Palästina

Berichterstattung, Desinformation, Propaganda und die Rolle der Medien

Wer nach dem 7. Oktober versuchte, die Taten der palästinensischen Milizen zu kontextualisieren, war rasch mit dem Vorwurf konfrontiert, diese zu verharmlosen.

Martina Guggenbühl

Das Argument der Kritiker*innen: Es gibt keine Erklärung für die verübte Gewalt. Wer auch nur versuche, die Frage nach dem Warum für diese Taten zu stellen, legitimiere das Vorgehen. So geschah es der Philosophin Judith Butler, die die Gewalt nicht rechtfertigte, aber forderte, sie historisch einzuordnen. Dafür wird sie massiv angefeindet.

 

Gaza 2023

Foto: Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages

Eine Kontextualisierung des historischen Hintergrunds und der rechtlichen und sozialen Lebenssituation der Menschen vor Ort bedeutet nicht eine Billigung der Taten. Vielmehr geht es um die Einordnung und Beurteilung der Ereignisse. So wie bei jeder Straftat die Frage nach dem Warum gestellt werden muss.

Der Diskurs zu Israel/Palästina ist jedoch seit jeher beschränkt, der geschichtliche Hintergrund ist weitgehend ausgeblendet. Charakterisierungen wie Apartheid, Siedlungskolonialismus und Freiluftgefängnis werden mit dem Vorwurf des Antisemitismus delegitimiert. Fast jede Erzählung über Gewalt beginnt mit einem Anschlag von palästinensischer Seite. Die strukturelle Unterdrückung der Palästinenser*innen auf allen Ebenen wird nicht benannt und das Recht auf Widerstand gegen Besatzung, Vertreibung und andre Menschenrechtsverletzungen nicht anerkannt.

Bei den tödlichen Angriffen der palästinensischen Kämpfer wird die Unmenschlichkeit unterstrichen. Werden jedoch in Gaza Zivilpersonen zu Tausenden ermordet, so behandeln sie die Medien als unvermeidbare Kollateralschäden einer Militäroperation, deren Legitimität nicht infrage gestellt wird.

Genau dieser parteiische Diskurs bringt uns nicht weiter. Judith Butler begründet die Forderung nach Kontextualisierung wie folgt: „Wenn wir wissen wollen, was die Gewalt in der Region reproduziert, um der Gewalt endgültig Einhalt zu gebieten, dann müssen wir mit den Historikern zusammenarbeiten, um die selbsternannte Kolonisierung dieser Länder durch die politischen Zionisten, die Bedingungen, unter denen der Staat Israel gegründet wurde, und die Geschichte der Enteignung, Entrechtung, Inhaftierung, Belagerung und Bombardierung zu verstehen. Wenn wir Frieden für die Region und eine Zukunft anstreben, in der alle Bewohner des Landes unter Bedingungen der Gleichheit und Freiheit leben, dann müssen wir gemeinsam neu darüber nachdenken, wie sich Staatsgebilde im Laufe der Zeit verändern können und sollten.“


Desinformation, Propaganda


Um einen verfälschten Diskurs aufrecht zu erhalten, werden Informationsquellen unterschiedlich gewichtet oder absichtlich gefälscht. Der überwiegende Teil der Informationen, die hiesige Medienkonsument*innen erreichen, hat seinen Ursprung in der israelischen Armee und anderen israelischen Behörden. Oft stellen sich Behauptungen später als Unwahrheiten oder bewusste Ungenauigkeiten heraus.

Trotzdem werden israelische Staatsorgane oft unkritisch als Quellen benutzt. Die Angaben der Gesundheitsbehörden aus dem Gazastreifen über die Anzahl der Todesopfer werden dagegen mit der Ergänzung diskreditiert, sie ließen sich „nicht unabhängig überprüfen“, obwohl sie sich in der Vergangenheit als relativ verlässlich bestätigt haben. Forderungen nach unabhängiger Berichterstattung werden von israelischer Seite zurückgewiesen, ausländischen Journalist*innen wird der Zugang zum Gazastreifen verwehrt und Medienschaffende vor Ort werden gezielt angegriffen, über 100 von ihnen wurden gemäß dem Palestine Journalist Syndicate in den letzten drei Monaten getötet. Um die Deutungshoheit zu behalten, pocht Israel mit Erfolg auf Sprachregelungen, die es bereits 2009 in einem eigenen Glossar definiert hat. Die palästinensische Seite soll gezielt entmenschlicht und legitimer Widerstand kriminalisiert werden.

