Palästina

Tote können nicht berichten

Der folgende Artikel nimmt u. a. Bezug auf das englischsprachige Programm von Al Jazeera, für das Journalisten aus unterschiedlicher politischer Richtung und aus verschiedenen Ländern arbeiten und das sich von dem strikt islamisch ausgerichteten arabischsprachigen Schwestersender unterscheidet.

Giorgos Mitralias

Kein Verbrecher will Zeugen für seine Verbrechen und Israel natürlich auch nicht. Deshalb unternimmt es alles, um seine Verbrechen in Gaza und in den besetzten Gebieten fernab des Rampenlichts begehen zu können, wobei verschiedene Methoden zur Anwendung kommen:

 

Gaza Stadt

Schäden im Stadtviertel El-Remal, 10.10.2023 (Foto: Wafa)

Aber das ist noch nicht alles. Seit einigen Wochen erleben wir weltweit eine neue Form der Medienmanipulation durch Israel und seine internationalen Komplizen: das Blackout, das totale journalistische Schweigen über die „Aktionen“ der israelischen Armee gegen die palästinensische Bevölkerung. Der Grund dafür ist offensichtlich: So groß ist das Ausmaß ihrer Verbrechen, so groß ist der Schock und die Abscheu, die sie fast überall hervorrufen, so unwirksam sind mittlerweile ihre „Argumente“ und Propaganda, dass Israel und seine Unterstützer in der ganzen Welt es offenbar bevorzugen, ihren Krieg „vergessen“ zu machen und nicht mehr täglich darüber zu berichten! So kommt es, dass beispielsweise Medien, die zwei Monate lang ihre Titelseiten dem Blutbad in Gaza gewidmet haben, plötzlich und wie von Zauberhand kein Wort mehr darüber verlieren oder das Thema nur noch kurz und unter ferner liefen behandeln und die Massaker in Gaza systematisch durch Boulevardberichte ersetzen.

Die Auswirkungen dieses Medien-Blackouts sind bereits spürbar: Der Krieg und damit die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Israel begeht, sind nun Teil der täglichen Routine oder geraten zunehmend in Vergessenheit. Dies ist zweifellos die größte, gefährlichste und alptraumhafteste „Leistung“ Netanjahus und seiner Henker, denn sie gewöhnen uns „an eine Welt, die immer mehr einem Dschungel gleicht, in der nur das Recht des Stärkeren herrscht und in der die schlimmsten Gräueltaten gegen die Schwächsten ‚erlaubt‘ sind!“

Das alles passiert, ohne dass sich jemand darum schert und ohne die geringste Reaktion der Mediengewerkschaften in unseren Ländern. Sie scheint es nicht sonderlich umzutreiben, dass nicht nur ein oder zwei, sondern 110 (bis Anfang Januar) ihrer Kolleg*innen hauptsächlich in Gaza und den besetzten Gebieten von der israelischen Armee und israelischen Siedlern in nur drei Monaten getötet oder vielmehr ermordet wurden, was bei weitem das größte Massaker an Journalisten in der Geschichte der Menschheit ist! Worauf warten sie eigentlich noch, um auf die Straße zu gehen und zu streiken, in Solidarität und Unterstützung für ihre palästinensischen Kolleg*innen, die in der Hölle von Gaza leben und sterben und verzweifelt um derlei Unterstützung und Solidarität bitten?

Der stellvertretende Generalsekretär der Internationalen Journalistenföderation (IJF) Tim Dawson hatte bereits vor drei Wochen erklärt: „Ich glaube nicht, dass jemals so viele Journalisten in irgendeinem Konflikt getötet wurden. Zu Beginn des Konflikts gab es etwa 1000 Journalisten in Gaza. Auch wenn die genaue Zahl der Toten nicht ganz exakt bestimmbar ist und zwischen 7,5 und 10 Prozent liegt, ist diese Zahl außerordentlich hoch.“. Die Vorsitzende der IJF (weltweit 600 000 Mitglieder), Dominique Pradalié, fügte hinzu: „Auf Kriegsschauplätzen kann es punktuell zu Übergriffen gegen Journalisten kommen. In Gaza jedoch erfolgen sie systematisch“.

