gewarnt, wie besonders traumatische Ereignisse in der jüdischen Geschichte heraufbeschworen werden, um Israels Angriff auf den Gazastreifen zu legitimieren und gegen Kritiker vorzugehen. Wie der Antisemitismusforscher Brendan McGeever klar und deutlich formulierte, war der Vorfall in Amsterdam, obwohl er brutal und beunruhigend war, kein Pogrom, nämlich ein Angriff auf eine unterdrückte Gruppe mit staatlicher Unterstützung. Die Verwendung dieses und ähnlicher Begriffe im Gefolge dieser Gewalttaten diente nur dazu, die Realität der Ereignisse zu verschleiern und eine Massenhysterie zu erzeugen.
Dies ist natürlich eine gängige Taktik der Rechtsextremen: Chaos und Angst zu erzeugen, um ihr Weltbild zu untermauern. Das Verschweigen der rassistischen Gewalt der Fans von Maccabi Tel Aviv durch die ignorante Berichterstattung der meisten Mainstream-Medien hat dies bloß noch weiter forciert. In einer Zeit, in der echter Antisemitismus auf dem Vormarsch ist und sich jüdische Menschen auf der ganzen Welt besonders bedroht fühlen, ist diese Instrumentalisierung jüdischer Angst besonders fatal.
Nach diesen Ereignissen und dem daraus folgenden Diskurs stellt sich die Frage, was damit politisch bezweckt werden soll. Es liegt sicherlich im Interesse der israelischen Regierung, die Gewalt als bloße Ausgeburt eines antijüdischen Rassismus darzustellen und so jedweden Zusammenhang mit dem völkermörderischen Krieg in Gaza zu bestreiten. Die israelische Führung ist wild entschlossen, die zionistische Lesart zu bedienen, dass Israel der einzige sichere Ort für Juden ist und Muslime und Araber eine existenzielle Bedrohung für uns darstellen, wo auch immer wir sind. Sie wollen unsere Angst schüren, um uns bei der Stange zu halten – wie sonst wollen sie weiterhin Stimmung für den Krieg erzeugen?
Je länger der Krieg gegen den Gazastreifen andauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Feindseligkeit gegenüber Israelis im Ausland weiterhin zu Gewalt führt und die israelfeindliche Stimmung in Antisemitismus umschlägt. Dies haben wir in Amsterdam gesehen, als Menschen bei Angriffen auf Maccabi-Fans „kanker jood“ (jüdisches Krebsgeschwür) riefen.
Javier Milei in Jerusalem Der rechtsradikale Präsident Argentiniens entdeckte 2024 sein Herz für Israel. Foto: Casa Rosada (Argentina Presidency of the Nation) |
An diesem Beispiel wird erschreckend klar, dass Israel entgegen allen ständigen Behauptungen keine Antwort auf die Frage nach der Sicherheit der Juden darstellt. Wenn Israel laufend erklärt, dass es für die Sicherheit der jüdischen Bevölkerung Krieg gegen die Palästinenser führt, und dabei die uneingeschränkte Unterstützung prominenter jüdischer Organisationen in aller Welt genießt, ist wohl kaum zu vermeiden, dass die Feindschaft gegen Israel in Antisemitismus umschlagen wird. Darüber hinaus hat das Fehlverhalten der internationalen Gemeinschaft, Israel nicht zur Verantwortung zu ziehen, Verschwörungstheorien über die Macht des Judentums weiter befördert und so von den Mechanismen des westlichen Imperialismus abgelenkt.
Das macht Gewalt gegen Juden aus Wut gegen Israel nicht akzeptabel – ganz im Gegenteil. Aber um sie zu bekämpfen, müssen wir erkennen, dass Israels Politik die Sicherheit der Juden auf der ganzen Welt untergräbt, und versuchen, Distanz zwischen der jüdischen Diaspora und den Machenschaften eines unserer Sicherheit gegenüber völlig gleichgültigen Nationalstaates zu schaffen.
Der Kern des Problems wird noch immer nicht erkannt. Wir schreiben nicht das Jahr 1938, sondern das Jahr 2024. Was in Amsterdam geschah, hat wenig mit Antisemitismus zu tun, sondern mit Islamophobie und Rassismus, die in Europa grassieren. Die hässliche Wahrheit ist, dass weniger als ein Jahrhundert, nachdem die Juden von den Nazis und ihren Verbündeten in ganz Europa gejagt und ausgerottet wurden, die angebliche Sorge um die Sicherheit der Juden nun die Ambitionen der extremen Rechten befördert, die unsere Ängste für ihre Jagd auf Muslime, Araber und Migranten aus dem globalen Süden instrumentalisieren.