Festival bei Reʿim

Zurückgelassene PKW der Gäste, 12.10.2023 (Foto: Kobi Gideon)

 

Beispielhaft für die Dehumanisierung der Palästinenser*innen ist die mantraartige Betonung der besonders fürchterlichen Grausamkeiten der bewaffneten Angreifer aus dem Gazastreifen, die das Ziel verfolgt hätten, möglichst viele unschuldige Zivilist*innen möglichst brutal zu ermorden. Auch die Betonung, es handle sich um den schlimmsten Gewaltakt gegen Jüd*innen seit dem Holocaust Als Beleg dafür wurde unter anderem ausgewählten Journalist*innen auch in der Schweiz Filmmaterial vorgelegt, ohne dass sie die Möglichkeit erhielten, das Material zu überprüfen, wie sonst üblich. Doch die Authentizität und insbesondere die Aussagekraft der Bilder sind zum Teil umstritten. Offenbar reicht es nicht, von Hamas und andren Milizen tatsächlich begangene Völker- und Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen, wie dies seriöse Menschenrechtsorganisationen tun. Den Kämpfern werden auch Taten unterstellt, die sie nicht begangen haben (geköpfte Babys) oder für die die israelische Armee verantwortlich ist (Beschuss von Häusern im Kibbutz Be’eri und Fahrzeugen am Nova-Festival), wie Recherchen von Mondoweiss, Electronic Intifada, Grayzone bzw. Journalisten wie Ali Abuminah, Max Blumenthal und Asa Wistanley zeigen. Gravierend ist auch der von regierungsnahen Kreisen orchestrierte Vorwurf systematischer sexualisierter Gewalt, der von unzähligen westlichen Medien ungeprüft übernommen wurde und in Wikipedia Eingang findet, obwohl sich die bis dorthin vorgelegten Belege als wenig belastbar herausstellten. Dass es sexualisierte Gewalt gegeben hat, kann nicht ausgeschlossen werden und ist dort, wo sie stattgefunden hat, klar zu verurteilen. Perfid und gegenüber tatsächlichen Opfern zynisch ist aber die Strategie regierungsnaher israelischer Juristinnen, feministischen Organisationen weltweit gestützt auf manipulierte Belege und Spekulationen vorzuwerfen, sie ignorierten sexualisierte Gewalt absichtlich, weil die Opfer jüdisch seien.

Gerade in der Frage der sexualisierten Gewalt wie in der Aufarbeitung der Ereignisse vom 7. Oktober insgesamt ist daher eine quellenkritische Berichterstattung und die Erleichterung unabhängiger Untersuchungen umso wichtiger. Israel ist daran nur begrenzt interessiert. Anstatt die verbrannten Autos vom Festival auszuwerten, sollen diese beispielsweise unter einem religiösen Vorwand geschreddert und begraben werden.

Ein weiteres Element der israelischen Propaganda und Desinformation sind die wiederholten Behauptungen, die Hamas missbrauche Spitäler und andre laut Völkerrecht unter besonderem Schutz stehende Infrastrukturen und die eigene Bevölkerung als Schutzschild, während Israel zivile Opfer u. a. durch Warnungen zu verhindern versuche. Wie sehr die israelische Armee dabei mit Manipulationen arbeitet, dokumentieren immer wieder Medien wie Al Jazeera (am Beispiel des Al-Shifa-Spitals) oder die in London basierte Initiative Forensic Architecture, die nach detaillierten Auswertungen vorhandenen Bildmaterials zum Schluss kommt: „Unsere Analyse deutet darauf hin, dass die Krankenhäuser im Gazastreifen im Rahmen der laufenden Invasion einem systematischen Muster von Einschüchterung und Gewalt durch das israelische Militär ausgesetzt sind.“


Die Rolle der Medien


Damit dieser Diskurs greifen kann, braucht es Medien, die Israels verfälschte Darstellung und Sprache übernehmen. Die Zeitschrift The Intercept unterzog drei US-amerikanische Zeitungen einer genaueren Analyse und ermittelte eine klar proisraelische Schlagseite. So wurde etwa der Begriff „slaughter“ (Abschlachten) für die Tötung von Israelis im Vergleich zu Palästinenser*innen im Verhältnis von 60 zu 1 verwendet und „Massaker“ im Verhältnis 125 zu 2. Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für das besetzte Palästinensische Gebiet, kommentierte wie folgt: „Nach Monaten, in denen westliche Medien den sich abzeichnenden Völkermord in Gaza und alle Arten von Völkerrechtsverletzungen an Palästinenser*innen falsch dargestellt oder nicht darüber berichtet haben, stellt sich die Frage: Haben Journalist*innen nicht einen Verhaltenskodex und eine Berufsethik, an die sie sich halten und für die sie zur Rechenschaft gezogen werden können?“