Dringliche Aufforderung …

… von Reporter ohne Grenzen (ROG) an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN), seine Resolution 2222 von 2015 zum Schutz von Journalisten umzusetzen:

Der Sicherheitsrat muss dringend Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Israel Journalisten den Schutz gewährt, den ihre Mission erfordert, und Israel auffordern, folgende Maßnahmen umzusetzen:

  • Das Militär nachdrücklich und ausdrücklich anweisen, seine Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht zum Schutz von Journalisten strikt einzuhalten.
  • die Tore des Grenzübergangs Rafah zu öffnen, um einerseits die Einreise internationaler Medien nach Gaza und andererseits die Evakuierung palästinensischer Journalisten, die ausreisen wollen, zu ermöglichen;
  • Schutzzonen („shelter areas“) einrichten, um Journalisten, die aus dem Gazastreifen über den Konflikt berichten, Schutz zu bieten;
  • die Lieferung von Schutzausrüstung und Berufsausrüstung für Journalisten, die ihre Arbeit in und um das Konfliktgebiet fortsetzen, zu erleichtern.
 

Der Vizepräsident der IJF, der Palästinenser Nasser Abu Bakr, verwies darauf, dass Journalisten, die in Gaza und den besetzten Gebieten arbeiten, „regelmäßig mit dem Tod bedroht werden und anonyme oder vom Militär kommende Anrufe und Nachrichten per whatsapp erhalten. Jeden Tag kommuniziere ich mit meinen Kollegen, die noch vor Ort sind, und frage sie, wie es ihnen geht. Sie antworten mir nur eines: Wir sind noch am Leben. Sie rechnen mit ihrem Tod und fragen sich, wer der Nächste sein wird. Aber sie bestehen darauf, ihre Arbeit fortzusetzen. Wenn sie aufhören, wer wird dann die Massenverbrechen und die ethnische Säuberung, die unser Volk erleiden muss, erzählen und dokumentieren? Israel will die Journalisten töten, da sie Zeugen seiner Verbrechen sind.“

Natürlich ist es kein Zufall, dass die meisten der bedrohten, verletzten oder getöteten Journalisten für den Sender Al Jazeera arbeiten, denn genau dieser internationale Fernsehsender ist ständig im Visier Israels, das ihn um jeden Preis zum Schweigen bringen will. Warum ist das so? Doch, weil Al Jazeera der einzige Sender ist, der seine Arbeit richtig macht: Er informiert direkt und in der Regel „live“, berichtet über alle Entwicklungen und Ereignisse im Nahen Osten – und nicht nur im Nahen Osten – und lässt alle Seiten zu Wort kommen, auch die abscheulichsten. Da wir den englischsprachigen Kanal von Al Jazeera in den letzten drei Monaten ununterbrochen verfolgt haben, können wir bestätigen, dass wir dort sowohl Vertreter der Hamas als auch israelische Minister und Generäle, sowohl US-Amerikaner und andere Unterstützer von Netanjahu als auch diejenigen, die die Palästinenser unterstützen, gesehen haben.

      
Mehr dazu
Frieden durch Völkermord? – Dossier, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Interview mit L. S.: Aufbau einer neuen Dynamik des palästinensischen Widerstands, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Emmanuel Dror: Waffenembargo gegen Israel, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Hermann Dierkes: BDS-Bewegung wichtiger denn je, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Friedrich Voßkühler: Über den Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs durch den Staat Israel, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Gilbert Achcar: Israel und die USA – der erste gemeinsame Krieg, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Joseph Daher: Droht ein Flächenbrand?, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Martina Guggenbühl: Berichterstattung, Desinformation, Propaganda und die Rolle der Medien, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Büro der IV. Internationale: Solidarität mit dem palästinensischen Volk – Schluss mit der Besatzung!, die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023) (nur online). Auch bei intersoz.org
 

Mit anderen Worten: Wir haben festgestellt, dass Al Jazeera genau das tut, was die große Mehrheit der Medien, darunter natürlich auch die in unseren „liberalen“ Ländern, verweigert. Was die Verleumdungen betrifft, die traditionell selbst von vielen „Progressiven“ gegen sie in die Welt gesetzt werden, nämlich dass Al Jazeera das Sprachrohr der „Muslimbruderschaft“ oder der Hamas sei, so sind dies ebenso plumpe Lügen wie die Behauptung, Israel bombardiere und töte wahllos nicht palästinensische Zivilisten, sondern „Hamas-Terroristen“. Es wäre auch zumindest paradox, wenn Al Jazeera islamistisch, obskurantistisch und reaktionär wäre, wo es doch jedwede Form von Antisemitismus hart kritisiert und progressive und antirassistische Bewegungen auf der ganzen Welt vorbehaltlos unterstützt und fördert, einschließlich derjenigen von Juden in den USA und anderswo, die täglich demonstrieren und einen sofortigen Waffenstillstand fordern.

Es liegt also an seinen Journalisten, dass Al Jazeera in diesen barbarischen Zeiten, in denen objektive Informationen immer schwerer zu finden sind, so einzigartig und wertvoll ist. Daher rührt und erschüttert uns ihr unglaubliches Leid noch mehr. Es sind nämlich nicht nur inzwischen 110 Journalisten von der israelischen Armee getötet worden, sondern auch Familienmitglieder von ihnen, von den Großeltern bis zu den Enkeln und Babys, ebenfalls ganz vorsätzlich! Besonders tragisch ist, neben vielen anderen, der Fall des Chefreporters von Al Jazeera in Gaza, Wael Al-Dahdouh, der bei drei aufeinanderfolgenden israelischen Bombenangriffen seine Frau, seine Tochter, seinen jüngsten Sohn und sein Enkelkind sowie acht weitere Familienangehörige verloren hat.

Außerdem ist sein Kameramann verblutet, weil die israelischen Soldaten den Krankenwagen nicht zu ihm durchließen – obwohl er selbst verletzt war –, und schließlich sein ältester Sohn, der ebenfalls Journalist war! Wir brauchen nicht zu sagen, dass es keine Worte für die Gefühle eines Zuschauers gibt, wenn er sieht, wie jemand – und das ist mehrmals passiert – einen Al-Jazeera-Reporter unterbricht, während er live aus den Trümmern der unzähligen israelischen Bombenangriffe berichtet, und ihm ins Ohr flüstert, dass gerade Familienmitglieder getötet worden seien. Und dabei noch sieht, wie der Reporter versteinert und blass wird und Tränen in den Augen hat … während er weiter berichtet und über den Tod anderer spricht!

Es sind also diese Journalisten, die die Ehre des internationalen Journalismus retten, denen die Journalistengewerkschaften in unseren Ländern dringend und mit Taten ihre Solidarität zeigen müssen, nicht nur, weil sie ihnen zu Dank verpflichtet sind, sondern auch, weil die Gesundheit und gar das Leben dieser unerschrockenen Journalisten von unserer Unterstützung abhängt. Doch nicht nur unsere Journalistengewerkschaften, sondern die gesamte fortschrittliche Opposition und die Linken müssen ihre Existenzberechtigung unter Beweis stellen, indem sie das gemarterte palästinensische Volk nicht nur mit Worten, sondern mit Taten unterstützen. Etwa durch ihre aktive Unterstützung für die südafrikanische Völkermordklage gegen Israel am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Und zwar indem sie auf die Straße gehen und in den Parlamenten Druck auf ihre Regierungen ausüben, sich der Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof anzuschließen oder sie zumindest zu unterstützen. Hic Rhodus, hic salta …

Aus: essf vom 12. Januar 2024
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz