Vierte Internationale
Ukraine-Resolution
Vom 23. bis 28. Februar hat der 18. Weltkongress der Vierten Internationale in Belgien stattgefunden. Die sehr breit geführten Diskussionen befassten sich mit der internationalen Lage in all ihren Aspekten, von der strukturellen Mehrfachkrise in ihren ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen über die Widerstandsbewegungen bis hin zu der Notwendigkeit, unsere eigene Internationale aufzubauen und zu stärken. Ein besonderer Punkt der Debatte war die Frage, wie wir als internationalistische revolutionäre Marxist:innen unsere Opposition gegen die russische Invasion in der Ukraine und unsere Solidarität mit dem Widerstand des ukrainischen Volkes gegen diese Invasion, die neoliberale Politik der Regierung Selenskyj und die neoliberale Militarisierung zum Ausdruck bringen …
Wir veröffentlichen hier die von der Mehrheit des ausgehenden Internationalen Komitees vorgelegte Resolution, die von dem Kongress mit 95 Ja-Stimmen, 23 Nein-Stimmen, 3 Enthaltungen und 5 Nichtteilnahmen angenommen wurde, und die von einer Reihe von Delegationen eingebrachte alternative Resolution, die mit 31 Ja-Stimmen, 80 Nein-Stimmen und 9 Enthaltungen abgelehnt wurde.
18. Weltkongress – 2025
Im Februar 2022 startete Putin eine groß angelegte Invasion in der Ukraine, um das Land in einen russischen Satelliten zu verwandeln. Dieser Angriff hat jetzt Hunderttausende von Toten und Verwundeten gefordert. Doch das Regime in Moskau ist seit langem von einer expansionistischen großrussischen imperialistischen Ideologie geprägt, die davon ausgeht, dass Supermächte das Recht haben, ihre Einflusszone mit allen Mitteln zu erweitern, etablierte Normen des Völkerrechts in Frage zu stellen und eine neue Ära imperialistischer Umverteilung zu legitimieren. Die täglich steigenden menschlichen Kosten dieser Aggression sind für den Kreml kein Grund, sie einzustellen, eine weitere Intensivierung ist notwendig, um das ukrainische Volk zu terrorisieren und es zu zwingen, sich zu unterwerfen.
Was als „militärische Spezialoperation“ gedacht war, um die Regierung in Kiew innerhalb weniger Tage zu stürzen, hat sich zu einer dreijährigen Verstrickung in einen umfassenden Krieg entwickelt. Diese Entwicklung kam nicht nur für Putin, sondern auch für die westlichen Mächte unerwartet – Biden hat Selenskyj sogar angeboten, ihm bei der Ausschleusung aus dem Land behilflich zu sein. Gerade die Entschlossenheit und Nachhaltigkeit des ukrainischen Widerstands hat Putins Pläne bis heute vereitelt.
Die Invasion der Ukraine war nicht nur ein Versuch, die Rolle Russlands im kapitalistischen Wettbewerb wieder zur Geltung zu bringen, sondern auch ein bewusster Versuch, die Kontrolle über die russische Gesellschaft zu verstärken und jeglichen Widerspruch zu unterdrücken. Antikriegsaktivist:innen wurden aufgrund erfundener Anschuldigungen strafrechtlich verfolgt und zu langen Haftstrafen verurteilt. Sozialistische Organisationen, wie die unserer Genoss:innen der Russischen Sozialistischen Bewegung, wurden gezwungen sich aufzulösen, und ihre Mitglieder mussten fliehen. Feministinnen mobilisieren zwar weiterhin, aber sie stehen unter ständigem Druck und müssen mit Haftstrafen rechnen, wenn sie auch nur das Wort „Krieg“ in den Mund nehmen.
Als Internationalist:innen verteidigen wir das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung und ihr Recht, sich gegen die Invasion zu wehren. Volksbewegungen sind ein wesentlicher Bestandteil dieses Widerstands und führen einen Kampf an zwei Fronten: gegen die Besatzer und gegen die Regierung Selenskyj. In diesem ungleichen Kampf stehen wir zusammen mit anderen progressiven Kräften im Land. Wir fordern alle internationalistischen Linken auf, politische und materielle Solidarität mit Gewerkschafter:innen, Feministinnen und Aktivist:innen von sozialen und demokratischen Organisationen in der Ukraine zu entwickeln. So wie es die Vierte Internationale seit Beginn der Aggression im Rahmen des „Europäischen Netzwerks für Solidarität mit der Ukraine“ (ENSU/RESU) und gemeinsam mit der ukrainischen linken Organisation Sozialnyj Ruch tut.
Wir betonen einmal mehr, dass wir in Bezug auf den Charakter des ukrainischen Regimes keinerlei Illusionen hegen. Die ukrainische Regierung ist rechtsgerichtet und neoliberal und schreckt nicht davor zurück, Angst zu schüren, um an der Macht zu bleiben. Sie ist ebenso sehr darauf bedacht, die einheimischen Kapitalisten zufrieden zu stellen, wie die Westmächte davon zu überzeugen, dass sie in der Lage ist, sich ihren Forderungen anzupassen. Ihre unsoziale und antidemokratische Politik ist für die Verteidigung der Ukraine kontraproduktiv, denn sie steht im Widerspruch zu den Bedürfnissen der Arbeiterklasse, provoziert deren Unmut, untergräbt das gesellschaftliche Vertrauen, und als Folge davon ist die Regierung auf zunehmend autoritäre Maßnahmen angewiesen. Umso wichtiger ist es, sich auf die Seite der ukrainischen Lohnabhängigen und ihrer Organisationen zu stellen. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen, wenn sie dringend Solidarität brauchen, insbesondere weil unsere Vision von Emanzipation die eines Kampfes von unten ist, bei dem das Volk aufsteht und unabhängig von Regierung und Großmächten kämpft.
Russlands Angriff auf die Ukraine ist Teil der globalen Krise des Kapitalismus, der zunehmenden interimperialistischen Spannungen und des Aufstiegs der extremen Rechten und des Militarismus. Das russische Regime hat in der Ukraine, in Armenien, in Georgien und in Kasachstan interveniert, das reaktionäre Regime von Baschar al-Assad unterstützt und sein Engagement in Afrika verstärkt. Die Vereinigten Staaten operieren in Südamerika, im asiatisch-pazifischen Raum, in Europa und in Afrika, rüsten Israel permanent auf und unterstützen all seine Aggressionen. Frankreich versucht, sich in Afrika zu behaupten, und unterdrückt die Unabhängigkeitskämpfer:innen in Kanaky. Ganz zu schweigen davon, wie Putins Angriffskrieg die NATO, die zuvor für „hirntot“ erklärt worden war, wiederbelebt und es den westlichen Großmächten ermöglicht hat, sie zu stärken und zu erweitern.
Die westlichen Regierungen geben unter Verweis auf die russische Invasion vor, sie seien nicht in der Lage, diejenigen zu unterstützen, die von Inflation und steigenden Energiekosten betroffen sind, und untergraben damit stillschweigend die Solidarität, an die sie appellieren. Unterdessen nehmen rechte Kräfte ukrainische Flüchtlinge zunehmend ins Visier oder spielen sie gegen andere Migrant:innen aus.
Zugegebenermaßen beruht die Unterstützung, die die USA und westliche Regierungen der Ukraine gewähren, nicht auf einer antikolonialen Perspektive, denn sie lassen insbesondere den israelischen Kolonialismus ungehemmt gewähren. Die westlichen imperialistischen Mächte nutzen den Krieg, um zu versuchen, ihren russischen Rivalen zu schwächen, während sie gleichzeitig die Hilfsbedürftigkeit der Ukraine ausnutzen, um das Land selbst in den Würgegriff zu nehmen. Dies ist jedoch kein Grund, dem ukrainischen Volk, das in seiner Stunde der Not alle notwendigen Mittel verdient, um sich zu verteidigen, diese Mittel zu verweigern oder dass wir uns dieser Hilfe in den Weg stellen.
Es ist jetzt an der Linken, sich zu mobilisieren und zu fordern, dass die Unterstützung für das ukrainische Volk bedingungslos gewährt wird, statt sie an die Umsetzung und Vertiefung neoliberaler Maßnahmen zu knüpfen. Deshalb fordern wir sofortigen und vollständigen Erlass der ukrainischen Schulden, Einhaltung des Arbeitsrechts, Erhalt der öffentlichen Dienste, Enteignung der Großkapitalisten und Kampf gegen die Korruption, um dem ukrainischen Volk zu helfen und sich der imperialistischen Macht zu widersetzen.
Die weltweit gestiegenen Rüstungsausgaben zeigen, dass wir uns mehr denn je gegen die unsinnigen Programme der gegenseitigen strategischen Aufrüstung, insbesondere im nuklearen Bereich, gegen den Waffenhandel, der sehr oft mit Diktaturen betrieben wird, und für eine demokratische Kontrolle (die Verstaatlichung) der Rüstungsindustrie einsetzen müssen – während wir gleichzeitig das Recht der kolonisierten Völker unterstützen, sich zu verteidigen, auch mit Waffen.
Zurzeit startet Russland neue Angriffe. Die Zerstörung ganzer Städte, von Infrastrukturen und Ökosysteme dient dazu, den Einfluss des großrussischen Imperialismus durchzusetzen, ebenso wie die Entführung und Verschleppung von Kindern, die Zerstörung der ukrainischen Kultur und die Unterdrückung der Freiheiten in den besetzten Gebieten. Putin verbirgt seine Forderungen nach Bestrafung der Ukraine für ihre Sturheit keineswegs: Anerkennung der illegalen Gebietserwerbungen, Ablösung der „illegitimen und faschistischen“ Regierung Selenskyj, drastische Reduzierung der ukrainischen Streitkräfte, keine Mitgliedschaft in der NATO.
Es ist klar, dass ein Teil der extremen Rechten im Westen eine Vereinbarung mit Putin vorziehen würde, die ihre gemeinsame ultrareaktionäre Agenda stärken und die Ukraine machtlos und geteilt zurücklassen würde, reduziert auf eine Neokolonie Russlands. Die chinesische Regierung unterstützt den Kreml konkret und präsentiert Forderungen nach einer Kapitulation der Ukraine als Verhandlungsvorschläge. Auch ein Teil der herrschenden Klassen Europas und der USA könnte irgendwann einen Frieden verlockend finden, der Putin eine gewisse Genugtuung verschaffen, aber auch die Handelsbeziehungen zu Russland und China wiederherstellen würde.
Für Trump sind die Ukrainer:innen nun verantwortlich für den Krieg. Seine räuberische, merkantilistische Haltung, die eine „Rückzahlung“ für die bisherige Hilfe für die Ukraine durch die Beschlagnahme von 50 Prozent der Bodenschätze und Seltenen Erden und künftige weitere Vorrechte fordert, ist ein besonders brutales und abscheuliches Beispiel für diese Logik.
Teile der selbsternannten Anti-Kriegs-Linken stimmen dem zu und sind bereit, die Ukraine dauerhaft dem russischen Regime auszuliefern, sei es aus einer Haltung des Anti-US-Blockdenkens oder des Pazifismus. Wir denken, dass jeder „Frieden“, der auf solchen Bedingungen beruht und dem ukrainischen Volk gegen seinen Willen aufgezwungen wird, nur der Auftakt zu mehr Besatzung und mehr Gewalt in der Zukunft sein wird. Es ist an der Zeit, dass die Linke ihre eigene Sicherheitsstrategie auf der Grundlage der Beteiligung der Bevölkerung und demokratischer Kontrolle entwickelt. Dies ist angesichts interimperialistischer „Deals“ zwischen Trump und Putin wichtiger denn je.
Die einzige dauerhafte Lösung für diesen Krieg kann erreicht werden durch:
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Nichtanerkennung der Annexionen und vollständigen Abzug der russischen Truppen;
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Unterwerfung aller Verhandlungen und Vereinbarungen unter die demokratische Kontrolle durch die Bevölkerung;
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Garantie der Fähigkeit der die Ukraine, sich gegen künftige imperialistische Übergriffe zu verteidigen.
Ein dauerhafter Frieden ist nur möglich, wenn er auf folgenden Grundlagen beruht:
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dem Recht des ukrainischen Volks und seiner Minderheiten, ihre Zukunft frei zu bestimmen und ihre Kulturen unabhängig von äußerem Druck, den Interessen der Oligarchen, herrschenden neoliberalen Regimes oder rechtsextremen Ideologien zu entwickeln;
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auf der Achtung der politischen, sozialen und Arbeitsrechte einschließlich des Streikrechts, des Rechts auf friedliche Versammlung und des Rechts auf freie Wahlen;
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auf dem Recht aller Flüchtlinge und Kriegsvertriebenen, in ihre Heimat zurückzukehren oder sich in den Ländern niederzulassen, in denen sie derzeit leben;
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auf der Abschaffung der Diktatur von Putin und der Freilassung aller politischen Häftlinge und Kriegsgefangenen.
Wir sehen unseren Kampf gegen den Krieg in der Ukraine und für die Niederlage von Russland als Teil eines Kampfes gegen Militarismus und Imperialismus. Der Kampf gegen den Krieg und für internationale Solidarität erfordert:
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die Auflösung aller Militärblöcke, von NATO, OVKS und AUKUS;
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den Aufbau eines Systems internationaler Beziehungen, das auf der Gleichheit aller Nationen, der Kontrolle von unten, offener Diplomatie und der Verurteilung aller Formen imperialistischer und nationalistischer Aggression beruht;
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die Streichung der ukrainischen Schulden;
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die Einrichtung eines Fonds für Wiederaufbau, Verteidigung und die Verbesserung der Lebensbedingungen unter der Kontrolle der ukrainischen Bürger:innen, der durch Sondersteuern auf die Gewinne westlicher Kapitalist:innen, die mit ihren russischen Kolleg:innen Geschäfte gemacht haben, und auf die Gewinne von Rüstungsunternehmen und anderen Kriegsprofiteuren sowie durch die Enteignung des Vermögens der russischen und ukrainischen Oligarchen finanziert wird.
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 2/2025 (März/April 2025) (nur online).
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