Debatte

Plan und Markt: Antwort auf Alec Nove

Ernest Mandel

Wir müssen Professor Nove dafür dankbar sein, daß er die Debatte auf das Wesentliche beschränkt hat, daß er Abschweifungen und zweitrangige Fragen vermieden hat. Unsere Diskussion betrifft nicht die am besten geeignete Strategie zur Sicherung eines schnellen wirtschaftlichen Wachstums und einer zunehmenden sozialen Gleichheit in relativ wenig entwickelten Ländern. Sie befaßt sich auch nicht mit dem immer schlechteren Funktionieren der in der Sowjetunion und in den anderen osteuropäischen Staaten bürokratisch geleiteten Volkswirtschaften, nicht mit den nächsten Schritten dieser Länder nach vorne oder den unmittelbar zu ergreifenden Maßnahmen, um den Kapitalismus in den industrialisierten Ländern zu überholen, oder gar der Entdeckung eines allgemeinen Gesetzes, das den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus regelt.

Unsere Diskussion befaßt sich mit zwei Fragen: ist es möglich, den Sozialismus, so wie ihn Marx konzipiert hat, d. h. als eine von freien und assoziierten Produzenten geführte Gesellschaft, in der die Warenproduktion (Marktwirtschaft), die sozialen Klassen und der Staat verschwunden sind, zu verwirklichen; ist er als notwendige Voraussetzung für die Befreiung und Entwicklung der meisten Menschen wünschenswert? Meine Antwort auf diese zwei Fragen ist ein kategorisches „Ja“. Professor Nove antwortet auf die erste Frage mit einem kategorischen „Nein“ und mit einem eher zögernden „Nein“ auf die zweite.

Das bedeutet nicht, daß die oben erwähnten Probleme für die Diskussion über das relative Gewicht, das man den Marktmechanismen jetzt sowohl im Osten als auch im Westen beimessen muß, nicht von Belang sind. Es ist durchaus möglich, daß sich die überzeugten Verfechter des „Marxschen Sozialismus“, der als eine Gesellschaft ohne Warenproduktion gedacht ist, zugunsten einer Ausweitung und nicht einer Einschränkung der Marktmechanismen in der nachkapitalistischen Gesellschaft aussprechen, wie es Trotzki zu Beginn der dreißiger Jahre getan hat. Wir werden noch darauf zurückkommen. Aber das ist eine Frage, die sich ganz und gar von der Frage unterscheidet, ob eine Gesellschaft ohne Warenproduktion möglich und wünschenswert ist. Wenn wir nicht zuerst auf diese Frage antworten, d. h. auf das Problem des Endziels der sozialistischen Bestrebungen, werden wir uns in der Lage des Herzogs von Richelieu wiederfinden, der zwar nicht wußte, wohin er zu gehen im Begriff war, der sich aber dennoch entschlossen hatte, dorthin zu gehen.


Marktwirtschaft und Wirtschaftsschwankungen


Professor Nove beginnt mit einer Erklärung über die Lehren aus der sowjetischen Erfahrung. Er schreibt: „Mandel fragt: ist es zulässig, Beweise anzuführen, die aus der sowjetischen Erfahrung abgeleitet sind? Gewiß haben einige spezielle russische oder sowjetische Faktoren – die Rückständigkeit, die ‚schlechte bürokratische Herrschaft‘ – eine Rolle gespielt. Aber es sind Lehren aus den Erfahrungen zu ziehen, die (z. B.) den Grad, das Ausmaß und die Komplexität der Konflikte zwischen den Sonderinteressen und den Allgemeininteressen betreffen, die Indikatoren der Planerfüllung, die Investitionskriterien, die Preise vom theoretischen wie vom praktischen Gesichtspunkt aus, die Arbeitsanreize, die Ungleichgewichte in der Landwirtschaft, der Einfluß der Verbraucherwünsche auf die Pläne und den Produktionsausstoß, die Rolle der regionalen Politik usw. Während die sowjetische Bilanz bei der Behandlung dieser und auch anderer Probleme (einschließlich der Umweltverschmutzung) viel zu wünschen übrig läßt, wäre es absurd, die sowjetische Erfahrung zu ignorieren, weil man sich im voraus entschlossen hat. sie als ‚nichtsozialistisch‘ zu bezeichnen. [1]

Niemand kann behaupten, daß man die sowjetische Erfahrung „ignorieren“ müsse, weil sie offensichtlich nicht sozialistisch ist, d. h. weil die Entwicklung nicht zu einer klassenlosen Gesellschaft geführt hat. [2] Im Gegenteil, man muß sie in der Tat aufs sorgfältigste studieren, sei es auch nur, um sich zu bemühen, die vielfältigen Fallgruben zu vermeiden, in die die schlechte bürokratische Lenkung die sowjetische Wirtschaft und Gesellschaft stürzte.

Unsere Meinungsverschiedenheiten mit Nove zu diesem Thema betreffen besonders die Tatsache, daß die meisten Lehren, die er aus der sowjetischen Erfahrung ziehen will, im Rahmen der relativen Rückständigkeit, der Isolierung und der bürokratischen Führung der Sowjetunion anzusiedeln sind. Das Problem ist, festzustellen, inwieweit sich die Mängel der sowjetischen Wirtschaft aus den „Prinzipien der zentralistischen Planung“ als solche ergeben und in welchem Maße sie vielmehr das Ergebnis der Rückständigkeit und der bürokratischen Gewaltherrschaft sind, die unter reiferen Bedingungen vermieden werden können.

Ein Beispiel: inwieweit sind die berühmten Schlangen das Produkt der angeblich durch irgendwelche Formen der „zentralistischen Planung“ verursachten relativen Knappheit, oder bis zu welchem Grad sind sie vielmehr durch Fehlinvestitionen hervorgerufen, die die Warenverteilung und die Landwirtschaft im Vergleich zur Industrie, besonders zur Schwerindustrie, systematisch benachteiligt haben. Ein solches Mißverhältnis ist wirtschaftlich unrationell. Es ist aber keineswegs die automatische Folge jeder zentralen Planung. Sie ist im Gegenteil der Beweis einer falschen bürokratischen, ungleichgewichtigen, unzusammenhängenden und „planlosen“ Leitung, die zur Verschwendung führt, d. h. einer fehlenden oder unzureichenden Planung. Sie kann in einem System der demokratisch geplanten Arbeiterselbstverwaltung verhindert werden, also einer zentralisierten Planung in industriell fortgeschritteneren Ländern und auf internationaler Ebene.

All das hat nichts zu tun mit einer Weigerung, den konkreten Erfahrungen Rechnung zu tragen und ihnen einen „sozialistischen“ Dogmatismus (der gewiß nicht marxistisch ist!) entgegenzuhalten. Im Gegenteil. Aber um mögliche Verhaltensmuster in einer sozialistischen Welt entwerfen zu können, muß man auch die beachtliche Menge statistischer Daten über das Verhalten von Verbrauchern und Produzenten in den am meisten entwickelten Ländern berücksichtigen und nicht nur die der Sowjetunion im Auge haben. Wir glauben, daß man die Dinge umgekehrt betrachten muß. In der Diskussion über den „realisierbaren“ Sozialismus sind es die Fanatiker der „ewigen“ Überlegenheit der Marktwirtschaft, die einen hartnäckigen Dogmatismus an den Tag legen, indem sie zunehmend unwichtigere Erscheinungen (sei es aus der Vergangenheit oder den rückständigeren Ökonomien) dem entgegenhalten, was in der Wirtschaft der am weitesten fortgeschrittenen Länder im Laufe der letzten vierzig bis fünfzig Jahre geschehen ist. Das hat übrigens einen weiteren Bumerangeffekt für Noves Thesen.

Nach ihm kann „ein ungeregelter Markt Zusammenbrüche großen Ausmaßes und eine große Arbeitslosigkeit hervorrufen, die zwar ruinöse Mittel sind, es aber erlauben, sich über begangene Irrtümer klar zu werden. Ich polemisiere deshalb u.a. mit den Ideologen von Chicago und all jenen, die an der Krankheit der Privatisierung leiden.“ (Von mir hervorgehoben.) Aber warum vergißt Nove die mehr als zweihundert Jahre alten Versuche, die Märkte zu „regeln“, Versuche, die alle die periodischen Krisen und die periodische Massenarbeitslosigkeit nicht verhindern konnten? Warum versteckt er sich hinter der apologetischen Formel, nach der „ein ungeregelter Markt dies und jenes hervorrufen kann usw.“, während wir dieses Phänomen in allen Marktwirtschaften der westlichen Länder gekannt haben, und zwar in mindestens 21 Zyklen seit 1825 und es jetzt zum 22. Mal erleben? Ist es also logisch, Lehren aus 60 Jahren „realer“ Planwirtschaft in der Sowjetunion zu ziehen, und sich zu weigern, Lehren aus 160 Jahren internationaler „realer“ Marktwirtschaft in den westlichen Ländern zu ziehen?


Die Grenzen der „Marktregulierung“


Die Tatsache, daß keine Marktwirtschaft periodische Katastrophen und massive Zusammenbrüche verhindern konnte (Zerstörung und Entwertung von Kapital und Anlagegütern), sowie die massive Arbeitslosigkeit, die periodische Senkung des Lebensstandards und eine wiederholte moralische Verelendung von Millionen von Menschen sind kein Zufall. Sie ergeben sich aus der ureigenen Natur dieses Wirtschaftssystems.

Die Produktion für den Markt ist eine Produktion für unbekannte Verbraucher, von unbekannten Mengen und mit unbekannten Ergebnissen (Verkaufspreis und Profit). Nove ist der Meinung, daß dies nicht die Ursache für die Differenz zwischen einer Zuteilung ex ante (von vornherein geplant, d. Übers.) sämtlicher vorhandener gesellschaftlicher Ressourcen für die anerkannten gesellschaftlichen Bedürfnisse oder deren Befriedigung ex post (im nachhinein über den Markt, d. Übers.) ist. Unserer Auffassung nach handelt es sich hier zumindest um eine seltsame Schlußfolgerung. Es ist doch gerade die Eigenheit des Marktes, daß weder die Produktionseinheiten noch die Verbrauchseinheiten die jeweiligen Entscheidungen im voraus kennen. Aber kennt das Werk, das Achsen für eine Automobilfabrik herstellt, nicht im voraus die Anzahl der von der Fabrik benötigten Achsen?

Wenn Adam Smith und andere Klassiker erklären, daß „die unsichtbare Hand“ des Marktes es ermögliche, ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herzustellen, gehen sie davon aus, daß dies im nachhinein, a posteriori, geschieht. Wenn die frei festgesetzten Preise für die „wirtschaftlich wirksamen Kräfte“ keine Signale sind, die sie veranlassen, ihr Verhalten zu ändern, worin läge dann ihr Nutzen in den Augen der Verfechter der Marktwirtschaft? Aber eine Änderung des Verhaltens impliziert die Notwendigkeit, vorausgegangene Entscheidungen zu korrigieren, und somit auch eine grundlegende Ungewißheit der a priori getroffenen Entscheidungen.

Nove betont, daß das Endprodukt einer Automobilfabrik vor allem eine Ware ist, die auf dem Markt verkauft werden muß, wobei es ungewiß ist, ob sie verkauft werden kann. Das ist vollkommen richtig. Aber weit davon entfernt, unsere Argumentation zu widerlegen, bekräftigt sie diese Tatsache hinsichtlich der Differenz zwischen der Zuteilung der Ressourcen a priori und der Zuteilung der Ressourcen a posteriori oder, wenn man will, einer direkt bestimmten Zuteilung und einer Zuteilung im nachhinein über den Markt.

Wenn der Absatz von Autos von 2 Millionen auf 1,5 Millionen zurückgeht, erzwingt der Markt eine Umverteilung der Ressourcen. Aber der Markt kann nicht die Produktion von einer Million Achsen oder von sieben Millionen Rädern für eine Million Autos erzwingen. Innerhalb eines Unternehmens bestimmt der technische Faktor und nicht der Markt. Die Bereitstellung der Ressourcen ergibt sich automatisch und zwingend aus der Entscheidung, eine bestimmte Anzahl von Fahrzeugen herzustellen. Sie schwankt weder als Funktion der Verkaufsstatistiken der einzelnen Abteilungen noch als Funktion der „Profite“. Und innerhalb der Privatwirtschaft insgesamt ergibt sich die Bereitstellung der Mittel a priori aus den beabsichtigten gesellschaftlichen Prioritäten.

Es ist die mit der Marktwirtschaft untrennbar verbundene Ungewißheit, aus der sich die wirtschaftlichen Zyklen unvermeidlich ergeben. Man kann nicht die Produktion drosseln oder neue, Arbeit sparende revolutionierende Produktionstechniken [3] einführen, ohne Arbeitslosigkeit hervorzurufen. Man kann nicht plötzlich einen beträchtlichen Preissturz (oder einen Sturz der Profitmarge oder der Profitrate) provozieren, ohne daß Zusammenbrüche erfolgen. Alle diese aus der Ungewißheit des Marktes unvermeidlich resultierenden Übel werden durch das Privateigentum und die Konkurrenz zusätzlich verschlimmert. Das macht die „Exzesse“ und die Irrtümer der Revision von Investitionsentscheidungen unausweichlich, die ihrerseits wiederum das Ausmaß der Schwankungen vergrößern.

Kein Unternehmen kann es sich leisten, zum Zweck der Sicherung des „Allgemeinwohls“ oder der maximalen „sozialen Dividende“ zu handeln. Unter dem Zwang der Konkurrenz müssen alle Unternehmen die Investitionen erhöhen, so lange die Dinge gut laufen (d. h. wenn der Markt und die Gewinne expandieren), und sie halten sie zurück, wenn eine Krise ausbricht, ohne sich um die globalen Auswirkungen zu kümmern, die dieses Verhalten auf die Gesamtwirtschaft hat. So bewegt man sich periodisch zwischen übertriebenen (Vollbeschäftigung oder beinahe Vollbeschäftigung) und unzureichenden Investitionen (mit massiver Erwerbslosigkeit).

Eine „Marktregulierung“, d. h. eine Intervention des öffentlichen Sektors, kann diese Schwankungen nur in zwei möglichen Fällen neutralisieren. Im ersten Fall korrigiert diese Intervention die Schwankungen, nachdem sie stattgefunden haben. Sie werden also nicht vermieden, sondern sie sind nur geringer geworden, als sie ohne das Eingreifen des Staates gewesen wären. Außerdem ist die Korrektur nur wirksam, wenn die öffentlichen Investitionen einen großen und wachsenden Teil der Gesamtinvestitionen ausmachen und der öffentliche Sektor weitgehend gegen die Rückwirkungen des ökonomischen Zyklus abgeschirmt ist, wenn er also, mit anderen Worten, nicht mehr im wesentlichen vom Markt bestimmt wird.

Im zweiten Fall verhindert die Intervention solche Übel wie die Arbeitslosigkeit durch eine Steigerung der privaten Investitionen. Aber abgesehen von den perversen Folgen, die ein solches Verhalten auf die Gesamtwirtschaft hätte, ist es unmöglich, genau (und beizeiten!) vorauszusehen, wann die privaten Investitionen zurückgehen – eben aufgrund ihres ungewissen Charakters.

Deshalb ist eine wirksame „Marktregulierung“ einfach unmöglich; die theoretische Analyse bestätigt die geschichtliche Erfahrung. Eine Marktwirtschaft auf einem bedeutenden Niveau halten und zugleich massive Erwerbslosigkeit und zahlreiche Zusammenbrüche verhindern wollen, heißt zu wollen, was miteinander unvereinbar ist. Man kann keine Marktwirtschaft haben, ohne daß sich die Logik des Marktes durchsetzt. Und diese Logik schließt unvermeidlich wirtschaftliche Schwankungen ein.

Die Schlußfolgerung ergibt sich von selbst: der „Marktsozialismus“ ist ein Mythos, der weder heute existiert noch in Zukunft Wirklichkeit werden kann. In dem Maße, wie der Markt noch ein bedeutendes Gewicht hat, gibt es noch keinen Sozialismus. Und in dem Maße, wie es Sozialismus gibt, sterben die Warenverhältnisse ab.


Gesellschaftliche Prioritäten und begrenzte Ressourcen


Das ist umso mehr wahr, als die globalen Ressourcen immer begrenzt sind. Jede Nutzung dieser Ressourcen durch den öffentlichen Sektor oder zur direkten Befriedigung von Bedürfnissen außerhalb des Marktes reduziert automatisch ihren Einsatz zur Produktion für den Markt.

Nun hat aber Nove selbst erklärt, daß das „Gesundheitswesen, die Erziehung, die öffentlichen Bauten, die Post, der öffentliche Transport in den Städten, der Schutz der Umwelt, die Versorgung mit Wasser, die Straßenbeleuchtung und -reinigung, die Parkanlagen usw. nicht dazu da sind (und auch nicht da sein sollten), um Geld zu verdienen.“ Wenn man die Dienstleistungen auf dem Gebiet der Kultur und der Information hinzufügt, dazu die Ernährung und notwendige Kleidung, dann hat man 70 bis 80 % der zivilen Ausgaben in den meisten industrialisierten Ländern beisammen. Somit bleibt nur noch ein begrenzter Teil der Ressourcen zur Verfügung des Marktes übrig.

Wir sind fest davon überzeugt, daß aus sozial und psychologisch äußerst wichtigen Gründen die Hauptnahrungsmittel, Kleidung, eine für jeden passende Wohnung und die kulturellen Güter in der Liste der Güter und Dienstleistungen enthalten sein müssen, deren Verteilung zur Befriedigung der Bedürfnisse in Form von Gebrauchswerten vorgesehen sein sollte, d. h. ohne an Geld-Markt-Beziehungen gebunden zu sein.

Jahrtausendelang hat die Menschheit unter der ständigen Bedrohung durch Hunger, Krankheit, Epidemien, Naturkatastrophen und eines jähen verheerenden Niedergangs des Ausmaßes der Befriedigung ihrer Bedürfnisse gelebt. Es gibt nur zwei grundverschiedene wirtschaftliche Mechanismen, die auf lange Sicht die ökonomische Sicherheit garantieren können: entweder das Anhäufen großer Geldsummen (Vermögen) durch individuelle Anstrengung oder eine soziale Organisation, die jedem Individuum automatisch die Befriedigung seiner wesentlichen Bedürfnisse unabhängig von seiner Stellung oder von seinen persönlichen Anstrengungen sichert.

Der erstgenannte Mechanismus fördert ein soziales Verhalten (auch gesellschaftliche Wertvorstellungen und, wenn man will, eine soziale Ethik), das auf Konkurrenz, Egoismus, Aggressivität, wachsender Entfremdung, kurz: auf dem Gesetz des Dschungels beruht. Das gilt nicht nur für die kapitalistische Gesellschaft, doch, wenn dies zutrifft, besonders für diese. Es gilt aber ebenso für die vorkapitalistische kleine Warenproduktion, und es gilt unbestreitbar für die partielle nachkapitalistische Warenproduktion, wie es die Entwicklung in der UdSSR, in Osteuropa und in China beweist. [4]

Das kann solange unvermeidlich sein, wie die materiellen Verhältnisse ein radikales Absterben der Ware-Geld-Beziehungen nicht erlauben. Aber es ist unbestreitbar ein soziales Übel, das Millionen und Abermillionen von Menschen ernsthafte physische, geistige und moralische Entbehrungen auferlegt. Das führt auch zu einer zunehmenden Desorganisation und birgt tödliche globale Gefahren. Wenn die vier apokalyptischen Reiter – die atomare Vernichtung, die Zerstörung der Ökosysteme und der Biosphäre, der Hunger in der Dritten Welt, die massive Verarmung der Opfer der „dualen Gesellschaft“ in den Industrieländern – uns immer mehr bedrohen, so kann die Menschheit das derzeitige oder ein ähnliches Ausmaß an Konkurrenz- und Aggressionsverhalten nicht mehr hinnehmen. Eine gesellschaftliche Organisation, die ein entgegengesetztes sittliches Verhalten fördern, nämlich Kooperation, Solidarität und universell angewandte moralische Normen (an erster Stelle die vollständige Abrüstung), ist zu einer unerläßlichen Bedingung für das physische Überleben der Menschheit geworden. Ein kooperatives Verhalten – d. h. Sozialismus – oder Tod, so lautet heute die Wahl, vor der die Menschheit steht. Es ist die schlimmste aller Utopien, wenn man glaubt, daß weltweit ein kooperatives Verhalten ohne materielle Sicherheit und ohne Befriedigung der elementaren Bedürfnisse aller Menschen systematisch gefördert werden kann. Die Annahme, die ausreichende Güterversorgung durch individuelle Habsucht oder durch allgemeinen Wettbewerb auf allen Gebieten erreichen und zugleich die Kooperation, die Solidarität und die Beachtung universeller moralischer Normen anregen zu können, bedeutet ebenfalls, an den Weihnachtsmann zu glauben.

Dasselbe Argument zugunsten gesellschaftlich relevanter und gegen die vom Markt erzwungenen Prioritäten läßt sich auf die von Nove beschworenen Initiativen privater Produzenten anwenden: „Jeder Bürger oder jede Gruppe von Bürgern, die es wünscht, auf eigenes Risiko ein Produkt oder eine Dienstleistung anzubieten, die sie für notwendig hält, muß grundsätzlich die Freiheit haben, in Besitz der dazu erforderlichen Mittel zu gelangen und im Falle des Erfolgs einen Gewinn (Profit) zu erzielen. Das ist ein integraler Teil von Rechten und Freiheiten als Produzent, Rechte, die verletzt werden würden, wenn man einer „sozialistischen Polizei“ befehlen würde, sie daran zu hindern. Wenn diese Güter und Dienstleistungen vom öffentlichen Sektor in zufriedenstellender Weise bereitgestellt würden, bestünde keine Möglichkeit, Profit daraus zu ziehen.“

Es ist erstaunlich, daß Nove, der sich am liberalen Credo berauscht, nach zweihundert Jahren der sozialistischen Kritik der Lohnarbeit nicht die offensichtliche Verbindung zwischen den verschiedenen Mechanismen erfaßt, die es dem „freien Unternehmen“ erlauben, in befriedigender Weise für einige, d. h. für eine kleiner werdende Minderheit zu funktionieren. [5] Lassen wir die Fälle der landwirtschaftlichen Eigenbedarfswirtschaft oder der handwerklichen Arbeit auf kleiner Stufenleiter, die mit der Entwicklung der modernen Technologie nur einen bescheidenen Platz einnehmen können, beiseite. Die kleine individuelle und kooperative Produktion zu kreativen, wissenschaftlichen, ästhetischen, spielerischen oder ökologischen Zwecken ist per definitionem keine Tätigkeit um des Profits willen. Solche Aktivitäten werden in einer sozialistischen Gesellschaft gefördert werden. Sobald erst die elementaren Bedürfnisse aller befriedigt sind, werden solche Aktivitäten wahrscheinlich einen immer größeren Teil der den Menschen zur Verfügung stehenden Zeit und der materiellen Ressourcen in Anspruch nehmen. Allein deshalb werden sie die für die private Produktion für den Markt und den Profit zur Verfügung stehenden Ressourcen verringern und bedeutungslos machen.

Die wirkliche Geschichte der Entstehung des „freien kapitalistischen Unternehmens’’ mit hochwertiger Technologie und Lohnarbeit bedeutet nicht, daß immer mehr Leute die für diesen Zweck notwendigen materiellen Mittel erhalten. Im Gegenteil: immer mehr Menschen werden der für die Produktion auf eigene Rechnung „notwendigen Mittel“ beraubt (vor allem werden sie vom freien Zugriff auf ein Stück Land abgeschnitten) Das „freie Unternehmen“ mit Lohnarbeit im Interesse einer kleinen Minderheit ist durch die Zerstörung des „freien Unternehmens’’ ohne Lohnarbeit im Interesse der breiten Massen entstanden. Ehe wirtschaftliche Mechanismen – die Gesetze der Aneignung der Produkte und die der kapitalistischen Produktionsweise eigene Verteilung der Einkommen – die normale Reproduktion der massenhaften Lohnarbeit sicherten, wurde diese durch Gewalt, Krieg, Eroberungen, Plünderung, Raub, Piraterie und allgemeine Unterdrückung erzwungen. Die Ersetzung der direkten physischen Gewalt durch ökonomischen Zwang ändert nichts an der ungerechten Natur des Prozesses, umso mehr als der ökonomische Zwang ohne ständig wiederkehrende physische Unterdrückung nicht funktionieren kann.

Was gestern wahr gewesen ist, wird auch morgen wahr sein. In einer sozialistischen Gemeinschaft wird keine Wiedereinführung eines wirklichen Arbeitsmarktes möglich sein, ohne gegen die Masse der Produzenten wirtschaftlichen und politischen Zwang auszuüben. Insofern diese Produzenten ein garantiertes durchschnittliches, angemessenes Konsumniveau haben werden – d. h. die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse und einen wachsenden kulturellen Komfort –, wird es weder Ressourcen noch Anreize geben, um die „notwendigen materiellen Mittel“ für „freie kapitalistische, Lohnarbeit ausnutzende Unternehmer“ bereitzustellen, die sich von individuellen, mit eigenen Händen arbeitenden Unternehmern klar unterscheiden.

Um ein solches Regime zu sichern, bedarf es keiner „sozialistischen Polizei“. In einer sozialistischen Gemeinschaft wird das ganze System der Institutionen und der gesellschaftlichen Wertvorstellungen die Menschen zweifellos dahingehend beeinflussen, daß sie das Streben nach individueller Bereicherung ablehnen. Aber die stärkste Garantie hierfür wird von der wirklichen Macht der auf allen Ebenen der Produktion frei assoziierten Produzenten ausgehen, die die Produktion von Produktionsmitteln selbst bestimmen, und von ihrer Entscheidung, jedem einen anständigen minimalen Lebensstandard zu sichern. Die kapitalistischen Kandidaten müßten Löhne bieten, die wesentlich höher sind als das den Arbeitern garantierte Jahreseinkommen. Es wird nicht sehr viel Angebot oder Nachfrage hierfür geben. Nur durch die Zerstörung dieser „Freiheit der Bedürfnisbefriedigung“ der großen Mehrheit könnten einige Unternehmer eine ausreichende Anzahl von Lohnarbeitern finden.

Wäre das ein „Despotismus der Mehrheit“? Man kann es nennen, wie man will. Vom Standpunkt der Minderheit kann man jedes mehrheitliche Regime „despotisch“ nennen. Aber die den Anwärtern auf kapitalistisches Unternehmertum auferlegten „Beschränkungen“ sind bescheiden, zumindest im Vergleich zu den Entbehrungen, die der Kapitalismus der Menschheit aufzwingt. Auch ihnen wird ein durchschnittliches Niveau der Lebenshaltung garantiert werden. Sie müssen nur auf einigen zusätzlichen Luxus verzichten. Auch sie werden über immer mehr freie Zeit verfügen, die sie für individuelle oder kollektive Aktivitäten, einschließlich individueller oder kollektiv-individueller Betätigung, nutzen können. Da die alternative Despotie der Lohnarbeit mit ihrer infernalischen und zerstörerischen Logik dem größten Teil der Welt viel schlimmere Entbehrungen auferlegt, ist der „Despotismus der Mehrheit“ das kleinere Übel im Bemühen, eine perfekte Gesellschaft aufzubauen.


Geld, Bedarfsdeckung und gesellschaftliche Prioritäten


Professor Nove bekräftigt wiederholt, daß die Marktverhältnisse nur bei sozialen Dienstleistungen und bei einigen gleichartigen Gütern wie Wasser oder elektrische Energie ausgeschaltet werden können. Er geht nicht auf unser Argument ein, daß die Marktverhältnisse auch bei all jenen Gütern verschwinden können, deren Nachfrageelastizität gegen Null tendieren oder gar negativ ist. Die Tatsache, daß es Dutzende von Brotsorten gibt oder Hunderte von Strumpfmodellen hindert niemand daran, den globalen Verbrauch dieser Güter nach den vorhandenen statistischen Angaben vorauszuschätzen. Wenn ihre Produktion nicht mehr nach den Prinzipien des Profits organisiert ist, sondern auf der Grundlage der Wahl und der Vorbestellungen der Verbraucher – überdies bei öffentlich diskutierter Qualitätskontrolle –, wird das zu einer weitgehenden Befriedigung der Käuferwünsche und zu einer größeren Vielfalt von Produkten führen als bei der Marktwirtschaft. Wir könnten hierzu zahlreiche Beispiele anführen; wir beschränken uns darauf, nur einige aufzuzählen.

Zunächst einmal sind im Marktsystem die Verteilungskosten zu Lasten der Verbraucher wesentlich höher, weil die verschiedenen Zwischenhändler ihre Gewinne einheimsen und die Kosten einer oft irreführenden, manipulativen und frustrierenden Werbung auch auf den Verbraucher zurückfallen. Kürzlich hat der Verband der belgischen Hotels, Restaurants und Bars (HORECA) zugegeben, daß der echte Preis für eine Tasse Kaffee, die 35 belgische Francs kostet, nur sage und schreibe 50 Centimes beträgt! Laut der französischen Monatsschrift Science et vie economique (März 1988) bringt ein Kilo grüne Bohnen, das dem Verbraucher für 25 Francs verkauft wird, den Produzenten nur 2,5 Francs, und 12,7 Francs gehen an den Zwischenhandel, von den Transportkosten abgesehen. Eine Reduzierung der Verteilungskosten auf die materiell nötigen Ausgaben und das Verbrauchereinkommen der in diesem Bereich Beschäftigten würde es ermöglichen, die Verteilungsstellen wesentlich zu vermehren, so daß die Verbraucher diese leichter erreichen könnten. Außerdem würden die ermittelten Bedürfnisse der Verbraucher besser zufriedengestellt werden, weil die Vielfalt des Angebots größer wäre als im auf Profit ausgerichteten System, und dies auch noch zu geringeren Kosten für die Allgemeinheit.

      
Mehr dazu
Ernest Mandel: Zur Verteidigung der sozialistischen Planwirtschaft – Eine Kritik der Theorie des „Markwirtschaftlichen Sozialismus“, Inprekorr Nr. 200 (Februar 1988)
Alec Nove: Plan und Markt: Antwort auf Ernest Mandel, Inprekorr Nr. 209 (November 1988)
 

Ein zweiter Punkt ist, daß im Profitsystem die Gewinnspanne – und nicht die durchschnittlichen Kosten – darüber entscheidet, ob ein Produkt hergestellt wird oder nicht. Unvorsichtigerweise greift Nove das Problem der Publikation von New Left Review auf, d. h. der Pressefreiheit, die „den Kauf und den Gebrauch materieller Mittel erfordert, Produktionsmittel, die einen alternativen Gebrauch zulassen“. Aber wenn der Staat heute bestimmen kann, 6 % seiner Mittel für die Produktion und Unterhaltung von Waffen bereitzustellen, wenn in Noves „Marktsozialismus“ das Gemeinwesen bestimmt, x oder y Prozent der materiellen Mittel für Erziehung, Gesundheitswesen, Transport oder öffentlich geförderte Wohnungen und anderes zu bewilligen, warum soll man es dann dem Markt überlassen, die für eine freie und vielfältige Presse erforderlichen Mittel bereitzustellen? Warum kann die Gemeinschaft nicht von vornherein festlegen, daß 0,5 oder 1,5 % der zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt werden, um genügend Druckereien, Drucker, Papier usw. zu haben, so daß jede Gruppe von Konsumenten die Tages- und Wochenzeitungen oder Monatsschriften seiner Wahl beziehen kann, um sogar mit geringeren Auflagen eine größere Vielfalt der Presse (Pluralismus) zu erreichen, als sie heute gegeben ist?

Die Alternative hierzu ist gerade eine Beschränkung der Pressefreiheit durch zentralisierte Kontrolle, sei es durch das Großkapital, sei es durch den Staat oder durch beide. Vor etwa zwei Jahren ist der mit dem Marktsystem verbundene Widersinn in einer für die Pressefreiheit in Frankreich besorgniserregende Weise demonstriert worden. Ein Rückgang von knapp 5 % des Absatzes einer großen Zeitung wie Le Monde hat gedroht, mehr als ein Million Leser um die von ihnen bevorzugte tägliche Lektüre zu bringen. Ist dies wirklich die beste Art und Weise, die Wahl des Konsumenten und die Vielfalt der Presse sicherzustellen?

Ein drittes Beispiel. Bei einer auf Profit ausgerichteten Produktion sind monopolistische oder oligopolistische Gesellschaften daran interessiert, ein Produkt durch ein anderes zu ersetzen, unabhängig von den Wünschen der Verbraucher, wenn das zweite Produkt einen höheren Gewinn verspricht, selbst wenn das erstere noch rentabel ist. Auf diese Weise kann den Verbrauchern eine von ihnen gewünschte Ware allein dadurch vorenthalten werden, daß sie nicht mehr hergestellt wird. Das fängt bereits an, bei den herkömmlichen Langspielplatten zu geschehen, die den Compact Discs geopfert werden.

Es stimmt also nicht, daß in einer reichen Gesellschaft der Markt eine größere Souveränität der Verbraucher garantiert, sobald die elementaren Bedürfnisse befriedigt sind. Genau das Gegenteil ist richtig.

Es ist bezeichnend, daß sowohl Nove als auch andere Verfechter des „Marktsozialismus“ kein Wort über die unvermeidliche Tendenz der Konkurrenz auf dem Markt verlieren, die darauf abzielt, den schwächeren Konkurrenten zu verdrängen, d. h. die Tendenz zur Bildung von Monopolen, was wiederum dazu führt, noch größere Monopole zu bilden (heute vorwiegend Multis). Dieser Prozeß der Konzentration und Zentralisation des Kapitals hat die Entwicklung der Marktwirtschaft stets begleitet – bereits vor dem Entstehen des industriellen Kapitalismus, d. h. seit mindestens 400 Jahren. Kann man diese praktische Erfahrung einer „echten Marktwirtschaft“ einfach ignorieren? [6]

Nove wiederholt, daß „das Geld auch eine unersetzliche Maßeinheit liefen, um … die Intensität der Bedürfnisse zu messen“. Aber selbst vom individuellen, mikroökonomischen Standpunkt aus ist diese Behauptung zumindest zweifelhaft.

Ob jemand ein zusätzliches Einkommen lieber für einen teureren Urlaub aufwenden als für ein Klavier für seine Kinder, hängt von mehreren Faktoren ab, wobei die Gestehungskosten der verschiedenen Güter eine entscheidende Rolle spielen. In dieser Beziehung ist die Werttheorie durchaus zutreffend. Die Tatsache, daß man für Bücher weniger Geld aufwendet als für ein Klavier, beweist nicht, daß der Wunsch nach einem Klavier mehr oder weniger stark ist als das Verlangen nach Büchern; sie beweist nur, daß die Kosten für die Herstellung eines Klaviers viel höher sind.

Wenn Noves Behauptung schon auf mikroökonomischer Ebene zweifelhaft ist, dann ist sie aus makroökonomischer Sicht vollkommen falsch. Solange die Kaufkraft – die globale Nachfrage – ungleich verteilt ist, richtet sich die Produktion nicht nach dem stärksten Bedarf, sondern nach jenen Bereichen, wo mehr Geld vorhanden ist und wo man schneller Profit machen kann. Niemand wird ernsthaft behaupten, daß der Bedarf an Zweitwohnungen dringender sei als der Bedarf derer, die keine Wohnung haben. Dennoch werden Zweit- und Luxuswohnungen in großer Zahl gebaut, während es selbst in den reichsten Ländern noch Millionen von Menschen ohne Wohnung gibt, vom Rest der Welt ganz zu schweigen. Und was soll man zum Nahrungsmittelbedarf der Armen in der Dritten Welt im Vergleich zur Intensität des Bedürfnisses nach einem zweiten Fernsehgerät oder einem Personal Computer bei den reichen Mittelklassen der westlichen Länder sagen? Aber die Mechanismen des Marktes sorgen dafür, daß viel mehr Mittel eingesetzt werden, um den letztgenannten Bedarf zu decken.

Wenn obige Behauptung vom makroökonomischen Standpunkt aus falsch ist, dann ist sie vom makrosozialen Standpunkt aus erst recht falsch; denn hier müssen alle gesellschaftlichen vom Markt auferlegte Kosten für eine bestimmte Wahl und deren Folgen zusammengezählt werden, wenn es verschiedene gleichzeitig vorhandene Bedürfnisse gibt, d. h. hier wird das Problem der gesellschaftlichen Prioritäten berührt. Geld ist hierfür keine rationelle Maßeinheit, es sei denn, man akzeptiert die letztlich inhumane Logik der Analyse von „Kosten/Geldgewinn“, indem man den „Wert“ von Leben und Tod Tausender Menschen aufgrund der „Kapitalisierung“ ihrer zukünftigen „Einkommen“ berechnet (einschließlich derer von Kindern, von denen noch gar nicht bekannt ist, welchen Beruf sie ergreifen und was sie verdienen werden).

Das in dieser Hinsicht katastrophalste Beispiel ist das der Privatautos. Die Benutzung eines Privatwagens als Transportmittel zwischen Wohnung und Arbeitsplatz sowie zwischen Wohnung und Einkaufszentren [7] stellt eine monströse Vergeudung dar, umso mehr als die Plätze im Wagen meist nicht alle besetzt sind. Das Ergebnis dieses Verhaltens ist eine dauernde Verstopfung der Straßen und eine Zunahme der Luftverschmutzung in den Städten, ganz abgesehen von den kriegsähnlichen Massakern, die von verantwortungslosen Fahrern verschuldet werden. [8]

Wäre es nicht besser, den städtischen Verkehr derart zu organisieren, daß sich die Verkehrsteilnehmer kostenlos in kleinen Bussen mit hoher Verkehrsfrequenz oder, noch besser, mit elektrisch angetriebenen Bussen fortbewegen? Warum soll es nicht möglich sein, 2 bis 3 % der zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Ressourcen für Gratistransporte einzusetzen? Wenn das geschähe, wer würde dann noch Privatautos kaufen und Geld für Benzin ausgeben? Es bedürfte keiner „Polizei“, um solche Käufe zu „verbieten“.

Selbst wenn dies von ernsten Ungleichgewichten zwischen der Produktion von Omnibussen und Pkws begleitet wäre und die öffentlichen Unternehmen vom makroökonomischen Standpunkt aus weniger effizient arbeiten würden als heute die privaten Automobilfabriken – eine Hypothese, die unserer Meinung nach noch zu beweisen wäre –, würde eine derartige radikale Reduzierung des verrückten Rennens, das nur zu Paralyse durch Luftverschmutzung führt, riesige materielle Ressourcen ersparen und viele Menschenleben retten. Die Befriedigung der Verbraucherwünsche wäre gesichert. Das Geld würde eine genau umgekehrte Rolle spielen als die, die man ihm zuschreibt, d. h. es würde abschrecken anstatt anzureizen.

Noch einmal: mit welchem Recht könnte ein tyrannischer Verfechter des „Marktsozialismus“ einer Gemeinschaft verbieten, sich mehrheitlich für ein öffentliches, kostenloses, komfortables und sicheres Transportsystem zu entscheiden, das weitgehend dezentral organisiert wäre und in jedem Fall viel weniger Bürokraten erfordern würde als die riesigen privaten Monopole der Automobilindustrie – falls es überhaupt einer bürokratischen Struktur bedarf?


Es gibt eine dritte Lösung!


Nove leugnet, daß es eine brauchbare und wünschenswerte Alternative sowohl zur bürokratischen Zentralisierung als auch zum „Marktsozialismus“ gibt. Er verwirft eine dritte Möglichkeit, weil nach seiner Auffassung eine Bereitstellung der zentralisierten Ressourcen (vor allem für die Produktionsmittel) in einer modernen Wirtschaft unvermeidlich ist. Er schreibt: „Aber selbst ganz einfache Produkte erfordern eine ganze Reihe von oft sehr speziellen Elementen; wie könnte garantiert werden, daß eine Delegiertenversammlung, die über Tausende solcher Elemente zu befinden hat, ohne eine hierarchische Autoritätspyramide einen zusammenhängenden Input/Output des Ganzen gewährleistet – es sei denn, diese Einzelteile könnten gekauft werden, und die ganze Pyramide wird überflüssig? Leider, tertium non datur!

Das ist eine Rückkehr zum Ausgangspunkt, als ob die vorangegangene Diskussion überhaupt nicht stattgefunden hätte. Zunächst führt der Markt nicht notwendiger Weise zu einer „lnput/Output-Kohärenz“. Überschüssige Produktionskapazität und Mangel existieren periodisch nebeneinander und rufen laufend Boom und Börsenkrach hervor. Die der seit zweihundert Jahren „real existierenden Marktwirtschaft“ eigenen wirtschaftlichen Schwankungen liefern den Beweis für eine gigantische „lnput/Output-lnkohärenz“.

Zweitens werden die meisten dieser Elemente (die großen Produktionsmittel) nicht in bezug auf die Preisschwankungen geliefert. Der „Kauf“ ist nichts als eine Formsache, er beeinflußt in keiner Weise die verschiedenen Auswahlmöglichkeiten. Die Dinge werden auf Bestellung produziert, und zwar in der Regel ohne Konkurrenz auf dem Preissektor, und sie hängen von vertraglichen technischen Abreden und von zuvor festgelegten gesellschaftlichen Prioritäten [9] ab. Streitigkeiten gibt es nur bei gravierenden Mängeln (schlechte Qualität, Nichteinhaltung von Lieferfristen, empfindliche Preiserhöhungen). In 99 % der Fälle ist das nicht die Frage von plötzlichen „Signalen“ des Marktes.

Drittens ist eine zentrale Bereitstellung der Mittel – die angesichts der Beschränktheit der Ressourcen und der Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen, tatsächlich unverzichtbar ist – keineswegs identisch mit einer „detaillierten“ Zuteilung, wie sie als Funktion von Preisbewegungen, d. h. des Marktes, erfolgt. Nove geht nicht auf unser Argument ein, demzufolge eine „elastische“ Selbstverwaltung absolut möglich ist. Ein nationaler (oder internationaler) Delegiertenkongreß wird nur demokratisch darüber entscheiden müssen, welcher Anteil von Mitteln aus dem Nationaleinkommen für jede der, sagen wir, zwanzig Schlüsselsektoren zur Verfügung gestellt werden muß. Dabei wird er seine Wahl zwischen den verschiedenen zusammenhängenden „Input/Output-Varianten“ treffen müssen. Die detaillierte Planung je Branche, z. B. der Stahl- oder Lederindustrie, wird den Delegiertenkongressen dieser Industrien überlassen (wo auch die Verbraucher vertreten sind). Noch mehr ins Detail gehende Entscheidungen werden von Delegiertenräten auf regionaler, lokaler oder betrieblicher Ebene getroffen. Alternative Möglichkeiten im Hinblick auf begrenzte Ressourcen werden dabei keineswegs ignorieren. Sie werden auf den verschiedenen Ebenen demokratisch diskutiert werden.

Ein solches institutionelles System bringt keine hierarchischen Strukturen hervor. Es sichert im Gegenteil die Souveränität der Produzenten-Verbraucher, d. h. die Selbstbestimmung und Freiheit im echten Sinne des Wortes sowohl hinsichtlich der Tyrannei blinder Marktkräfte als auch arroganter Bürokraten. Man soll uns doch sagen, warum das nicht funktionieren kann. Würde das eine übermäßige Politisierung hervorrufen? Vielleicht. Aber eine Politisierung in einer freien Gesellschaft mit politischem Pluralismus, freiem Zugang zu den Medien und öffentlich kontrolliertem Nachrichtenwesen wäre unbestreitbar ein geringeres Übel als die riesige, durch die jetzige Erwerbslosigkeit oder die schlechte bürokratische Leitung bedingte Vergeudung. [10]


Über die menschliche Freiheit


Wir kommen jetzt auf den Kern der Auseinandersetzung zurück. Wir sind der Meinung, daß die Diskussion das Maximum der möglichen wirtschaftlichen Effizienz nicht wesentlich berührt (ist diese Effizienz überhaupt meßbar, wenn es keine Definition gibt, die genauer ist als die im allgemeinen von den Ökonomen gegebenen?). Die Diskussion dreht sich um das Höchstmaß an möglicher menschlicher Freiheit oder um die Befreiung von den dem Individuum von außen auferlegten Zwängen wirtschaftlicher, politischer oder soziokultureller Art. Es ist eine Diskussion über die als Ziel der menschlichen Existenz verstandene Selbstbestimmung.

Es versteht sich von selbst, daß, wenn die elementaren menschlichen Bedürfnisse aller Menschen nicht befriedigt sind, es keine Freiheit und keine Selbstbestimmung geben kann. Die wirtschaftliche Effizienz als Mittel zur Sicherung der Bedürfnisbefriedigung aller ohne Unterschied und ohne Diskriminierung erhält in diesem konzeptionellen Rahmen ihren Sinn. Aber als dauerndes Ziel menschlicher Anstrengung jenseits jeder anderen Erwägung oder Motivation wird sie irrational und schlägt ins Gegenteil um.

Die Auseinandersetzung berührt somit eine präzise Frage: soll die maximale wirtschaftliche Effizienz, sobald die Grundbedürfnisse befriedigt sind, weiterhin souverän und ohne Rücksicht auf die individuellen und gesellschaftlichen Kosten herrschen oder muß sie anderen Zielen untergeordnet werden wie etwa der radikalen Herabsetzung der Arbeitszeit (der Arbeitszeit während des ganzen Erwachsenenalters), dem radikalen Abbau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Verwaltern und Verwalteten, der automatischen Freisetzung von Zeit für freie schöpferische Tätigkeit, dem Schutz der Umwelt, dem Kampf gegen körperliche und seelische Krankheit usw.?

All jene, die behaupten, daß das utopisch sei, beharren in Wirklichkeit darauf, daß die Menschheit verurteilt ist, der Tyrannei der „objektiven ökonomischen Gesetze“ und der sozialen Ungleichheit in welchem Zusammenhang auch immer unterworfen zu sein. Nicht genug damit meinen sie, daß die Ablehnung dieser Zwänge zu einem unannehmbar hohen Niveau der Bedürfnisbefriedigung führen muß.

Hier haben wir eine neue Version des Aberglaubens von der Erbsünde. Dieses Vorurteil entstammt dem Mythos vom Homo oeconomicus, ein Mythos, der nur ein Versuch ist, den konkurrierenden Bourgeois (Groß- und Kleinbürger) als typisches Verhaltensmuster der menschlichen Existenz außerhalb von Zeit und Raum darzustellen, der in Wirklichkeit nur eine relativ späte Erscheinung in der menschlichen Geschichte ist.

Der Marxsche Sozialismus, wie ihn Professor Nove und ich selbst ihn interpretieren, bedeutet im wesentlichen die Emanzipation der frei assoziierten Produzenten vom Zwang, die materiellen und menschlichen Ressourcen nach „ewigen ökonomischen Gesetzen“ nutzen zu müssen. Es handelt sich um eine Gesellschaft, in der die Produzenten-Konsumenten frei darüber entscheiden, welche Gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prioritäten sie setzen. Wenn sie auf ein zweites Fernsehgerät verzichten wollen, um mehr Freizeit zu haben oder weniger hart zu arbeiten, werden sie ohne Einschränkung das Recht haben, dies zu tun. Niemand wird sie zwingen, der einen oder der anderen Sache Vorrang einzuräumen, weder Experten noch weise Philosophen, auch keine charismatischen Führer oder Parteien. Die ganze Geschichte hat gezeigt, daß all diese Leute weit davon entfernt sind, allwissend zu sein. Die Produzenten werden die Freiheit haben müssen, gemäß ihrem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Wenn wir von sozialistischer Planung sprechen, so meinen wir genau dies.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 209 (November 1988). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Alle Bezüge auf Alec Nove betreffen seinen Artikel, der in Nr. 161 von New Left Review (Januar/Februar 1987) erschienen und in der vorliegenden Ausgabe von Inprekorr leicht gekürzt abgedruckt ist.

[2] Die Frage, ob man sich an die klassische marxistische und sogar vormarxistische Definition hält, nach der der Sozialismus eine klassenlose Gesellschaft ohne Warenproduktion ist, oder ob man eine eingeschränktere Definition akzeptieren, die den Sozialismus mit dem Verschwinden des Privateigentums an den Produktionsmitteln gleichsetzt, wurde in unserem Artikel „Warenproduktion und Bürokratie bei Marx und Engels“ behandelt (siehe: E. Mandel, Karl Marx – die Aktualität seines Werkes, Frankfurt 1984, S. 137-138).

[3] Das schließt fast immer auf mittlere und auf lange Sicht eine substanzielle Erhöhung der Menge der Produkte ein, die zu einem Durchschnittsprofit verkauft werden müssen. Daher rührt der Doppelcharakter jeder Krisentheorie, die nicht nur die Produktion von Werten, sondern auch die Realisierung von Profit, nicht nur die Dynamik und die Struktur des Wertes (die Quantität an Arbeit, die in ihnen steckt), sondern auch die durch die Dynamik der Produktion und ihre Klassenstruktur verursachte Geldnachfrage (die Kaufkraft) wie auch die proportionalen (oder disproportionalen) Beziehungen zwischen ihnen analysieren muß.

[4] Die Sunday Times vom 28. Februar 1988 meldete, daß man laut einer Erklärung eines hohen Repräsentanten der VR China 1987 5200 Mädchenhändler abgeurteilt habe, 150 % mehr als 1986, und diese Zahl sei nur ein Bruchteil aller vorhandenen Mädchenhändler. Wir haben hier also einen Fall von Mädchenhandel im „Marktsozialismus“ mit steigender Tendenz! Muß man sich darüber wundern, wenn die Verkäufer junger, aus rückständigen Gebieten stammender Frauen 5000 Yuan für jedes Mädchen erzielen können, während der durchschnittliche Monatslohn 20 Yuan beträgt? Ist es realistisch anzunehmen, daß ein solches Verhalten verschwinden wird, solange private Habsucht und individueller Aufstieg durch Geld noch vorherrschend sind?

[5] Denken wir daran, daß in den USA, in Großbritannien und in Schweden die unabhängigen Produzenten und Unternehmer weniger als 10 % der aktiven Bevölkerung ausmachen und weniger als 15 % in mehreren anderen Ländern.

[6] Die Fälle häufen sich, daß Monopolfirmen Waren verkaufen, die gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen sollen, womit ein verbreiteter Mythos widerlegt wird. Ihr Eindringen in diesen Bereich und ihre potentielle Dynamik sind alarmierend. In der New York Review of Books vom März 1988 erklärt Professor M.F. Perutz, daß es im Jahre 1964 in den USA 20 Firmen gab, die Impfstoffe herstellten. 1984 war ihre Zahl auf fünf gefallen. Dieser Rückgang vollzog sich, obwohl der Fortschritt auf dem Gebiet der Molekularbiologie es ermöglicht, Impfstoffe gegen Malaria, Hepatitis B, Cholera und andere in der Welt verbreitete Krankheiten herzustellen und eine verzweifelte Suche nach einem Impfstoff gegen AIDS im Gange ist. Ihre monopolartige Stellung hat den noch verbliebenen Firmen erlaubt, unter verschiedenem Vorwand die Preise für den Impfstoff gegen Diphterie, Tetanus und Keuchhusten von 16 Cents auf 10 Dollar zu erhöhen.

[7] Vom Standpunkt der Freizeit sind die Privatwagen ein Mittel der Autonomie (Freiheit). Aber dieses Bedürfnis könnte mit nichtprivaten Fahrzeugen befriedigt werden, indem man sie jenen zur Verfügung stellt, die sie wirklich benutzen, wenn sie sie brauchen. Das hätte allerdings eine makroökonomisch spürbare Reduzierung der für diesenZweck bereitzustellenden Mittel zur Folge.

[8] Eine umfassende und ausgezeichnete Kritik der Benutzung von Privatfahrzeugen findet sich in dem Buch von Winfried Wolf Eisenbahn und Autowahn (Hamburg: Rasch&Röhring, 1987), das es verdient, in andere Sprachen übersetzt zu werden.

[9] Die im Gang befindlichen Vorbereitungen zur Schaffung des „freien gemeinsamen Marktes“ von zwölf westeuropäischen Ländern machen deutlich, wie sich die gesellschaftlichen Prioritäten im Kapitalismus durchsetzen und bis zu welchem Punkt der Gedanke einer vom Markt gesteuerten Wirtschaft unrealisierbar und somit falsch ist. Diese Vorbereitungen betreffen u. a. die Festlegung von 300 „internen Marktdirektiven“, die das tägliche Leben und den Handel von 350 Millionen Menschen regeln sollen und solch unterschiedliche Gebiete umfassen wie Veterinärkontrollen, Kosmetika, Pestizide, Hebekräne, Wasserqualität, die Tiefe der Reifenprofile, das Gewicht der Kraftwagen, die Sicherheit von Spielzeug, Lebensversicherungen, Asbestvergiftung, mobile Telefone, Geräuschpegel von Rasenmähern, Sicherheitsvorschriften, Ausbildungsqualifikationen usw.

[10] Der ehemalige Vizepräsident von Procter&Gamble, M. Eberle, hat gesagt: „In einer Fabrik der gewerblichen Wirtschaft stehen den Leuten, die die Maschinen bedienen, plötzlich Informationen zur Verfügung, die nicht mehr nur für diejenigen reserviert sind, die in der Hierarchie zwei oder drei Ebenen höher stehen. Die Kontrolleure haben keine Vorstellung von der Macht dieser Informationen, bevor sie den Arbeitern zur Verfügung stehen. Dann aber wird ihr Widerstand gewaltig sein.“ (International Herald Tribune, 15. Februar 1988.) Hier haben wir eine Bestätigung der Tatsache, daß das Zeitalter der Großrechenanlagen, d. h. die dritte technologische Revolution, die Arbeiterselbstverwaltung in hohem Maße begünstigt.