Diese reaktionären politischen Bestrebungen sind seit dem 7. Oktober in vollem Gange und werden durch die von der israelischen Staatsspitze und rechten jüdischen Organisationen auf der ganzen Welt verbreitete Behauptung gerechtfertigt, dass die Unterstützung Palästinas eine direkte Bedrohung für die Sicherheit und das Wohlergehen der Juden darstellt. Die Reaktion der niederländischen Behörden auf die Ereignisse der vergangenen Woche ist in dieser Hinsicht alarmierend: Wilders bezeichnete Amsterdam als „das Gaza Europas“ und schwor, „Marokkaner, die Juden vernichten wollen“, zu deportieren. Und er steht damit nicht allein: Die gesamte niederländische Regierung erwägt, Doppelstaatlern, die wegen „Antisemitismus“ verurteilt wurden, die Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Solche Tendenzen sind die logische Folge der Hetze gegen Israel-Kritiker, die seit einem Jahr entfacht wird. Von der Verleumdung der pro-palästinensischen Proteste als „Hassmärsche“ und der Panikmache wegen angeblicher „No-Go-Zonen“ für Juden bis hin zur polizeilichen Repression und Verhaftung friedlicher Demonstranten erleben wir, wie Antizionismus als terroristisch und europafeindlich abgestempelt wird. Die „Bekämpfung des Antisemitismus“ wird immer mehr zum Synonym für autoritäre Tendenzen, auch um Minderheiten zu diskriminieren und zu verfolgen.
Immer häufiger wird seither der europäische Nationalismus beschworen, um die Bekämpfung des Antisemitismus mit einer fremden- und migrationsfeindlichen Agenda zu verbinden. In Frankreich beispielsweise wurde der erste „Marsch gegen Antisemitismus und für die Republik“ von der Führerin des Rassemblement National, Marine Le Pen, angeführt. Auf ihren Druck hin verabschiedete die französische Regierung drakonische Einwanderungsgesetze, die sich besonders gegen People of Color richten. Einst als Staatsfeinde verfolgt, sind Juden nun zu einer Vorzeigeminderheit geworden, in deren Namen Frankreich muslimische Gemeinden ausgrenzt und attackiert.
Ähnliche politische Veränderungen haben in Großbritannien stattgefunden, wo die Ereignisse des letzten Jahres zu einem neuen Narrativ geführt haben, in dem die Unterstützung der jüdischen Gemeinde als „very British“ innerhalb der politischen Elite aufgewertet wurde, während die Unterstützung Palästinas als typisch ausländisch gilt. Einwanderungs- und Anti-Terror-Gesetze dienen dazu, Unterstützer Palästinas ins Visier zu nehmen; in einem Fall griff ein ehemaliger Minister der Tories persönlich in das Verfahren ein, um einem ausländischen Studenten, der auf einer Pro-Palästina-Demonstration gesprochen hat, das Visum zu entziehen. Und im August riefen Rechtsextremisten wie Tommy Robinson zu rassistischen Krawallen im Vereinigten Königreich auf und forderten, dass die Straßen von der „Hamas“ zurückerobert werden müssten.
In der BRD wurden pro-palästinensische Demonstrationen verboten und von der Polizei mit äußerster Gewalt aufgelöst, wobei auch gegen deutsche Juden und Israelis, die gegen Israels Vorgehen in Gaza protestieren, vorgegangen wird. Erst vor zwei Wochen verabschiedete der Bundestag eine umstrittene Entschließung zum Antisemitismus, […] mit der allen Organisationen, die zum Boykott Israels aufrufen, die staatliche Förderung gestrichen werden soll. Ein weiteres Gesetz, das Anfang des Jahres [in Teilen der BRD] verabschiedet wurde, verlangt von Einbürgerungswilligen, dass sie zuvor das „Existenzrecht Israels“ anerkennen.
Von Netanjahu und Wilders bis hin zu Robinson und Le Pen – überall bedient sich die extreme Rechte der Juden als Fußsoldaten in ihrem Krieg gegen die, die sie am meisten verachten. Dabei werden zunehmend die Grenzen zwischen Antisemitismus und Antizionismus verwischt. Diesen Tendenzen müssen wir uns widersetzen und gleichzeitig an der Seite der jüdischen Gemeinden gegen die durchaus reale Bedrohung durch den wachsenden Antisemitismus stehen.
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Aber gerade Juden sollten sich daran erinnern, dass die extreme Rechte nicht unsere Verbündete ist. Auch wenn wir gegenwärtig nicht in ihrem Visier stehen, hat Antisemitismus schon immer den Nationalismus und das Vorherrschaftsdenken der Weißen geschürt. Wenn wir zulassen, dass unsere Ängste als Juden gegen andere Minderheiten instrumentalisiert werden, erhöht das nur unsere Unsicherheit. Wir müssen dringend nach neuen Wegen für unsere Sicherheit suchen, und zwar in Solidarität mit anderen Minderheiten und nicht gegen sie.
Linke jüdische Organisationen wie Oy Vey Amsterdam, der Jewish Bloc in London, Jews for Racial and Economic Justice in New York und viele andere stehen hierbei an der Spitze und bilden solidarische Bündnisse, die als Inspiration für andere dienen können. Es ist beunruhigend, dass diese Bestrebungen vom jüdischen Establishment rundweg denunziert werden.
Daneben müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass es bei der Unterstützung Israels in Europa angesichts von mehr als 400 Tagen Völkermord, Zerstörung und Vernichtung durch das israelische Militär in Gaza letztlich darum geht, die Interessen der extremen Rechten in den jeweiligen Ländern zu bedienen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Unruhen in Amsterdam umgedeutet werden, um die herrschende Islamophobie und die zunehmende Fremdenfeindlichkeit der extremen Rechten zu stärken.
Em Hilton ist eine jüdische Schriftstellerin und Aktivistin gegen die israelische Besatzungspolitik. Sie lebt in London und Tel Aviv. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2025 (Januar/Februar 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz