Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu wurde am 19.03.2025 festgenommen. Das hat eine unerwartete und fast beispiellose Reaktion hervorgerufen.
Serdar Kazak
Es kam zu einer Protestwelle mit Millionen Menschen aus fast allen Teilen des politischen Spektrums. Eigentlich fingen die Proteste schon einen Tag früher an, als nämlich die Verwaltung der Istanbuler Universität am 18. März das Diplom von Imamoğlu annulliert hatte. Die akademischen Gremien der Universität hatten sich gegen diese Annullierung gestellt. Es ging um einen Universitätswechsel vor dreißig Jahren und der Wechsel war rechtmäßig. Die Regierung zwang trotzdem die Verwaltung der Universität, das Diplom des zukünftigen Präsidentschaftskandidaten für „nicht gültig“ zu erklären. (Um für das Präsidentenamt kandidieren zu dürfen, muss man in der Türkei einen Universitätsabschluss nachweisen).
Die Studierenden an der Universität Istanbul haben am ersten Tag ausschließlich innerhalb der Universität protestiert. Am nächsten Tag wurde Imamoğlu festgenommen und der studentische Protest hat sich qualitativ geändert. Protestierende Student:innen sind aus dem Campus geströmt. Studierende mehrerer anderer Universitäten sind dem gefolgt. Sie haben die Polizeisperren in relativ kleineren Auseinandersetzungen beiseitegeschoben und den Weg zum Rathaus mutig geöffnet. Damit war Imamoğlus Partei, die sozialdemokratische CHP, gezwungen, aus dem bequemen Parlament herauszukommen. Der Vorsitzende der Partei hat das Volk aufgerufen, auf die Straße zu gehen. Ausnahmslos alle sozialistischen Parteien und Gruppen haben den Aufruf unterstützt. Sogar einige oppositionelle nationalistische Grüppchen haben ihre Unterstützung ausgesprochen. Noch am selben Abend standen mehr als 100 000 Menschen vor dem Rathaus von Istanbul.
In den folgenden Tagen strömten immer größer werdende Menschenmassen im ganzen Land auf die Straßen und Plätze. Sogar in den kleinen anatolischen Städten, die eigentlich Hochburgen der AKP sind, hat es Massenproteste gegeben. Brutale Polizeigewalt, der Einsatz von Tränengas, Knüppeln und Gummigeschossen konnten die Protestdemonstrationen nicht stoppen oder zurückdrängen. Das war ein breites Publikum, das weit über die Zahl der Unterstützer:innen der CHP oder Imamoğlus hinausging. Es ging nicht mehr um Imamoğlu oder die CHP, sondern um die Verteidigung des Rechts, über die eigene politische Zukunft zu bestimmen.
Die Erfahrung mit einer ähnlich starken Protestwelle hatten wir in der Türkei vor knapp zwölf Jahren. 2013 wollte die Stadtregierung von Istanbul einen relativ kleinen Park im Stadtzentrum abreißen und dort ein Einkaufzentrum bauen. Das verursachte zunächst eine unauffällige Protestaktion: Umweltaktivist:innen schlugen im Park auf. In den ersten Tagen sah die Aktion eher aus wie ein kreativer Protest der Grünen in den 80er Jahren in Deutschland. Am 26. Mai 2013 hatte ein Istanbuler Genosse die Situation beobachtet und mir geschrieben: „Es geht um buchstäblich drei Bäume im Park. Ein paar Hippies sitzen dort und spielen Gitarre. Es wird nichts daraus.“ Nach acht Stunden waren Tausende Menschen in diesem Park. In den kommenden Tagen waren es Millionen in mehreren Städten. Und der Genosse hat später geschrieben, dass es die größte Fehleinschätzung seines Lebens war.
Der Juni-Aufstand vor zwölf Jahren entwickelte sich zu einem landesweiten Massenprotest von Millionen Menschen und dauerte über 6 Wochen. Es wurden Stadtzentren in mehreren Städten erobert, alternative Strukturen sowie lokale Gremien, Foren und Parlamente gegründet. Es gab aber ein großes Problem: Keiner wusste, wie es weitergehen sollte. Es gab kein Programm, keine Organisation. Man wollte einfach, dass, die Bäume im Gezi-Park bleiben und die sind geblieben.
Kurioserweise waren 80 % der Protestierenden nie im Gezi Park. Sie lebten nicht mal in Istanbul. Und keiner war in der Lage so eine spontane Massenbewegung zu führen. Eines Tages hat es plötzlich angefangen und eines anderen Tages ist es spurlos abgeklungen. Bei den jetzigen Protesten sehen wir sehr ähnliche Szenen wie vor zwölf Jahren. Wie lange die jetzige Protestbewegung dauert, und ob irgendetwas aus dieser Bewegung bleiben wird, werden wir sehen.
Einen Unterschied müssen wir aber feststellen: Die Menschen, die heute auf der Straße sind, verfolgen ein konkreteres Ziel als damals. Sie wollen Ekrem Imamoğlu aus dem Knast frei bekommen, auch wenn sie nicht viel von ihm halten. Die Menschen wollen eine Diktatur verhindern.
Laut ARD ist Imamoğlu „der aussichtreichste Kandidat gegen Erdoğan”. Das stimmt. Kein anderer Kandidat ist in der Lage, ein so ein breites Spektrum hinter sich zu sammeln. Er kann sowohl in nationalistischen Städten als auch in Kurdistan Menschen begeistern.
Wer ist er und was macht er anderes als Erdoğan? Erdoğan und Imamoğlu sind wie Yin und Yang zwar gegensätzliche aber sich ergänzende Teile einer Einheit. Beide pflegen enge Beziehungen zur Bauindustrie, Imamoğlu sogar mehr als Erdoğan, weil seine Familie dazu gehört. Sogar die Firmen, die sie bei der Auftragsvergabe (zum Beispiel beim U-Bahn-Bau) bevorzugen, sind die gleichen.
Es sind wirklich Teile des gleichen Bildes, doch mit einigen Unterschieden. Erdoğan kommt von einer extrem armen Familie an der Schwarzmeer-Küste. Imamoğlu kommt ebenfalls auch aus diesem Gebiet, aber als Sohn eines Bauunternehmers. Erdoğan hat ein Prediger-Gymnasium besucht, das die Kinder der ärmeren Familien frequentieren. Eine universitäre Bildung kann er nicht nachweisen und deshalb ist eigentlich seine Präsidentschaft illegal. Ob er die Predigerschule erfolgreich beendet hat, weiß niemand. Bekannt ist allerdings, dass er beim Koranunterricht durchgefallen ist. Imamoğlu war auch ein schlechter Schüler. Er hat keinen Hochschulzugang in der Türkei geschafft und hat in Nordzypern an der privaten Amerikanischen Universität studiert, um später zur Istanbuler Universität zu wechseln. Das Studium an der Istanbuler Universität hat er aber erfolgreich abgeschlossen. Beider Familienverhältnisse stehen symbolisch für die unterschiedlichen Lebensweisen in der Türkei.
Erdoğans Frau trägt von Kopf bis Fuß streng islamische Bekleidung und geht einen Schritt hinter ihrem Mann. Imamoğlu spielt vor den Kameras Tennis mit seiner leicht bekleideten Ehefrau. Beide Männer waren in ihren Jugendjahren talentierte Fußballspieler. Beide haben halb-professionell Fußball gespielt, mit einem kleinen Unterschied: Erdoğan war Stürmer, Imamoğlu Torwart.
Stürmer und Torwart trafen bis jetzt viermal in unterschiedlichen Wahlen indirekt aufeinander und jedes Mal hat der Torwart mit Abstand gewonnen. Das ist ein „Zusammenstoß der Kulturen“ in einem Mikrokosmos. Welche davon eine größere Basis hat, werden wir sehen. Die Umfragen zeigen, dass 73 % der Bevölkerung die Proteste für richtig halten.
Die Proteste haben auf jeden Fall größere Chancen als vor 12 Jahren. Es gibt eine konkrete Forderung und eine zentrale Organisation, auch wenn diese Organisation nicht optimal besetzt ist. Es gibt aber immer noch große Hindernisse. Die Türkei ist ein wirtschaftlich abhängiges Land. EU und USA haben große Möglichkeiten, in diesem Land Politik zu gestalten. Die Türkei hat unverzichtbare Beziehungen zu Russland. Das macht den großen Nachbarn ebenfalls zu einem Akteur, den man berücksichtigen muss.
Wenn wir diese Akteure kurz zusammenfassen: USA und Trump finden Erdoğan viel angenehmer als einen sozialdemokratischen Präsidenten, den sie nicht einmal kennen. Weder Trump noch Rubio haben ein Problem, ihre Sympathie mit Erdoğan zu äußern. Zum Beispiel hat die US-Regierung eine bitterböse Erklärung zum Gerichtbeschluss zu Marine Le Pen abgegeben und hat kein einziges Wort über die Verhaftung von Oppositionellen in der Türkei verloren.
Die EU braucht die Türkei, um die Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten. Hinzu kommt die Idee, eine europäische Armee aufzubauen. Man spricht immer öfter über die Möglichkeit der Bildung von kostengünstigen, aber schlagkräftigen türkischen Divisionen. Deshalb ist Europa eher ein Bündnispartner von Erdoğan als von der Opposition.
Russland möchte keine radikale Änderung beim südlichen Nachbarn am Schwarzen Meer, erst recht nicht mitten im Krieg. Kurz gesagt: Im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung im Land möchte keine dieser Mächte einen Regierungswechsel in der Türkei.
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Die Demonstrationen werden ihre Spuren hinterlassen. Genauso wie der Gezi-Aufstand oder die Generalstreiks und antifaschistischen Kämpfe der 1970er Jahre werden sie im kollektiven Gedächtnis als eine Erfahrung bleiben. Sie werden auch Erdoğan und die AKP schwächen. Aber für eine kurzfristige Freilassung von Imamoğlu oder für einen Sturz der Regierung muss man nicht nur die eigene Regierung, sondern auch die drei großen ausländischen Mächte besiegen. Ich glaube nicht, dass die Kraft und Motivation der Opposition in der Türkei dazu reichen werden. Ich hoffe, ich irre mich.
Hier müssen wir noch einen Punkt oder einen Hilferuf erwähnen. Die erste Welle der Proteste hat sieben Nächte gedauert. In dieser Zeit hat die türkische Polizei eine bespiellose Gewaltorgie ausgeübt. „Polizisten“, teilweise ohne Helmnummer, haben insbesondere junge Menschen brutal geschlagen. Viele bekannte linke Politiker wurden in den folgenden Tagen festgenommen. Man hat besonders die Student:innen – aus Platzmangel – in Sammelräumen untergebracht, zusammen mit „normalen Kriminellen“, die von Mord bis Vergewaltigung im Knast sind. Rund 300 Junge Studierende, die zwischen 2004 und 2007 geboren wurden, mussten Nächte gemeinsam mit gefährlichen Kriminellen verbringen. Man hat von Folter und sexuellen Übergriffen berichtet. Eine Rechtsanwältin konnte ihre Tränen nicht stoppen, als sie ihre Beobachtungen erzählt hatten.
Russland und die USA lassen wir beiseite. Aber wenigstens die sogenannten „demokratischen“ europäischen Politiker:innen müssten eigentlich zugeben, dass man weder im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsstrom noch wegen einer möglichen Bereitstellung „billiger“ Soldaten die Zusammenarbeit mit einer solchen Regierung rechtfertigen kann. Diese Regierungen werden vor der Geschichte Verantwortung tragen, unabhängig davon, ob der Flüchtlingsdeal oder die „billigen“ Soldaten aus der Türkei zu teuer werden.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2025 (Mai/Juni 2025). | Startseite | Impressum | Datenschutz