      
Mehr dazu
Frieden durch Völkermord? – Dossier, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Giorgos Mitralias: Tote können nicht berichten, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Interview mit L. S.: Aufbau einer neuen Dynamik des palästinensischen Widerstands, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Emmanuel Dror: Waffenembargo gegen Israel, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Hermann Dierkes: BDS-Bewegung wichtiger denn je, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Friedrich Voßkühler: Über den Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs durch den Staat Israel, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Gilbert Achcar: Israel und die USA – der erste gemeinsame Krieg, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
Joseph Daher: Droht ein Flächenbrand?, die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024)
 

Der palästinensische Thinktank Al-Shabaka konstatiert: „Es liegt auf der Hand, dass die Sprache ein wichtiges Instrument für Unterdrückungsregime ist, nicht nur, um die andere Seite zu entmenschlichen, sondern auch, um die Realität auf den Kopf zu stellen. Worte wie ‚Evakuierung‘ und ‚sichere Routen‘ verschleiern die Realität von Massenvertreibung und Todesmärschen. Sie erwecken den Eindruck, dass es sich um eine wohlwollende Macht und nicht um ein völkermordendes Regime handelt. Alles als ‚Hamas-gesteuert‘ zu bezeichnen, gibt grünes Licht für Bombardierungen. So wird eine Schule, ein Krankenhaus oder eine Fabrik zu einem legitimen Ziel und Zivilist*innen werden zu ‚Kollateralschäden‘. Israelische Beamte dehnen die Zugehörigkeit zur Hamas nun auf nahezu die gesamte Infrastruktur in Gaza aus – einschließlich UN-Einrichtungen.“ Diese Sprache Israels findet sich auch in zahlreichen europäischen und Schweizer Medien wieder. Mehr noch, sie tragen aktiv zur Diskreditierung von Friedens- und Menschenrechtsorganisationen, aber auch gewaltfreien Formen des Widerstands wie der BDS-Kampagne und israelkritischen Ansätzen bei. Für betroffene Organisationen und Personen kann dies gravierende Folgen haben. Zwei Beispiele:

Der Direktor des Friedensforschungsinstituts Swisspeace Laurent Goetschel sprach sich öffentlich gegen ein Verbot der Hamas aus und plädierte für eine Einstaatenlösung. Der Friedensforscher mit jüdischen Wurzeln begründete seine Opposition gegen das Verbot der Hamas damit, man müsse mit allen Stakeholdern verhandeln können, um Frieden zu erreichen. Seine Vorstellung von einem Staat knüpfte er an die Bedingung gleicher Rechte für alle Bewohner*innen, um eine friedliche Gesellschaft zu etablieren. Die Basler Zeitung bezeichnete ihn daraufhin als „israelfeindlich“ und der Landrat des Kantons Baselland strich kurzerhand die finanzielle Unterstützung für das Institut – ein klarer „politischer Maulkorb für die Wissenschaft“, wie Goetschel kommentierte.

Im Oktober 2023 strich das Außendepartement (EDA) zudem mehreren palästinensischen Menschenrechtsorganisationen und NGOs die Unterstützung. Andra Studer, die für die Entwicklungszusammenarbeit in der Region zuständige Vizedirektorin der DEZA, wurde von Außenminister Cassis offenbar als Bauernopfer entlassen. Die Streichung der Gelder ordnete Cassis aufgrund von vagen Vorwürfen der Tamedia-Gruppe an, die entsprechenden NGOs hätten den Angriff vom 7. Oktober zu wenig verurteilt. Im Hintergrund hatte auch die zionistische Lobbyorganisation NGO Monitor ihre Finger im Spiel.

Die meisten Medien in der Schweiz tragen, sofern sie nicht eindeutig für Israel Partei ergreifen wie etwa die NZZ, in der einen oder andren Form aktiv dazu bei, den von Israel verfälschten Diskurs als einzig gültigen zu etablieren. Wer dem widerspricht, muss mit Konsequenzen rechnen oder, wie Laurent Goetschel es formuliert: „Wer nicht sagt, was man selber denkt, wird sofort in die Ecke gestellt.“

Quelle: Palästina-Info, Sonderausgabe Gaza Februar 2024



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz