Ernest Mandel
In seinem Buch The Economics of Feasible Socialism (Die Ökonomie des machbaren Sozialismus) kritisiert Alec Nove die Methoden marxistischer Wirtschaftswissenschaftler als für den Aufbau des Sozialismus irreführend und belanglos; er verwirft das Ziel der marxistischen Politik – ein Sozialismus ohne Warenproduktion – als nicht realisierbar. Um ernsthaft auf seine Einwände zu antworten, muß man die gleiche Herangehensweise anwenden, die Marx in seiner Untersuchung über die Entstehung des Kapitalismus angewandt hat. D. h. man darf nicht von einem letztlich zu erreichenden Ideal oder einem normativen Ziel ausgehen, sondern muß von den Elementen der neuen Gesellschaft ausgehen, die bereits im Schoße der alten heranwachsen, von den Bewegungsgesetzen und inneren Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise und der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft. Was war der grundlegende historische Trend der kapitalistischen Entwicklung seit der Industriellen Revolution? Eine wachsende objektive Vergesellschaftung der Arbeit. Alle miteinander verknüpften Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise: die ständige Suche nach höherer Intensität und Produktivität der Arbeit; die unaufhörliche Jagd nach neuen Märkten; der Druck, arbeitssparende neue Technologien einzuführen; die immer stärkere Konzentration und Zentralisation des Kapitals; das Wachstum der organischen Zusammensetzung des Kapitals; der tendenzielle Fall der Profitrate- das Ausbrechen periodischer Krisen der Überproduktion und Überakkumulation; der unerbittliche Trend zur Internationalisierung des Kapitals – all das zusammen mündet letztlich in dem einen Ergebnis: der wachsenden objektiven Vergesellschaftung der Arbeit.
Was bedeutet sie? In erster Linie bedeutet sie eine wachsende gegenseitige Interdependenz von beidem: der Arbeitsprozesse und der Auswahl und Produktion der Güter, die wir verbrauchen. Solch eine Interdependenz galt im 14. Jahrhundert bezogen auf den durchschnittlichen Einwohner eines europäischen oder asiatischen Landes vielleicht für einige hundert Menschen. Heute gilt sie buchstäblich für Millionen von Menschen. Aber objektive Vergesellschaftung der Arbeit bezeichnet noch etwas viel Weitergehendes. Sie bedeutet eine dramatische Ausweitung der geplanten Organisation der Arbeit. Unter den Bedingungen der Industrialisierung herrscht innerhalb der Fabrik nicht der Markt, sondern die Planung. Je größer die Fabrik, desto größer das Ausmaß, der Umfang einer solchen Planung. Mit dem Beginn des Monopolkapitalismus dehnt sich die Planung von der Fabrik auf die Firma aus, d. h. auf Institutionen, die eine Vielzahl von Betrieben umfassen. Mit der Entwicklung multinationaler Konzerne heutzutage ist die Planung international geworden; juristisch gesprochen bezieht sie sich oft auf eine Mehrzahl von Firmen.
Ernest Mandel (1982) Foto: Hans van Dijk / Anefo |
Die Folge dieses jahrhundertelangen Prozesses war eine radikale Verringerung der über den Markt vermittelten Arbeit im Spätkapitalismus zugunsten unmittelbar zugewiesener Arbeit. Die hauptsächliche Ursache für diesen Niedergang der Vermittlung von Arbeit über den Markt liegt nicht in den wachsenden Eingriffen der öffentlichen Hand in die Wirtschaft oder in der Entstehung des Wohlfahrtsstaates oder in den Errungenschaften des Klassenkampfs – obwohl dies alles zu diesem Ergebnis beigetragen hat. Die Hauptursache liegt in der inneren Logik des Kapitalismus selbst und in seiner besonderen Dynamik von Akkumulation und Wettbewerb. Natürlich kann unmittelbar, direkt zugeteilte Arbeit begleitet sein von Finanzbuchhaltung; das ist in den bürokratisch geplanten Wirtschaftssystemen der UdSSR, Chinas oder Osteuropas. der Fall. Das aber bedeutet keineswegs Zuteilung über den Markt. Wenn die Ersatzteile für Lastwagen bei General Motors im Betrieb X, die Karosserien für die Fahrzeuge im Betrieb Y hergestellt werden und die Montage im Betrieb Z durchgeführt wird, dann bedeutet die Tatsache, daß die Computerausdrucke, die den Transport der Ersatzteile begleiten und bis ins Kleinste gehende Kostenberechnungen enthalten, keineswegs, daß der Betrieb X Ersatzteile an den Betrieb Y „verkauft“. Verkauf beinhaltet einen Wechsel des Eigentümers und zugleich eine tatsächliche Aufsplitterung der Entscheidungsgewalt, die eine wirkliche Autonomie der Eigentums- und der finanziellen Interessen widerspiegelt. Nicht der Markt, sondern das geplante Ziel der Lastwagenproduktion bestimmt die Anzahl der herzustellenden Karosserien. Die Karosseriebau-Werkstatt kann nicht „bankrott“ gehen, weil sie „zu viele“ Einheiten an die Montage-Werkstatt geliefert hat.
Natürlich herrscht nach wie vor eine kapitalistische Marktwirtschaft in dem Sinne, daß alle diese Vorgänge typischerweise auf das Stadium der Zwischenverarbeitung von Waren beschränkt sind –d. h. der Waren, bevor sie den Endkunden erreichen. (Wir sagen hier Kunde statt Verbraucher, weil der Kunde auch eine andere Fabrik sein kann, die Maschinen, oder der Staat, der Waffen kauft). Aber ihre Wirkungsweise beruht mehr und mehr auf Mechanismen, die nicht vom Markt ausgehen, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Produktion, sondern auch auf dem der Zirkulation. Die Tatsache, daß die ökonomische Vergesellschaftung der Arbeit unter der Herrschaft des Kapitals begleitet wird von und verflochten ist mit zunehmend politischen Formen der Arbeitszuteilung, die nicht dem Markt entspringen, macht die Widersprüche im ganzen Prozeß nur noch explosiver.
Planung
Wir haben das Wort „Planung“ gebraucht. Aber der Begriff selber muß bestimmt werden. Planung ist nicht gleichzusetzen mit „perfekter“ Zuteilung von Ressourcen, auch nicht mit „wissenschaftlicher“ Zuteilung, nicht einmal mit „humaner“ Zuteilung. Planung bedeutet schlicht „direkte“ Zuteilung, ex ante(im vorhinein). Als solche ist sie das Gegenteil von Zuteilung über den Markt, die ex post(im nachhinein) stattfindet. Dies sind die beiden grundsätzlichen Arten der Zuteilung von Ressourcen; sie unterscheiden sich wesentlich voneinander, obwohl sie gelegentlich in prekären und hybriden Übergangsformen, die sich nicht automatisch selbst reproduzieren, kombiniert auftreten können. Sie folgen jedoch einer von Grund auf verschiedenen inneren Logik. Sie setzen verschiedene Bewegungsgesetze in Gang. Sie schaffen andere Motivationen unter den Produzenten und Organisatoren der Produktion, und sie schlagen sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Werten nieder.
Beide Arten der Arbeitszuteilung hat es im breitesten Umfang im Verlauf der Menschheitsgeschichte gegeben. Beide sind also durchaus „machbar“. Beide sind auf die verschiedenste Art und mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen angewandt worden. Es gibt „despotische“ Planung und „demokratische“ Planung (wer letzteres leugnet, hat sich niemals mit einem Bantudorf in der vorkolonialen Zeit befaßt). Es gibt eine Planung, die auf Routine, Gewohnheit, Tradition, Magie, Religion und Unwissenheit beruht und den Regeln von Regenmachern, Schamanen, Fakiren und Analphabeten aller Art gehorcht. Schlimmer noch: es gibt eine Planung, die von Generälen bestimmt wird; denn jede Armee beruht auf einer Zuteilung von Ressourcen a priori. Es gibt auch eine Planung, die auf halb rationale Weise von Technokraten organisiert wird, oder auf höchster Ebene von wissenschaftlicher Intelligenz, von Arbeitern und uneigennützigen Spezialisten. Doch was auch immer die Form der Planung sein mag, sie bedeutet stets Zuteilung von Ressourcen a priori(einschließlich der Arbeitskräfte), durch die vorsätzliche Entscheidung irgendeines gesellschaftlichen Organs. Im Gegensatz dazu steht die Zuteilung von Ressourcen über objektive Marktgesetze, die a posteriorivorher zersplitterten Entscheidungen, die getrennt voneinander oder autonom von privaten Körperschaften getroffen wurden, entgegenwirken oder diese korrigieren.
So gesehen hat es Marktwirtschaften im Sinne einer Zuteilung von Ressourcen ex posthistorisch in den unterschiedlichsten Formen gegeben. Im Prinzip kann es Marktwirtschaft mit „perfekt“ freiem Wettbewerb geben, obwohl dies in der Praxis kaum jemals verwirklicht worden ist. Es kann Marktwirtschaften geben, die durch die Vorherrschaft mächtiger Monopole in eine Schieflage geraten, weil diese weite Bereiche der wirtschaftlichen Aktivität kontrollieren und über lange Zeiträume damit die Preise festlegen. Freie Märkte können mit brutalen Formen der Selbstherrschaft und des Despotismus einhergehen, wie dies unter dem Absolutismus im 18. Jahrhundert der Fall war, oder unter dem Zarismus im 19. Jahrhundert, ganz zu schweigen von den verschiedensten Formen der Militärdiktatur oder der faschistischen Diktaturen im 20. Jahrhundert. Sie können aber auch mit fortgeschrittenen Formen parlamentarischer Demokratie kombiniert sein, wie das in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts der Fall war – wenn auch in weniger als zwanzig von den einhundertfünfzig Ländern, die die kapitalistische Welt ausmachen.
Marktwirtschaften können das Elend breiter Massen verschärfen, indem sie ihren Lebensstandard absolut senken, wie dies in den meisten Ländern des Westens den größten Teil des 18. und des 19. Jahrhunderts hindurch der Fall war, in Osteuropa bis ins 20. Jahrhundert hinein, und wie es heute noch für mindestens die Hälfte, wenn nicht mehr, der Einwohner der südlichen Hemisphäre zutrifft. Sie können auch, unter anderen Umständen, zu einer erheblichen Steigerung des durchschnittlichen Lebensstandards der Bevölkerung führen, wie dies im Westen in den dreißig Jahren der Fall war, die dem Ersten Weltkrieg vorangingen, und in dem viertel Jahrhundert, das auf den Zweiten Weltkrieg folgte. Aber in all diesen gegensätzlichen Fällen ist es immer das Marktprinzip, das herrscht, d. h. eine Zuteilung der Ressourcen a posteriori, bestimmt durch den Verkauf und den Gewinn (im Kapitalismus: Profit).
Historisch betrachtet erreichte die Marktwirtschaft den Höhepunkt ihrer Verbreitung in der Zeit des Übergangs von der kleinen Warenproduktion zur Anfangsphase des Kapitalismus mit relativ kleinen Betrieben, in der laissez-faire-Welt der Mitte des 19. Jahrhunderts. Danach gerieten rein marktwirtschaftliche Grundsätze der Zuteilung zunehmend mit den Erfordernissen einer rational geplanten Produktion innerhalb der großen Fabrik und des Großunternehmens in Konflikt. Engels formulierte diesen Widerspruch in einer berühmten Passage des Anti-Dühring eindrucksvoll so: „Je mehr die neue Produktionsweise auf allen entscheidenden Produktionsfeldern und in allen entscheidenden ökonomischen Ländern zur Herrschaft kam und damit die Einzelproduktion bis auf unbedeutende Reste verdrängte, desto greller mußte auch an den Tag treten die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung …
Dieser Widerspruch zwischen vergesellschafteter Produktion und kapitalistischer Aneignung stellt sich jetzt so dar, daß die gesellschaftliche Organisation der Produktion innerhalb der Fabrik sich zu dem Punkt entwickelt hat, wo sie unverträglich geworden ist mit der neben und über ihr bestehenden Anarchie der Produktion in der Gesellschaft.“ [1] Wir haben selber im Spätkapitalismusdas Argument angeführt, daß man aus diesem grundlegenden Widerspruch ein allgemeineres Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt (des gesellschaftlichen Überbaus wie auch der Basis) ableiten könne, und zwar den Widerspruch zwischen den gleichzeitigen Tendenzen zu Teilrationalität und zu globaler Irrationalität im Kapitalismus.
Die beiden verschiedenen Systeme der Zuteilung von Ressourcen stehen in struktureller Beziehung –sie sind sogar weitgehend identisch – mit zwei entgegengesetzten Arten der Anpassung der Produktion an die Bedürfnisse. Denn jede menschliche Gesellschaft ist letztendlich auf Verbrauch ausgerichtet, da es ohne den Verbrauch der Produzenten, also der Reproduktion ihrer Arbeitskraft, keine Produktion, keine Arbeit oder menschliches Überleben überhaupt geben könnte. Nun gibt es aber grundlegend nur zwei Wege, die laufende Produktion den Bedürfnissen anzupassen. Entweder nimmt man diese Bedürfnisse als etwas von vornherein gegebenes an, als ex antevon welcher gesellschaftlichen Körperschaft auch immer gesetzt, so daß die Produktion so organisiert wird, daß diese Bedürfnisse befriedigt werden. Oder aber sie gelten als unbekannt oder jedenfalls als ungewiß, so daß der Markt gezwungen ist, sie ex post durch die Ausgaben für die „effektive Nachfrage“ zu enthüllen.
Die Debatte
Nach dem Zweiten Weltkrieg vertrat die herkömmliche bourgeoise Auffassung die Meinung, die Nachfrage selbst sei in der Epoche der antizyklischen Wirtschafts- und Wohlfahrtspolitik in gewissem Maße durch Gestaltung und Intervention der öffentlichen Hand beeinflußbar. Aber im vergangenen Jahrzehnt hat es gegen keynesianische Ideen und Techniken in der kapitalistischen Welt eine scharfe Reaktion gegeben und eine zügellose Rehabilitierung des Marktes und der Warenproduktion als zivilisatorische Werte an sich. Dieser Wandel beeinflußte auch weitgehend die Linke. Heute besteht die Gefahr, daß das gesamte sozialistische Gedankengebäude, das älter ist als Marx, dem er aber wissenschaftlichen und systematischen Ausdruck verliehen hat, das eine Kritik der Warenproduktion und des Marktes an sich darstellt und eine gründliche historische Entmystifizierung der theoretischen Annahmen von Hobbes, Locke und Smith, unterschiedlos über Bord geworfen wird. Denn es sind nicht nur konservative Akademiker oder Politiker, sondern immer mehr Sozialisten, vor allem auch zahlreiche linke Sozialdemokraten und Eurokommunisten, die jetzt in ihrem gesellschaftlichen Denken bürgerliche Axiome wiederentdecken und wieder aufnehmen, obwohl sie keinerlei wissenschaftlichen oder empirischen Gehalt haben: sie sind schlicht Gegenstand blinden Glaubens oder Aberglaubens. Der logische und weitverbreitete Schluß, der aus diesem Meinungsumschwung gezogen wird, ist der Unglaube auch nur an die Möglichkeit bewußter Planung und die Übernahme, wenn nicht gar Kultivierung, der Marktideologie, die sich direkt gegen die Sache des Sozialismus richtet. Bei den aktuellen Diskussionen geht es in Wirklichkeit nicht um die kurzfristige Frage, wie weit man in der Zeit unmittelbar nach einer antikapitalistischen Revolution gezwungen ist, auf Warenaustausch zurückzugreifen, sondern ob es sich überhaupt lohnt, für das langfristige Ziel des Sozialismus, die klassenlose Gesellschaft, die aufzubauen man vielleicht hundert Jahre braucht, einzutreten, und warum dies Ziel verwirklicht werden soll. Das war es, worum es jener langen Reihe von Denkern ging, die von Babeuf und SaintSimon bis zu Engels und Rosa Luxemburg reicht und auch für uns heute die zentrale Frage bleibt, wenn wir Alec Noves „Ökonomie des machbaren Sozialismus“ lesen.
Das bringt mich in eine Schwierigkeit, in die jeder gerät, der versucht, auf Alec Nove und andere Verfechter des „marktwirtschaftlichen Sozialismus“ einzugehen. Sie möchten die ernsthaften Funktionsmängel der Übergangswirtschaften in der Sowjetunion, Osteuropa und China analysieren und korrigieren, was an sich eine legitime und notwendige Aufgabe ist. Wir glauben nicht, daß diese Gesellschaften in irgendeiner Hinsicht sozialistisch sind. Noch glauben wir, daß der Sozialismus, wie Marx ihn definiert hat, in diesen Ländern kurz vor seiner Verwirklichung steht. In keinem dieser Länder ist die radikale Abschaffung der noch bestehenden Marktverhältnisse im Augenblick wünschenswert oder praktikabel. Aber die ganze Stoßrichtung von Noves Buch geht dahin zu argumentieren, daß „marxistischer Sozialismus“, wie er klassisch definiert wurde, nirgendwo auf der Tagesordnung steht und von Anfang an eine utopische Vorstellung war. Mit anderen Worten: Noves Argumente beziehen sich nicht nur auf die Übergangsperiode mit ihren besonderen wirtschaftlichen Problemen, sondern auf den Charakter, die Natur des Sozialismus selbst. Beweise, die aus der Erfahrung der Sowjetunion abgeleitet werden, auf der die ganze historische Last der Rückständigkeit, Kriegszerstörung und bürokratischer Mißwirtschaft lag, werden angeführt, um den klassischen Argumenten gegen sozialistische Planung als solche Gewicht zu verleihen. Muß man aber nicht fragen, ob die besonderen Probleme in den Wirtschaften sowjetischen Typs nicht teilweise auf die unreifen Bedingungen für eine Verallgemeinerung der Vergesellschaftung zurückzuführen sind? Ich glaube sogar, daß man beweisen kann: es gibt objektive Tendenzen in den fortgeschrittensten Ländern, die darauf hinweisen, daß es dort die materiellen, technischen und menschlichen Ressourcen gibt, die für eine Planung notwendig sind; und in diesen fortgeschrittenen Gesellschaften zeigt sich auch, wie hoch die Kosten sind, die dafür gezahlt werden. daß es dort keine Planung gibt. Ganz sicher muß sich doch jedes realistische Programm, das mit der Massenarbeitslosigkeit, mit der Überausbeutung weiblicher Arbeitskräfte oder ethnisher Minderheiten, mit der gewaltigen ökologischen Verantwortungslosigkeit der Konzerne und Regierungen fertig werden. will, auf völlig neue gesellschaftliche Prioritäten stützen, die mit Hilfe wirklicher Vergesellschaftung und demokratischer Planung festgelegt werden müssen. Marx selbst hat die Warenproduktion („Marktwirtschaft“) im Sozialismus nicht nur aus Gründen der wirtschaftlichen Effizienz verworfen, oder aus blindem Glauben in das Proletariat. Es wäre absolut falsch, das gewaltige Gebäude an sozialistischer Tradition, das in seinen Schriften gipfelt, einfach deswegen beiseite schiebcn zu wollen, weil sein Werk auch fälschlicherweise von den sowjetischen Verfechtern der bürokratischen Zentralisierung in Anspruch genommen wird, die sich auf Marx berufen. Dies zu tun, wäre ebenso falsch wie die Verwerfung des Grundsatzes der Menschenrechte, nur weil auch reaktionäre Kapitalisten sich darauf berufen.
Einwände
Versuchen wir nun, auf einige der zentralen Einwände einzugehen, die Alec Nove gegen das erhebt, was er für die klassische marxistische Auffassung von sozialistischer Planung hält. Ausgehend von seiner unbestrittenen Kenntnis der Sowjetwirtschaft lautet sein Argument, in der Sowjetunion würden wahrscheinlich zwölf Millionen verschiedene Güter produziert. Nur der Markt könne deshalb die Funktion ausüben, diese nach rationalen Kriterien zuzuteilen, weil die Zahl der zu treffenden Entscheidungen sonst einfach zu groß sei, als daß sie von irgendeiner Form der demokratischen Assoziation der Produzenten getroffen werden könnten. [2]
Was fangen wir mit diesem Argument an? Zunächst sei ein Mißverständnis geklärt. Die Zahlen, die Nove angibt, umfassen eine gewaltige Anzahl von Zwischenprodukten und Ersatzteilen, ebenso wie besondere Sorten von Ausrüstungsgütern, mit denen der normale Bürger niemals etwas zu tun hat und die er nie konsumiert. Die Zahlen umfassen auch außerordentlich viele Varianten des gleichen Verbrauchsgutes. In den westlichen Gesellschaften reichen diese von zehn verschiedenen Arten von Reinigungsmitteln bis hin zu dreißig Sorten von Brot usw. Gewöhnlich werden die Menschen wohl nur eine oder zwei Sorten konsumieren, aber nicht alle. Sich dies klarzumachen ist wichtig, um die Schwierigkeiten zu definieren, vor denen Nove steht. Denn in Wirklichkeit ist es nicht so, daß der Markt in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Millionen von Waren „verteilt“ – seien es Verbrauchs- oder Produktionsgüter. Im alleräußersten Fall dürften private Verbraucher in ihrem ganzen Leben wohl nur einige tausend verschiedene Waren kaufen (und selbst dies dürfte für viele von ihnen eine übertrieben hohe Schätzung sein). Sie haben gar keine Zeit, „Millionen“ verschiedener Waren zu konsumieren oder auf „Marktsignale“ zu reagieren, wenn sie diese Güter „auswählen“. Die von liberalen Wirtschaftswissenschaftlern und seinerzeit von Stalin gehegte Vorstellung, es gebe einen „unbegrenzten Bedarf an Verbrauch“, dessen Befriedigung eine „unbegrenzte Anzahl von Gütern“ notwendig mache, ist schlicht dumm. Man kann keine unbegrenzte Anzahl von Gütern in einer begrenzten Zeit verbrauchen, und unglücklicherweise ist unser Verweilen auf dieser Erde absolut begrenzt!
Die Lage ändert sich nicht wesentlich, wenn man auch die Produktionsgüter (einschließlich der Zwischenprodukte) mitberücksichtigt. Die Masse der Zwischenprodukte wird, wie bereits bemerkt, überhaupt nicht über den Markt zugeteilt. Sie wird auf Bestellung gefertigt. Das ist offensichtlich. Weniger beachtet wird aber, daß dies heute auch auf die meisten größeren Maschinen zutrifft. Man geht doch nicht in den Supermarkt, um dort hydroelektrische Turbinen für eine Talsperre zu kaufen; diese werden unter Angabe sehr genauer, bis ins kleinste Detail gehender Präzisierungen bestellt. Sogar wenn das durch eine öffentliche Ausschreibung geschieht, ist es doch nicht das gleiche wie die „Zuteilung über den Markt“. Die verschiedenen Kostenvoranschläge bedeuten doch nicht, daß tatsächlich verschiedene Produkte hergestellt werden, unter denen man eine Auswahl treffen kann. Sie führen doch dazu, daß nur ein Produkt wirklich hergestellt wird, das dann automatisch gebraucht wird. Das gleich Verfahren kann natürlich auch angewandt werden, ohne daß ein Marktmechanismus dazwischentritt. Statt miteinander konkurrierende Angebote zu vergleichen, könnte man die unterschiedlichen Produktionskosten in den verschiedenen Produktionseinheiten berechnen und dem billigsten Lieferanten den Zuschlag geben, vorausgesetzt. daß sowohl die gewünschte Qualität als auch die technischen Details eingehalten werden.
So gelangen wir zu einer ziemlich verblüffenden Schlußfolgerung. Bereits heute wird in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern die Masse der Verbrauchs- wie auch der Produktionsgüter keineswegs als Reaktion auf „Marktsignale“ produziert, die sich von Jahr zu Jahr, oder gar von Monat zu Monat änderten. Die Masse der heutigen Produktion richtet sich nach Verbrauchsmustern, die sich eingependelt haben und nach im vorhinein festgelegten Produktionstechniken, die weitgehend, wenn nicht gar vollständig vom Markt unabhängig sind. Wie ist es dazu gekommen? Es ist genau das Ergebnis der objektiv zunehmenden Vergesellschaftung der Arbeit.
Warum soll denn die Zuteilung der Ressourcen, die für die Produktion dieser Güter benötigt werden und die im großen und ganzen im voraus bekannt sind, nicht durch die assoziierten Produzenten mit Hilfe moderner Computer erfolgen können, die durchaus mit den „Millionen von Gleichungen“ fertig werden können, die Nove so entmutigend findet? Sicher ist richtig, daß Verbrauchsgewohnheiten sich ändern. Ein langfristiger Wandel in der Technologie kann zu einer radikalen Änderung in der Zusammensetzung der Verbrauchsgüter führen und zur Veränderung der Art und Weise ihrer Herstellung. Vor einem Jahrhundert gehörten Pferdewagen mit allem Zubehör zu den Standard-Produktionsgütern. Heute sind Autos an ihre Stelle getreten, mit den entsprechenden Folgen (Benzin, Autobahnen, Ersatzteile, usw.) Vor einem Jahrhundert wurde für den Häuserbau kaum Zement, Stahl oder Glas und überhaupt kein Aluminium verwandt. Heute spielen Holz und Ziegel beim Bau der meisten Wohnungen eine viel geringere Rolle.
Aber Veränderungen dieser Art erfolgen in breitem Umfang nur langfristig. Außerdem wird der Anstoß dazu niemals vom Markt oder vom Verbraucher gegeben. Er geht von Neuerern aus und von mit ihnen verbundenen Produktionseinheiten. Es gab nicht zehntausend Verbraucher, die händeringend herumgelaufen wären und gerufen hätten: „Lieber Henry Ford, gib uns Autos! Liebe Freunde vom Apple Konzern, versorgt uns doch bitte mit Personalcomputern!“ Es gab Geschäftszweige (erfinderische, in der Tat! – Marx hat auf den Druck zu steter technologischer Veränderung und Innovation, der durch die innerkapitalistische Konkurrenz und den Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit hervorgerufen wird, über ein halbes Jahrhundert vor Schumpeter hingewiesen), die neue Produkte für den Konsum lancierten, um so die notwendige Nachfrage zu schaffen, die es erlaubt, daß sie möglichst viele von ihren Waren verkaufen.
Die Kompliziertheit der „Zuteilung“ in einer fortgeschrittenen industriellen Wirtschaft, wie sie Nove darstellt, ist also weitgehend ein Scheinproblem. Niemand wird leugnen, daß eine demokratische sozialistische Planung auf praktische Schwierigkeiten stößt, von denen wir heute schon einige voraussehen können, andere noch nicht. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, daß es technisch unmöglich sei, sie zu überwinden, wie Nove es darstellt. Seine Kritik der marxistischen Auffassung vom Sozialismus beschränkt sich jedoch nicht auf die Methoden, die diese für den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft vorschlägt, sondern richtet sich gegen das Ziel des Sozialismus selbst. Denn der Überfluß, der nach der Marxschen Vorstellung vom Kommunismus die Vorbedingung für diesen ist, ist, wie Nove behauptet, völlig utopisch. Hierzu sagt er: „Überfluß sei definiert als das, was nötig ist, um Bedürfnisse zum Null-Tarif zu befriedigen, so daß kein vernünftiger Mensch unzufrieden bleibt oder von irgend etwas mehr verlangt (zumindest von dem, was reproduzierbar ist). Diese Vorstellung spielt in der Marxschen Vision vom Sozialismus/Kommunismus eine entscheidende Rolle. Überfluß beseitigt den Konflikt über die Zuteilung von Ressourcen, da es ja der Definition nach für jeden genug gibt, so daß es keine einander ausschließenden Entscheidungen gibt.... Darum gibt es auch für die verschiedenen Menschen oder Gruppen keinen Grund, miteinander zu konkurrieren, für sich selbst in Besitz zu nehmen, was für alle frei verfügbar ist. Laßt mich als Beispiel die Wasserversorgung in schottischen Städten anführen. Natürlich gibt es sie nicht umsonst; sie verursacht Kosten. Arbeit muß verausgabt werden für den Bau von Wasserreservoirs und Rohren zur Reinhaltung des Wassers, für Reparaturen, Instandhaltung usw. Es gibt jedoch sehr viel Wasser. Es ist nicht nötig, den Verbrauch des Wassers durch „Rationierung über den Preis“ zu regeln, denn es ist für alle Zwecke in ausreichender Menge vorhanden. Es wird nicht in irgendeiner Hinsicht „vermarktet“, noch auch wird die Versorgung durch irgendein „Wertgesetz“ oder das Kriterium des Profits bestimmt. Es gibt keine Konkurrenz um das Wasser, keinen Konflikt.... Wären andere Güter ebenso leicht und frei erhältlich wie das Wasser in Schottland, dann könnte sich ein neues menschliches Verhalten entwickeln: die Gewinnsucht würde absterben; Besitzrechte und Verbrechen, die Eigentumsdelikte sind, würden ebenso verschwinden.“ [3]
Noves Fehlschlüsse
Es gibt in dieser Schlüsselpassage eine ganze Reihe von Ungereimtheiten. Nove beginnt damit, daß er uns sagt, „Überfluß“ bedeute fehlenden Konflikt über die Zuteilung von Ressourcen. Damit aber reduziert er stillschweigend die „Zuteilung von Ressourcen“ auf die Bedürfnisse der Konsumenten, denn natürlich würde es keinen „Überfluß an Wasser“ in Schottland geben, wenn dort fünfzig Kraftwerke errichtet würden. In anderen Worten, Nove geht von der stillschweigenden Annahme aus, daß der „Überfluß“ bestimmt wird durch die aktuellen lokalen Bedürfnisse der Verbraucher und nur durch sie, während alles andere gleich bleibt. Anders ausgedrückt: er hält die augenblicklichen Verbrauchergewohnheiten (und Produktionsmuster) für gegeben und stabil. Aber er legt diese Annahme nicht offen. Würde er es tun, würde er damit selber seine ursprüngliche Behauptung widerlegen, Überfluß sei unmöglich und Marxscher Sozialismus darum nicht machbar.
Es gibt noch einen weiteren Widerspruch in seiner Argumentation. Einerseits vermerkt Alec Nove, daß um den „Überfluß an Wasser“ für die Einwohner Schottlands bereitzustellen, Arbeit für Rohre, Reservoirs, Unterhalt usw. verausgabt werden muß. Nun ist aber Arbeit „relativ knapp“. Die gleiche Arbeitskraft, die in Wasserrohre und Reservoirs investiert wird, könnte auch für eine ganze Reihe von Alternativen aufgewendet werden: z. B. für den Bau von Golfplätzen, Kraftwerken oder sogar Raketen. Dennoch kann auf geheimnisvolle Weise, trotz des im allgemeinen unvermeidlichen „Konflikts über die Zuteilung von Ressourcen“ Wasser in Schottland zum Null-Tarif verteilt werden und offenbar entsteht kein Konflikt über die Zuteilung der Arbeit, die dazu notwendig ist. Die Verbindung, die Nove ebenso wie unzählige andere Ökonomen, ganz zu schweigen von Soziologen und menschenfeindlichen Philosophen, zwischen allgemeiner Knappheit und spezifischen Verhaltensmustern herstellt, ist also nicht bewiesen, das ist das mindeste, was man sagen kann. Denn sein eigenes Beispiel beweist, daß Menschen sich in Bezug auf bestimmte Güter, unter besonderen Umständen, durchaus auf nicht gewinnsüchtige Weise verhalten können, vorausgesetzt, es sind eine Anzahl von Bedingungen erfüllt.
Welches sind diese Bedingungen? Warum ist die „Rationierung über den Preis“ beim Verbrauch von Wasser durch die schottischen Bürger nicht nötig? Überraschenderweise erwähnt Alec Nove nicht den offensichtlichen wirtschaftlichen Grund dafür, obwohl es marxistischen und liberalen Wirtschaftswissenschaftlern nicht schwer fallen würde, hierin übereinzustimmen. Derselbe Grund erklärt auch, warum das gleiche nicht zuträfe, wenn die Anzahl von Kraftwerken in dieser Gegend vervielfacht würde. Die „Rationierung über den Preis“ ist deshalb nicht nötig weil die Veränderung der Nachfrage nach Wasser für den privaten Durchschnittsverbraucher gegen Null geht. Wahrscheinlich gibt es infolge der Belieferung mit Wasser zum Null-Tarif sogar eine leichte „Verschwendung“. Aber die Verschwendung fällt weniger ins Gewicht als es eine „Festsetzung der Kosten“ dieses Verbrauchsgutes wäre (durch Installation von Wasseruhren, die Einstellung und Kontrolle von Personal, die Ausstellung von Rechnungen usw.). Unter diesen Bedingungen macht es sich schlicht nicht bezahlt, für Wasser einen Preis zu fordern. Die voraussehbare feste (tendenziell sinkende) Nachfrage ist das empirisch bestimmende Schlüsselelement. Alles andere ergibt sich daraus.
Wenn aber ein Überfluß an Wasser trotz fortbestehender Knappheit an Ressourcen insgesamt vorstellbar ist, warum kann dann das gleiche nicht auch für andere Güter und Dienstleistungen unter ähnlichen Umständen gelten? Ist es wirklich möglich, daß schottisches Wasser das einzige Gut ist, für das die Veränderung der Nachfrage gegen Null geht? An dieser Stelle bewahrheitet sich die Marxsche „Vision vom Sozialismus/Kommunismus“. Denn mit fortschreitendem gesellschaftlichem Reichtum, dem Wachstum der Produktivkräfte und der Entfaltung von nachkapitalistischen Einrichtungen kann die Anzahl von Waren und Dienstleistungen, für die bislang eine Inelastizität der Nachfrage gilt, die aber dann umsonst verteilt werden könnten, allmählich zunehmen. Wenn sagen wir bis zu 60 oder 75 % aller Verbrauchsgüter und Dienstleistungen auf diese Weise zugeteilt werden, wird das steigende Anwachsen der kostenlosen Versorgung die „menschlichen Verhältnisse“ dramatisch verändern.
In Noves Schlußfolgerungen hat sich auch eine andere petitio prinicipii(logischer Beweisfehler) eingeschlichen. Er scheint anzunehmen, daß „Eigentumsrechte“ die unvermeidliche Folge von „Knappheit“ sind. Damit Knappheit solche Rechte aber überhaupt hervorbringt, muß es doch erst besondere gesellschaftliche Einrichtungen geben, die die private Aneignung von Produktionsmitteln und die Trennung der Produzenten vom freien Zugang zu ihnen ebenso wie zu den natürlichen Grundlagen ihres Lebensunterhalts (Land, Wasser, Luft) ermöglichen, erleichtern, aufrechterhalten, verteidigen. Diese wiederum hängen mit der Herausbildung bestimmter Gesellschaftsklassen zusammen, die besondere Interessen verteidigen im Gegensatz zu anderen Gesellschaftsklassen, die andere Interessen verteidigen. „Knappheit“ war in einem traditionellen Bantu-Dorf durchaus eine Realität. Dennoch führte sie Jahrtausende hindurch nicht zu „Eigentumsrechten“ an Land. Würden die Menschen in Schottland (oder Großbritannien, oder Europa oder in einem Sozialistischen Weltenbund) beschließen, potentiellen Investoren in hydroelektrische Energie keine Eigentumsrechte einzuräumen, dann könnte kein ökonomisches Gesetz auf geheimnisvolle Weise das Wasser, das sich im öffentlichen Besitz befindet, einfach infolge von Knappheit in Privatbesitz verwandeln. Sie müßten vielleicht die „Kosten tragen“ für teurere Energie (d. h. für einen größeren Einsatz von verfügbarem Material und menschlichen Ressourcen zur Erzeugung von Energie), weil sie es vorziehen, den Verbraucher im Überfluß mit sauberem, kostenlosen Wasser zu versorgen. Das aber wäre ihre Entscheidung und ihr Recht, als Verbraucher und als Bürger.
Aus dem gleichen Grund ist es nicht weniger falsch, aus der Knappheit eine allgemeine „menschliche Gewinnsucht“ abzuleiten. Eher gibt es eine Neigung zur Gewinnsucht; diese hat ihren Grund jedoch nicht so sehr in der Knappheit an Gütern im allgemeinen, oder sogar in der Knappheit an bestimmten Gütern, sondern in der relativen Intensität bestimmter Bedürfnisse. Ein Rolls-Royce ist ein sehr schönes Auto. Es gehört auch zu den knappen Gütern. Viele Autofahrer (und gewiß auch die meisten Autoliebhaber) würden liebend gern einen Rolls Royce besitzen. Aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung schlägt sich nicht darum, einen Rolls Royce zu ergattern. Es zahlt sich nicht aus, jeden Pfennig zu sparen, um um jedem Preis einen „knappen Rolls“ zu bekommen. Die Bevölkerung verspürt keinen mächtigen „Trieb“, um in den Besitz dieses Wagens zu gelangen. Sie ist nicht neurotisch frustriert, wenn sie weiß, daß sie niemals einen bekommen wird. So kann also der „Besitztrieb“, die „Gewinnsucht“ absterben, lange ehe die „Knappheit überhaupt“ verschwunden ist – genauso wie er bei den Menschen in Schottland hinsichtlich des Wassers abgestorben ist. Es genügt, daß die stärksten Bedürfnisse befriedigt werden, oder daß der Hunger der Verbraucher auf diesem Gebiet gesättigt wird. Das ist die grundlegende Annahme, auf der Marx seine Vision vom Sozialismus aufgebaut hat. Sie ist absolut realistisch und vorstellbar.
Als Antwort auf Noves Kritik am marxistischen Erbe haben wir den Begriff der „relativen Intensität der Bedürfnisse“ eingeführt. Dieser Begriff enthält eine Reihe von Implikationen für die Diskussion um die sozialistische Planung, die wir nun behandeln wollen. Im Westen findet die veränderliche Intensität der Bedürfnisse der Verbraucher heute ihren Ausdruck in ihrem unterschiedlichen Verhalten Gütern und Dienstleistungen gegenüber, die einen Preis haben, auch wenn sie kein „Preisschild“ tragen. Das muß nicht indirekt in Geld gemessen werden. Die Bedürfnisse können empirisch festgestellt werden, z. B. indem man die Veränderungen der physischen Verbrauchergewohnheiten untersucht, wenn das Einkommen plötzlich sinkt (wie es für erhebliche Teile der Bevölkerung während der jetzigen Depression der Fall war). Bestimmte verbreitete Muster werden dann deutlich erkennbar. Denn einige Ausgaben werden früher als andere gekürzt. Bestimmte Sorten von Gütern innerhalb einer größeren Kategorie von Verbrauchsgütern werden eingeschränkt, während andere zunehmen (z. B. wird mehr Schweinefleisch und weniger mageres Rindfleisch verbraucht). Die Ausgaben für die Gesundheit sind gleichbleibender als die für Toilettenartikel. Das sind keine willkürlichen Vorlieben. Einer der wichtigsten Erkenntnisfortschritte, die im Kapitalismus erzielt wurden – in gewissem Sinn ist das ein Kompliment für das Kapital – ist, daß es heute wegen des gestiegenen Lebensstandards zuerst der Mittelklassen, dann breiter Bevölkerungsschichten eine große Anzahl an empirischen statistischen Daten über die Verbrauchergewohnheiten gibt, die in zahlreichen Ländern einander auffallend ähnlich sind. Sie legen eine objektive Rangfolge für hunderte Millionen Menschen über mehrere Jahrzehnte bloß. Jede ernsthafte Untersuchung der menschlichen Bedürfnisse muß von diesen Tatsachen ausgehen.
Aus dieser Untersuchung ergibt sich ein Muster, das der preußische Statistiker Engel bereits vor 150 Jahren festgestellt hat. Wenn mit dem Wachstum der Wirtschaft die Bedürfnisse mannigfaltiger werden, kann man unter ihnen eine bestimmte Rangfolge festmachen. Es gibt Grundbedürfnisse, zweitrangige Bedürfnisse; es gibt auch Luxus- oder marginale Bedürfnisse. In einer groben Einteilung – und hier lassen wir uns gern von empirischen Daten, nicht aber von metaphysischen Spekulationen korrigieren – würden wir in die erste Kategorie einreihen: die Grundnahrungsmittel und Getränke, Kleidung, Wohnung und den dazugehörigen Standardkomfort (Heizung, Elektrizität, fließendes Wasser, sanitäre Anlagen, Möbel); Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen; garantierter Transport vom und zum Arbeitsplatz; und ein Mindestmaß an Erholzeit und Muße, die erforderlich sind, um die Arbeitskraft bei einem gegebenen Ausmaß an Arbeitstempo und Streß zu reproduzieren. Das sind die Bedürfnisse, die nach Marx befriedigt werden müssen, wenn ein durchschnittlicher Lohn- und Gehaltsempfänger bei einem gegebenen Maß an Leistung seine Arbeit fortsetzen soll. Man kann sie in ein physiologisches Minimum und eine historisch-moralische Komponente unterteilen. Sie variieren je nach Raum und Zeit. Sie verändern sich nicht nur mit der Veränderung der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität. Sie verändern sich auch mit den großen Verschiebungen, die im Kräfteverhältnis zwischen den Gesellschaftsklassen eintreten. Aber zu jedem gegebenen Zeitpunkt, in jedem gegebenen Land sind dies objektive Daten, die auch deutlich im Bewußtsein der großen Mehrheit der Bevölkerung präsent sind. All das kann nicht wirklich verändert werden (auch nicht durch das Wirken der „Marktkräfte“), ohne gewaltige Störungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gefüge insgesamt hervorzurufen. In die zweite Kategorie von Gütern und Dienstleistungen würden wir die meisten der anspruchsvollen Speisen. Getränke, Kleidungsstücke und Haushaltsgeräte (außer den besonders ausgefallenen) einreihen, die verfeinerteren „kulturellen“ und für die „Muße“ bestimmten Güter und Dienstleistungen sowie die Privatautos (im Unterschied zum öffentlichen Transportwesen). Alle anderen Verbrauchsgüter und Dienstleistungen würden wir in die dritte Kategorie der Luxus-Ausgaben einordnen. Sicher ist es schwierig, eine genaue Grenze zwischen diesen drei Kategorien von Bedürfnissen zu ziehen. Die erste kann man am leichtesten abstecken. Der allmähliche Übergang der Bedürfnisse von der zweiten in die erste Kategorie (einschließlich der Güter und Dienstleistungen, die diese Bedürfnisse befriedigen) ist eine Folge des wirtschaftlichen Wachstums und des sozialen Fortschritts (insbesondere auf Grund des proletarischen Klassenkampfs). Bezahlter Urlaub für alle ist erst seit kurzem eine Errungenschaft der Arbeiterklasse; sie datiert von der großen Welle von Betriebsbesetzungen der Jahre 1936-37 (in Frankreich) und deren Nachwirkungen in der industrialisierten Welt. Die Unterscheidung zwischen der dritten und der zweiten Kategorie ergibt sich eher aus sozio-kulturellen Präferenzen, als daß sie ein Massenphänomen widerspiegelte. Bei all diesen Unterscheidungen ist das allgemeine Muster doch ziemlich deutlich. Die Rangordnung der menschlichen Bedürfnisse ist offensichtlich durch beides bestimmt: durch physiologische und durch gesellschaftlich-historische Momente. Diese sind weder willkürlich noch subjektiv. Man kann dieses Muster auf allen Kontinenten unter den verschiedensten Umständen antreffen, wenngleich nicht synchron, wegen der ungleichen und kombinierten Entwicklung des wirtschaftlichen Wachstums und des sozialen Fortschritts. Die Rangordnung der Bedürfnisse ist nicht das Ergebnis irgendeines Diktats, weder der Marktkräfte, noch einer despotischen Bürokratie oder aufgeklärter Experten. Sie findet ihren Ausdruck im spontanen oder halbspontanen Verbraucherverhalten selbst. Der einzige „Despotismus“, den es gibt, ist der der „großen Mehrheit“. „Exzentrische“ Minderheiten, die in absoluten Zahlen meist gar nicht so klein sind, passen in dieses allgemeine Muster nicht hinein: Abstinenzler versus Konsumenten alkoholischer Getränke; Raucher versus Nichtraucher; Vegetarier versus Fleischesser; Menschen, die sich weigern, fernzusehen oder keine Zeitungen oder Bücher lesen können oder wollen; andere, die es ablehnen, einen Arzt aufzusuchen oder sich prinzipiell weigern, ins Krankenhaus zu gehen. Dennoch – angesichts der Tatsache, daß es um sehr viele Menschen geht, Hunderte von Millionen, –werden diese Ausnahmen durch das Gesetz der großen Zahl aufgewogen, und über Zeit und Raum hinweg zeichnet sich ein Muster ab, das eine bestimmte Rangordnung von Bedürfnissen unter der überwiegenden Mehrheit der Verbraucher ergibt.
Diese Rangordnung hat noch einen weiteren, sogar bedeutenderen Aspekt. Nicht nur tendiert die Veränderung der Nachfrage gegen Null; rücken Güter, die ganz oben auf der Prioritätenliste stehen, mit jedem Schub wirtschaftlichen Wachstums Stufe um Stufe in der Rangordnung nach unten. Dies geschieht auch mit ganzen Kategorien von Bedürfnissen. Der pro Kopf-Verbrauch an Grundnahrungsmitteln (Brot, Kartoffeln, Reis, usw.) in den reichsten Industriestaaten ist heute im Sinken begriffen, und zwar sowohl dem absoluten Volumen nach wie auch ihrem Anteil an den nationalen Geldausgaben nach. Das gleiche gilt für den Verbrauch von einheimischen Früchten und Gemüsen und – zumindest dem Geldwert nach – für den Verbrauch an Unterwäsche und Strümpfen sowie an der Grundausstattung mit Möbeln. Die Statistik zeigt auch, daß trotz der zunehmenden Differenzierung der Geschmäcker und der Produkte (viele Arten von Brot und Kuchen, eine viel größere Auswahl an Nahrungsmitteln und Kleidern allgemein) der Gesamtverbrauch an Nahrungsmitteln, Kleidung und Schuhen tendenziell einen Sättigungsgrad erreicht hat und beginnt, sich rückläufig zu entwickeln, wenn man ihn in Kalorien, Quadratmetern Stoff und Paar Schuhen mißt.
Verbraucherverhalten
Diese Tatsachen widerlegen den bürgerlichen und stalinistischen Glauben an das grenzenlose Wachstum der Bedürfnisse des Durchschnitts der Menschen. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt, wenn man das am gegenwärtigen Konsumverhalten mißt. Im Westen kann man eine Tendenz zur Sättigung der Grundbedürfnisse feststellen, nicht nur, weil die Intensität des Wunschs nach Befriedigung der Bedürfnisse abnimmt, wenn eine gewisse Schwelle einmal überschritten ist, sondern auch weil sich die Motivation ändert. Rationales Verbraucherverhalten tritt allmählich mehr und mehr an die Stelle des angeblich instinktiven Wunsches, immer mehr zu konsumieren. Was hier als „rational“ bezeichnet wird, wird nicht diktiert, vorgeschrieben (sollte es auch nicht!), weder durch Marktkräfte, noch durch bürokratische Planung oder allwissende Experten. Es entwickelt sich infolge einer größeren Reife der Verbraucher selbst, wenn die Prioritäten der Menschen sich verändern und sie sich ihrer eigenen Interessen bewußter werden.
Der Verbrauch von Nahrungsmitteln liefert für diesen Prozeß ein schlagendes Beispiel. Seit undenklichen Zeiten wandelt die Menschheit am Rand von Hunger und Hungertod. Sogar im 20. Jahrhundert ist das erzwungenermaßen die Lage der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung auf unserem Planeten. Unter solchen Umständen ist es nur natürlich, daß Menschen nach Essen gieren. Fünf Jahre akuten Lebensmittelmangels im kontinentalen Europa während des Zweiten Weltkriegs genügten, eine wirkliche Explosion der Völlerei zu entfesseln, als so etwas wie ein „unbegrenzter Verbrauch“ von Nahrungsmitteln nach 1945 wieder möglich geworden war (in einigen Ländern Europas begann diese Phase erst sehr viel später). Aber wie lang hat dieses Zechgelage gedauert? Weniger als zwanzig Jahre nachdem Nahrungsmittel wieder in Fülle vorhanden waren – nur eine Generation lang! – und schon begannen sich die Prioritäten drastisch zu verschieben. Es wurde zur Regel, weniger und nicht etwa mehr zu essen. Gesundheit wurde wichtiger als satt sein. Diese Veränderungen verdankten sich nicht der „Auferlegung“ eines neuen Verbraucherverhaltens durch Ärzte oder die „Gesundheitsindustrie“ Es war der Instinkt zur Selbsterhaltung der dazu führte. Lange bevor es eine „Gesundheitsindustrie“ gab, konnte man schon ähnliche Veränderungen im Verbraucherverhalten der Reichen beobachten, die „für sich den Sozialismus bereit verwirklicht“ hatten. Zwischen den beleibten englischen und französischen Angehörigen der herrschenden Klassen anno domini 1850 und den schlanken amerikanischen Millionären ein Jahrhundert später hat es eine ganz schöne gastronomische Umwälzung gegeben. Heute finden gewöhnliche Bürger im Westen mehr Genuß an abwechslungsreicheren Mahlzeiten. Für sie ist die Kochkunst sogar zum Zeitvertreib geworden. Dennoch neigen sie dazu, ihre absolute Aufnahme an Kalorien zu senken, um zwanzig Jahre länger zu leben, statt vor der Zeit an übermäßigem Eßgenuß und Arterienverkalkung zu sterben.
Die Verbrauchergewohnheiten der Kranken oder an einer Krankheit leidenden Menschen zeigen ein ähnliches Muster. Daß sich niemand gern seine Gliedmaßen hintereinander wegoperieren läßt, nur weil dies nichts kostet, liegt auf der Hand. Aber der scharfe Anstieg im Verbrauch von Medikamenten nach dem Krieg – ebenso wie die Zunahme an Zahnprothesen und Brillen nach der Einführung eines Nationalen Gesundheitsdienstes in Großbritannien – war nicht hauptsächlich Ausdruck der passiven Unterwerfung unter den Reklamedruck der pharmazeutischen Industrie, sondern vor allem Ausdruck angestauter unbefriedigter Grundbedürfnisse. Wenn dieser Stau einmal verschwindet und ein gewisser Grad der Sättigung erreicht ist, wird jede sorgfältige und gründliche Aufklärungskampagne, die die schädlichen Auswirkungen des ungezügelten Verbrauchs von Medikamenten aufzeigt, Wirkung haben. Der Konsum von Medikamenten wird sich auf einem bestimmten Niveau einpendeln und sogar zurückgehen (bei begüterten Schichten der Gesellschaft kann man diesen Verlauf bereits feststellen). Es ist wirklich nicht übertrieben optimistisch, wenn man feststellt, daß die systematische Aufklärung der Öffentlichkeit über die Schädlichkeit des Rauchens zu einem deutlichen Rückgang des Zigarettenverbrauchs geführt hat, trotz aller Bemühungen der Tabakindustrie, das Gegenteil zu erreichen.
Aus diesen Überlegungen lassen sich zwei Schlußfolgerungen ziehen. Erstens:Da „Knappheit“ mehr und mehr für immer weniger lebenswichtige Güter gilt, wird es durchaus möglich sein, die Rolle des Geldes in der Wirtschaft insgesamt zurückzudrängen, weil Waren und Dienstleistungen, die kostenlos zur Verfügung gestellt werden, zahlreicher sein werden als solche, die man kaufen muß. Die Annahme, daß Verbraucher ihre Bedürfnisse nur indirekt artikulieren können, indem sie ihr Geld für verschiedene Güter und Dienstleistungen ausgeben, ist absurd. Warum sollten Menschen den Umweg über das Geld nehmen, um festzustellen, was sie brauchen? In Wirklichkeit ist es doch genau umgekehrt. Sie möchten eine bestimmte Menge an Nahrungsmitteln, Kleidern oder Freizeitangeboten haben, wobei sie für bestimmte Sachen eine besondere Vorliebe haben, und dann sagen sie sich: „Ich habe soundsoviel Geld, um meine Bedürfnisse zu befriedigen. Das bedeutet, daß ich mir nicht alles leisten kann und darum muß ich eine Auswahl treffen.“ Es ist doch nicht so, daß sie; erst das Geld haben, damit herumlaufen und sagen: „Weil ich soviel Bargeld der Tasche habe und die Fensterauslagen der Läden vor mir sehe, weiß ich jetzt, daß ich Hunger habe.“ Der einfachste und auch demokratischste Weg, die materiellen Ressourcen mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen in Einklang zu bringen, ist nicht, das Medium Geld dazwischenzuschalten, sondern herauszufinden, welche Bedürfnisse die Menschen haben, indem man sie danach fragt. Zweitens:Natürlich bestehen die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder heute, die morgen alle zusammen ein sozialistisches Gemeinwesen bilden könnten, aus Millionen verschiedener Menschen je mit ihren eigenen individuellen Vorlieben und Neigungen. In der Phase des Übergangs zum Sozialismus würde jegliche uniforme Standardisierung von Produkten, wie sie im Kapitalismus eingeführt wurde, nach und nach abnehmen. Ab einem gewissen Grad der Bedürfnisbefriedigung bzw. der Sättigung gibt es natürlich einen Wechsel vom passiven zum aktiven Konsum und zu einer stärkeren Individualisierung der Bedürfnisse, was mehr Kreativität erfordert, sie zu befriedigen. Im großen und ganzen würden neue Bedürfnisse wahrscheinlich in zwei Kategorien einzuteilen sein: die Bedürfnisse, die von risikofreudigen und phantasievollen Minderheiten geweckt werden, die darauf erpicht sind, mit neuen Produkten und Dienstleistungen zu experimentieren. Doch die Massenproduktion neuer Güter würde sich nicht automatisch nach diesen neuen Erfindungen richten. Sie wäre Resultat der bewußten Entscheidung der Mehrheit. Zwanzig Prozent der Bevölkerung hätten nicht das Recht, allen Bürgern neue Güter als „Allgemeingut“ aufzuzwingen, obwohl sie ihren eigenen Arbeitseinsatz erhöhen könnten, um sicherzugehen, daß diese neuen Güter hergestellt werden. Auf der anderen Seite kann es auch Fälle geben, wo die Mehrheit sich: für eine Reihe von neuen Gütern und Dienstleistungen entscheidet und der allgemeine Wirtschaftsplan von Grund; geändert werden muß, um ihn den neuen Bedürfnissen anzupassen. In der Geschichte des Kapitalismus im 20. Jahrhundert hat es solch große Umwälzungen Verbrauchergewohnheiten relativ selten gegeben. Drei größere stechen hervor: das Auto, die elektrischen Haushaltsgeräte und Plastikwaren. Sie haben das Leben von hunderten Millionen Menschen radikal verändert. Im Sozialismus würden solche Umwälzungen auf Massenebene nicht rücksichtslos und anarchisch erfolgen, sondern rational und human, und zum erstenmal auf Verlangen und unter der Kontrolle der Betroffenen selbst.
Damit würde die objektive Grundlage für das Absterben der Warenproduktion und der Geldwirtschaft geschaffen. Zugleich könnte sich die Intensität gesellschaftlicher Konflikte vermindern, vorausgesetzt, es gibt Institutionen, die die Erfüllung der Grundbedürfnisse aller zu einer Gewohnheit, Selbstverständlichkeit, alltäglichen Erfahrung machen. Dadurch würde die subjektive Basis für das Absterben der Geld- und Warenwirtschaft geschaffen. Denn der soziale Kampf ist furchtbar bitter und heftig, wenn es um Nahrungsmittel, um Land, um die grundlegenden Arbeitsbedingungen, die elementaren Grundsätze der Erziehung und der Gesundheit, um grundlegende Menschenrechte und Freiheiten geht. Es gibt allerdings kein Beispiel dafür, daß Millionäre sich tagtäglich gegenseitig umgebracht hätten, um den Zugang zu den Stränden der Bahamas nur für sich allein zu haben, oder daß Weltkriege ausgebrochen wären um Bilder alter Meister oder gar um den Zugang zur Chicagoer Börse (so schmerzlich es auch immer sein mag, wenn man das nicht hat und es haben möchte). Es können sogar gelegentliche politische Intrigen, massenhafte Korruption oder sogar Mord eingesetzt werden, um Konflikte über die Zuteilung „knapper Ressourcen“ zu lösen. Aber solchen Streit kann man nicht vergleichen mit den Schrecken der irischen Hungersnot, der großen Depression oder des indischen Kastensystems. Würden Konflikte, die durch Hungersnot, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung hervorgerufen werden, verschwinden, dann hätten wir eine andere Welt, mit anderen Verhaltensweisen und einer anderen Geisteshaltung. Wenn der „Besitztrieb“ sich auf Luxusgüter beschränkt und der Konkurrenzkampf sich um kubanische Zigarren dreht, dann hat das eine grundsätzlich andere Qualität als heutzutage. Es steht außer Zweifel, daß eine solche Welt für 99 % der Erdbewohner eine bessere Welt wäre.
Tyrannei über die Bedürfnisse?
Dennoch wird es einige geben, die diese Schlußfolgerungen ablehnen. Denn sobald wir den Begriff „Rangordnung der menschlichen Bedürfnisse“ gebrauchen, was bedeutet, daß einige von ihnen einen höheren Stellenwert besitzen als andere, kommt ein schrecklicher Verdacht auf – insbesondere aufgrund der bürokratisch zentralisierten, d. h. bürokratisch gelenkten und miserabel geleiteten Wirtschaftssysteme unserer Tage. Mit welchem Recht, im Namen welcher Autorität und mit welch unmenschlichen Ergebnissen können solche „Prioritäten“ den Menschen aufgezwungen werden? Ist das nicht ein „Weg in die Sklaverei“?
Das ist ein Argument, das Sozialisten, die sich für die menschliche Emanzipation, d. h. die Freiheit, mehr engagieren als die Verfechter jeder anderen Philosophie oder politischen Theorie, sehr ernst nehmen müssen. Es ist wichtig, damit sorgfältig und gewissenhaft umzugehen. In einer von Nove empfohlenen Veröffentlichung, „Diktatur über die Bedürfnisse“, klagt Ferenc Feher die Herrscher in der UdSSR, China und Osteuropa rundheraus an, sie praktizierten eine absolute Tyrannei über die Bedürfnisse der jeweiligen Bevölkerung. Der Standpunkt, den er vertritt, hat durchaus etwas für sich. Er ist aber auch einseitig, denn er enthält einen wichtigen eigenen Widerspruch. Die Quelle dieses Widerspruchs liegt in einer Auffassung, die in den Werken nicht nur von Ferenc Feher und Agnes Heller, sondern auch von Ota Sik, Branko Horvath, Wlodimierz Brus und vielen anderen Verteidigern einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ [4] immer wiederkehrt. Es ist kein Zufall, daß der gleiche Begriff auch in den Schriften der theoretisch anspruchsvolleren und intellektuell konsequenten Neo-Liberalen zu finden ist, so etwa bei von Mises, Hayek oder Friedman. Der Begriff, um den es geht, ist der der „gesellschaftlich anerkannten Bedürfnisse“. Für alle diese Theoretiker, was immer auch ihre sonstigen, größeren Differenzen sein mögen, bildet die Knappheit der Ressourcen die Grundlage, auf der die Wirtschaftstheorie – jede Wirtschaftstheorie – zu fußen hat.Knappheit von Ressourcen bedeutet jedoch automatisch, daß nicht alle individuellen Bedürfnisse befriedigt werden können. Das ist die stillschweigende Voraussetzung, die sich hinter der Formel „gesellschaftlich anerkannte Bedürfnisse“ versteckt: die individuellen Bedürfnisse werden nicht automatisch von der Gesellschaft anerkannt. Das gilt für die Marktwirtschaft ebenso wie für die Planwirtschaft. Die Tyrannei ist also unvermeidlich. Die einzige Frage ist, welche spezifische Form sie annimmt und welche gesellschaftspolitischen Folgen daraus jeweils entstehen.
Formen und Folgen
Für Liberale und Verfechter der „sozialistischen Marktwirtschaft“ scheint es in gleicher Weise offensichtlich, daß der Despotismus des Marktes – die „Rationierung über den Geldbeutel“ – für das Individuum weniger schmerzlich und für die persönliche Freiheit weniger schädlich ist als der Despotismus des Plans – oder schlicht die Rationierung. Das erscheint durchaus überzeugend, wenn man besondere Extreme auf der nördlichen Halbkugel – z. B. die Rationierung über Einkommensunterschiede im Wohlfahrtsstaat Schweden mit der Rationierung über den Gosplan im Rußland unter Stalin vergleicht. Aber solche Extreme sind historisch eher die Ausnahme denn die Regel. Nimmt man jedoch den historischen Durchschnitt der kapitalistischen Rationierung über Marktbeziehungen und Einkommensunterschiede, der sich durch große Massenarmut und extreme Ungleichheit der Einkommen auszeichnet (das ist der Durchschnitt der gesamten kapitalistischen Welt in den letzten 150 bis 200 Jahren), dann sieht die Schlußfolgerung ganz anders aus.
Je weniger die Grundbedürfnisse über die Einkommensverteilung befriedigt werden, desto gleichgültiger werden den Menschen auch die besonderen Formen, die dieser Mangel an Befriedigung annimmt. Nachrichtenagenturen berichteten kürzlich, ein katholischer Priester in Santiago habe festgestellt, nach der letzten Abwertung des chilenischen Peso hätten die Armen in der Stadt (das sind mehr als 50 % der Einwohner der Hauptstadt) nicht einmal mehr Brot von ihrem Geld kaufen können. Milton Friedman und die Chicago Boys hätten Schwierigkeiten, sie davon zu überzeugen, daß sie „freier“ sind als Bürger der DDR, die nicht unter dem Mangel an den wichtigsten Lebensmitteln leiden, gleich welche Tyrannei auch immer über ihre anderen, weniger grundlegenden Bedürfnisse ausgeübt werden mag. Das heutige Afrika liefert ein anderes Beispiel für die Bestätigung dieser Wahrheit. Wenn der Sahel von Hungersnot verwüstet wird, wer würde dann die Verteilung von Nahrungsmitteln an Verhungernde durch physische Rationierung als „diktatorische Zuteilung“ verurteilen, weil sie sie zu „Sklaven“ machte, während es sie „freier“ machte, wenn die Nahrungsmittel an sie verkauft würden? Wenn in Bangladesch eine schwere Epidemie ausbricht, wird dann die direkte Verteilung von Medikamenten im Vergleich zum Verkauf von Medikamenten über den Markt als schädlich empfunden? In Wirklichkeit ist es sehr viel billiger und vernünftiger, Grundbedürfnisse nicht über den indirekten Weg der Zuteilung über den Markt und den Geldbeutel zu befriedigen, und statt dessen über die direkte Verteilung, oder Umverteilung, aller vorhandenen Lebensmittel.
Geld- und Marktverhältnisse erweisen sich hingegen als vorteilhafte Instrumente, um eine größere Verbraucherfreiheit in dem Maße zu ermöglichen, wie die Grundbedürfnisse bereits befriedigt sind. Denn Verbraucherfreiheit bedeutet Auswahlmöglichkeit für den Verbraucher, und wenn es um wirklich grundlegende Bedürfnisse geht, hat der Verbraucher eben keine Wahl. Im allgemeinen „wählt“ man nicht zwischen Grundschule und einem zweiten Fernseher, zwischen Gesundheitsversorgung und einem Perserteppich. Geld ist als Instrument der Verbraucherfreiheit nur wirkungsvoll, wenn man zwischen relativ überflüssigen Dingen zu entscheiden hat, wenn es einen hohen Grad an Einkommensgleichheit gibt. Als Mittel, um die Grundrichtung der Zuteilung gesellschaftlicher Mittel zu bestimmen, ist Geld sowohl ungerecht als auch unwirksam.
Wenn eine Gesellschaft demokratisch entscheidet, bei der Zuteilung der Ressourcen der Befriedigung der Grundbedürfnisse Priorität einzuräumen, verringert sie automatisch dadurch die verfügbaren Mittel für die Befriedigung zweitrangiger Luxusbedürfnisse. In diesem Sinn wird man einer „Diktatur über die Bedürfnisse“ nicht entkommen, solange wie unbefriedigte Bedürfnisse nicht eine völlig randständige Erscheinung geworden sind. Aber gerade hier offenbaren sich die politischen Vorzüge des Sozialismus. Denn man muß sich fragen, ob es gerecht ist, die Grundbedürfnisse von Millionen den zweitrangigen Bedürfnissen von Zehntausenden zu opfern! Diese Frage wird nicht gestellt, um die Frustration der gehobeneren Bedürfnisse zu predigen, die mit der Entwicklung der Industriellen Revolution entstanden sind. Das Ziel des Sozialismus ist die allmähliche Befriedigung von immer mehr Bedürfnissen, nicht allein die Beschränkung auf die grundlegenden Bedürfnisse. Marx war niemals ein Anwalt von Asketentum und Sparpolitik. Im Gegenteil, die Auffassung von einer vollentwickelten Persönlichkeit, die seiner Vision des Kommunismus zugrundeliegt, geht von einer großen Mannigfaltigkeit menschlicher Bedürfnisse und ihrer Befriedigung aus, nicht von einer Verengung unserer Bedürfnisse auf lebensnotwendige Nahrungsmittel und auf Wohnraum. Das Absterben der Markt- und Geldverhältnisse, das Marx vorausgesagt hat, bedeutet eine allmähliche Ausweitung des Prinzips der Zuweisung von Mitteln zur Befriedigung dieser Bedürfnisse ex anteauf eine stetig wachsende Zahl von Gütern und Dienstleistungen, in einer größeren, nicht geringeren Mannigfaltigkeit, als sie heute unter dem Kapitalismus existiert.
Bis hierher sind wir Alec Nove und anderen Kritikern des Marxschen Sozialismus gefolgt und haben die Probleme des Konsums in den Mittelpunkt gestellt. Aber das ist natürlich recht einseitig. Denn die Durchschnittsbürger eines industriell fortgeschrittenen Landes sind nicht nur und sogar nicht einmal vorwiegend Verbraucher; das gilt für den größten Teil der Erwachsenen. Sie sind immer noch vor allem Produzenten. Sie verbringen immer noch neun bis zehn Stunden pro Tag, fünf Tage in der Woche damit, zu arbeiten und zur Arbeit und wieder nach Hause zu fahren. Wenn die meisten Menschen acht Stunden schlafen, dann bleiben alles in allem sechs Stunden für Konsum, Ruhezeit, Erholung, Sexualleben und gesellschaftliche Beziehungen.
An dieser Stelle ergibt sich ein zweifacher Zwang, mit dem sich die Verfechter der „Konsumfreiheit“ schwer tun. Denn je mehr man die Zahl der zu befriedigenden Bedürfnisse einer gegebenen Bevölkerung steigert, desto größer ist die Arbeitsbelastung, die man dem Produzenten bei einem gegebenen Niveau der Technologie und der Arbeitsorganisation abverlangt. Wenn Entscheidungen hinsichtlich der Arbeitsbelastung nicht bewußt und demokratisch von den Produzenten selbst getroffen werden, dann werden sie ihnen aufgezwungen: entweder durch unmenschliche Arbeitsgesetze wie unter Stalin oder durch die unbarmherzigen Gesetze des Arbeitsmarktes mit seinen Millionen Erwerbslosen, die es heute gibt. Sicherlich muß sich ein Anwalt einer gerechteren, humaneren Gesellschaft von dieser Tyrannei über die Produzenten ebenso abgestoßen fühlen wie von der Tyrannei über die Verbraucher. Denn das System der „Belohnung und Bestrafung“, das den Markt beherrscht und von den Linken heutzutage so naiv gepriesen wird, ist nichts anderes als die kaum verhüllte Tyrannei über die Zeit und die Leistungen des Produzenten und damit über sein ganzes Leben.
Dieses System von „Belohnung und Bestrafung“ bezieht sich nicht nur auf höhere bzw. niedrigere Einkommen, auf „bessere“ bzw. „schlechtere“ Arbeitsplätze. Es bezieht sich auch auf periodische Entlassungen, auf das Elend der Arbeitslosigkeit (einschließlich des demoralisierenden Gefühls, ein nutzloses Mitglied der Gesellschaft zu sein), auf die Beschleunigung des Arbeitstempos, die Unterwerfung unter das Diktat der Stoppuhr und des Fließbands, die Autorität und Disziplin von Produktionsgruppen, auf nervöse und physische Gesundheitsschäden, Geräuschbelästigungen, Entfremdung von jeglicher Kenntnis über den Produktionsprozeß als Ganzes, auf die Verwandlung der Menschen in Anhängsel von Maschinen und Computern. Warum sollte es natürlich sein. daß Millionen Menschen sich einem solchen Zwang unterwerfen, nur damit 50 oder gar nur 20 % der Mitbürger zehn Prozent mehr „Konsumbefriedigung“ haben? Aber genau dazu zwingt sie die Marktwirtschaft, wenn sie nicht hilflos oder unfähig werden wollen, für ihre Familie und sich selbst zu sorgen. Ist das wert, den Preis der völligen Entfremdung im Produktionsprozeß zu zahlen? Das geringste, das sich dazu sagen läßt, ist, daß das noch lang nicht bewiesen ist. Wäre es nicht besser, auf den Betamax, den Zweitwagen (vielleicht sogar den Erstwagen, wenn angemessene öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung stehen), auf das elektrische Fleischmesser zu verzichten und dafür zehn Stunden pro Woche weniger zu arbeiten, mit bedeutend weniger Streß – wenn dadurch die Befriedigung der Grundbedürfnisse nicht gefährdet wird? Wer weiß, wie die Produzenten entscheiden würden, wenn sie wirklich die freie Wahl hätten, d. h. wenn die Alternative nicht lautete: Einschränkung der Befriedigung der Grundbedürfnisse oder katastrophale Zunahme der Existenzverunsicherung?
In einer Marktwirtschaft, d. h. in jeder auf den Markt orientierten Wirtschaft, wie „gemischt“ sie auch immer sein mag, einschließlich der „sozialistischen Marktwirtschaft“ – können die Produzenten diese Entscheidung nicht nach freiem Ermessen treffen. Sie wird hinter ihrem Rücken gefällt, entweder weil die Unternehmer an ihrer Stelle entscheiden, oder weil es „objektive Gesetze“ gibt, auf die sie keinen Einfluß haben. Doch diese Tyrannei ist keineswegs schicksalhaft. Der vermeintliche Kaiser ist tatsächlich ohne Kleider. Es gibt keinen zwingenden Grund, der die Produzenten in einer freien Gesellschaft daran hindern könnte zu sagen: „Wir sind eine Million Menschen. Wenn wir zwanzig Stunden in der Woche arbeiten und dabei zwanzig Millionen Stunden damit zubringen, eine gegebene Ausrüstung zu gebrauchen bei einer gegebenen Arbeitsorganisation, dann sind wir in der Lage, beim jetzigen Stand und für die absehbare Zukunft die Menge X an Grundbedürfnissen zu befriedigen, nicht mehr und nicht weniger! Wir können versuchen, durch Rationalisierung unserer Technik und unserer Arbeitsorganisation diese Arbeitslast in den nächsten zwanzig Jahren auf sechzehn Stunden wöchentlich zu reduzieren. Das hat für uns absolute Priorität. Es gibt zwar noch weitere Bedürfnisse zu befriedigen, aber wir sind nicht bereit, z.Zt. fünf Stunden wöchentlich, und in zwanzig Jahren vier Stunden wöchentlich zusätzlich für die Befriedigung dieser zusätzlichen Bedürfnisse zu arbeiten. Somit legen wir heute eine gesetzliche Wochenarbeitszeit von fünfundzwanzig Stunden und eine wöchentliche Tarifarbeitszeit von zwanzig Stunden fest, die innerhalb der nächsten Jahre schrittweise eingeführt wird, auch wenn dies bedeutet, daß dann einige Bedürfnisse unberücksichtigt bleiben.“ Durch welchen Grundsatz der „Fairneß“, der „Gerechtigkeit“, der „Demokratie“ oder der „Menschlichkeit“ kann den Produzenten das souveräne Recht verwehrt werden, darüber zu befinden, wieviel Zeit und Mühe sie der Befriedigung von Konsumwünschen opfern sollen?
Buch eine unausgesprochene Antwort auf diese Frage enthält. In „Die Ökonomie des machbaren Sozialismus“ argumentiert er, obwohl der Markt Nachteile habe, sei die einzige Alternative dazu – im Sinne einer geschlossenen, wirtschaftlich organisierenden Kraft – eine mächtige zentralisierte Bürokratie. Das ist ein Leitmotiv seines Buches. Aber es ist ein dogmatisches Vorurteil, das bislang unbewiesen geblieben ist. Tatsächlich kann empirisch nachgewiesen werden, daß diese Behauptung sich gerade heute in 0st und West zunehmend als unwahr herausstellt, noch bevor eine dem Marxismus adäquate Form von Sozialismus verwirklicht worden ist. Nove hat übersehen, daß weder der Markt noch zentralisierte bürokratische Planer den zunehmenden Widerspruch zwischen der objektiven Vergesellschaftung der Arbeit und der fortbestehenden Zersplitterung der Entscheidungsgewalt in den Griff bekommen. Was törichte und irrationale Systeme am Zusammenbruch hindert, ist die Tatsache, daß dieser Widerspruch in Wirklichkeit täglich millionenfach durch Akte der objektiven informellen Kooperation umgangen wird.
Was meinen wir damit? Um zu verstehen, worum es hier geht, muß man einen wichtigen Unterschied machen. Geldbeziehungen sind nicht einfach identisch mit Marktbeziehungen; sie können quasi- oder pseudo-Marktbeziehungen sein. In solchen Fällen verbirgt sich hinter derselben monetären Form ein ganz unterschiedlicher Inhalt. Eine Marktwirtschaft wird von Preisschwankungen geleitet. Die „Wirtschaftsagenten“, gleich ob Verbraucher oder Firmen, reagieren auf Signale des Marktes. Wenn es keine solche Reaktion gibt, dann ist es schwierig zu beweisen, daß das Signal ökonomisch relevant war (es sei denn, es handelt sich um ein Axiom, das keines Beweises bedarf, d. h. ein verhülltes Dogma). Aber was sagen uns diesbezüglich die Untersuchungen über das heutige Verbraucherverhalten und über den Konsum der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern? Sie zeigen, daß die große Mehrzahl der laufend produzierten Güter im Laden oder beim Versandhandel gekauft werden, unabhängig von den Schwankungen der Preise. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß dieses Verhalten auf mindestens 80 % des Konsums der Durchschnittsverbraucher zutrifft.
Keine gewöhnliche Preisfluktuation wird den normalen Kunden veranlassen, plötzlich seinen Bäcker, Lebensmittelhändler, den Bus, die U-Bahn, seinen Friseur, Supermarkt oder Kurzwarenhändler zu wechseln, geschweige die Schule der Kinder oder das Krankenhaus. Der gewöhnliche Käufer läuft nicht von einem Obsthändler zum anderen, um herauszufinden, wo das Pfund Äpfel fünf Pfennige billiger ist. Seine Zeit (und vielfach auch seine Gewohnheit, sein Wunsch, mit ihm bekannten Verkäufern oder anderen Kunden zu plaudern) ist ihm mehr wert als diese geringen Preisdifferenzen. Nur wenn wirtschaftliche Katastrophen eintreten (z. B. die Ölpreise um 300 % steigen oder das Einkommen infolge Arbeitslosigkeit um 30 % sinkt) ist es üblich, daß sich das Verbraucherverhalten ändert und auf die Marktsignale reagiert; aber selbst dann betrifft dies bei weitem nicht alle Güter und Dienstleistungen. Das beweist, daß marktunabhängiges Verhalten in vielen Bereichen des täglichen Wirtschaftens die Überhand über marktorientierte Reaktionen gewonnen hat. Sogar in Arbeitervierteln wird mit Argwohn reagiert, wenn Äpfel plötzlich billiger angeboten werden („geringere Qualität?“, „ein Reklametrick?“); von diesen Früchten werden weniger, nicht mehr verkauft als von den etwas teureren. Eine relativ bescheidene Preiserhöhung bei Pauschalreisen, um sagen wir 10 %, kann die Ausgaben für den Urlaub eher fördern als drosseln, solange Einkommen und Beschäftigung unverändert bleiben.
Wirtschaftliche Beziehungen dieser Art sind weder typisch für eine wirkliche Marktwirtschaft noch für eine bürokratisch zentralisierte Planwirtschaft. Sie sind einfach elementare Formen spontaner Kooperation. Sie können oft über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte relativ stabil bleiben. Natürlich sind sie veränderbar, je nach dem Belieben des Individuums oder des Haushalts; das geschieht oft, aber ohne daß von außen ein Zwang ausgeübt wird, der solche Veränderungen diktierte, oder daß dies große wirtschaftliche Konsequenzen hätte. Das gleiche gilt für viele Lieferungen von Firma zu Firma. Die emsige Suche unter einer Vielzahl von Lieferanten nach dem, der die Materialrechnung um 5 % verbilligt, rentiert sich für eine große Firma nicht, wenn ihr Lieferant erfahrungsgemäß angemessene Lieferfristen und eine ordentliche Qualität der Ware garantiert; kleine Preisunterschiede werden dadurch mehr als ausgeglichen. In dieser Art und Weise werden heute die meisten Geschäfte in den kapitalistischen und in den sog. „sozialistischen“ Ländern abgewickelt.
Ein Einwand
Nun mag man einwenden: diese Millionen Akte freiwilliger Kooperation, die weder von Marktsignalen, noch von bürokratischen Direktiven gesteuert werden, werden dennoch ermöglicht und gestützt durch die mächtigen Kräfte der wirtschaftlichen Zentralisierung, sei es der Markt oder die Planung. Routinemäßiges Zusammenwirken reguliert nur relativ kleine dezentrale Handlungen, aber nicht solche von hohem Zentralisationsgrad. Dieser Einwand enthält ein Stück Wahrheit. Es ist jedoch geringer, als es auf den ersten Blick aussehen mag. Seine Aussagekraft beruht auf dem Gegensatz zwischen sagen wir einerseits Millionen Kunden, die gewöhnlich in einen kleinen Laden oder Supermarkt gehen, um dort ihre Kondensmilch zu kaufen, ohne mit Adleraugen auf geringfügige Preisänderungen zu achten, die sie veranlassen könnten, die Milch in einem anderen Laden billiger zu kaufen; und andererseits der Firma Nestle oder Carnation, die durch die Kräfte des Marktes gezwungen sind, tatsächlich mit Adleraugen über die Produktionskosten und Gewinne bei der Herstellung der Kondensmilch zu achten, bei Strafe des Bankrotts. Hat hier nicht der Markt gerade die beiden Giganten gezwungen zu fusionieren, oder war es nicht der Markt?
Planung durch Computer VEB Robotron Elektronik Dresden, Foto: Matthias Hiekel, ADN (Bundesarchiv, Bild 183-1984-1128-003 / CC-BY-SA 3.0) |
Nun, Nestle hat ein eigenes Vertriebsnetz mit tausenden von Einzelhandelsgeschäften, das völlig durchrationalisiert ist. Der Ausstoß an Dosenmilch wird hochgradig automatisiert und standardisiert sein. Der Markt greift kaum in ökonomisch relevanter Weise in diesen Ablauf ein, da Nestle als Monopolunternehmen die Preise auf der Basis der durchschnittlichen Produktionskosten plus einer vorher festgelegten Gewinnmarge diktieren kann. Die Leute brauchen in jedem Fall Milch und sie konsumieren sie in mehr oder weniger feststehenden Mengen, sodaß die einzige wirtschaftlich bedeutsame Frage die ist, wie hoch der Teil des Nationaleinkommens (oder der nationalen Ausgaben) ist, der für Milch ausgegeben wird, und welcher Anteil an produktiven Ressourcen für die Produktion und Verteilung von Milch unter optimalen Bedingungen der Ernährung und Hygiene zur Verfügung steht. Angesichts der bereits gegebenen hochentwickelten Technik sind alle anderen Schwankungen belanglos.
Ein noch eindrucksvolleres Beispiel liefert die Energiewirtschaft. Ein nationales Energienetz – z. B. das internationale Energienetz der EG incl. einiger Anrainerstaaten – funktioniert reibungslos auch ohne Markt und ohne zentrale Bürokratie. Die geringen Schwankungen im Bedarf an elektrischer Energie können anhand von Statistiken ganz genau ausgeglichen werden. Die Höchstlast zu bestimmten Zeiten des Jahres ist im voraus bekannt. Ausreichende Reserven gegen die Gefahr eines plötzlichen Zusammenbruchs des Netzes oder eines sprunghaft ansteigenden Bedarfs können bereit gehalten werden. Das Ergebnis ist, daß für eine dauerhafte Versorgung von Millionen von Abnehmern mit Strom weder Marktkräfte noch eine aufgeblähte Bürokratie benötigt werden. Sie kann weitgehend von Computern anhand der verfügbaren Daten errechnet werden. [5] Die „Preisgestaltung“ dieser Ware wird zunehmend irrational (zumindest für private Verbraucher und mittlere Unternehmen, während die wenigen industriellen Großverbraucher von Elektrizität ohne weiteres mehr zahlen könnten). Wenn sie abgeschafft würde, könnten bis 90 % der in der Energiewirtschaft tätigen Bürokraten in Ost und West entlassen werden.
Solche Fälle können nicht für alle Güter und Dienstleistungen in jeder Branche, Industrie oder in jedem Bereich der Gesellschaft verallgemeinert werden. Einige Probleme der Zentralisierung sind derart, daß Entscheidungsgremien tatsächlich nicht durch Routine ersetzbar sind. Die grobe Aufteilung der wirtschaftlichen Ressourcen (auf nationaler und internationaler Ebene) zwischen den verschiedenen Tätigkeitsfeldern und Bereichen der Gesellschaft muß bewußt durch eine entsprechende Instanz erfolgen. Aber gerade der Trend zu einer zunehmend umfangreichen de facto-Kooperation zwischen einfachen Leuten, die sich parallel zur objektiven Vergesellschaftung der Arbeit entwickelt hat, zeigt, daß es zwischen der Scylla der blinden Marktkräfte und der Charybdis einer überzentralisierten Bürokratie einen Ausweg gibt: die demokratisch zentralisierte, organisierte Selbstverwaltung auf der Grundlage bewußter und freier Kooperation.
Führt diese „dritte Lösung“ nicht zur Idealisierung von Routine und Gewohnheit und damit zur wirtschaftlichen Stagnation? Gewiß nicht im Bereich der Produktion, wo das Interesse der Produzenten für die Minderung ihrer Arbeitslast und die Verbesserung der menschlichen Umwelt einen inneren Antrieb zur Kostensenkung darstellt. Vielleicht würde die Nachfrage nach neuen Konsumgütern sinken. Eine Änderung der Warenströme wäre an sich kein großes Unglück, denn auch die reichsten Verbraucher haben früher glücklich gelebt ohne elektronische Spiele und Autotelefon. Nur Misanthropen können den relativen Fortschritt und das Heil der Menschheit daran messen, daß die Bürger eine wachsende Menge zunehmend nutzloser Dinge konsumieren. Eine sozialistische Demokratie wird einen Zuwachs an Zivilisation bringen, nicht einfach mehr Konsum, d. h. ein Mehr an sinnvollen menschlichen Aktivitäten und Beziehungen: in der Erziehung der Kinder und der Massenbildung, der Fürsorge für die Kranken und Behinderten, der kreativen Arbeit, der Pflege von Kunst und Wissenschaft, der Erfahrung der Liebe, der Erforschung der Erde und des Universums. Wäre eine Gesellschaft, die dem Kampf gegen Krebs und Herzkrankheiten höchste Priorität einräumt. die sich mehr um das Studium der Entwicklung des Charakters und der Intelligenz der Kinder kümmert, die sich um das Verständnis und den Abbau von Neurosen und Psychosen bemüht, langweilig und reizlos verglichen mit der angeblich freudvollen, dynamischen Welt, in der wir heute leben? Ist die Freiheit, bei geistiger und körperlicher Gesundheit länger zu leben, weniger wichtig als die Freiheit, einen zweiten Fernseher zu kaufen?
Das Fehlen der Konkurrenz bedeutet nicht notwendig einen Mangel an Innovationen im Produktionsprozeß. In der bisherigen Geschichte wurden die meisten entscheidenden Entdeckungen und Erfindungen ganz ohne kommerziellen Anstoß gemacht. Es gab noch keinen Profit, als das Feuer zum erstenmal konserviert wurde. Landwirtschaft und Metallurgie wurden nicht durch den Markt entwickelt. Der Buchdruck wurde nicht erfunden, um damit Gewinn zu machen. Die meisten großen Fortschritte in der Medizin – von Jenner bis Pasteur, von Koch bis Fleming – wurden nicht von der Hoffnung auf eine finanzielle Belohnung angeregt. [6] Der Elektromotor wurde im Labor einer Universität und nicht eines Unternehmens entwickelt. Sogar der Computer, geschweige die Raumfahrt, waren ursprünglich für öffentliche (wenngleich militärische) Nutzung gedacht, nicht für die Bereicherung privater Anteilseigner. Es gibt nicht den geringsten Grund anzunehmen, daß das Absterben der Marktbeziehungen und finanzieller Belohnung zum Verschwinden von technischen Neuerungen führen würde. Denn deren Impulse liegen viel tiefer als der gewinnsüchtige Wettbewerb: nämlich in der natürlichen Neigung der einfachen Produzenten, Arbeit zu sparen, und in der ungezwungenen wissenschaftlichen Neugier der Menschen.
Ebensowenig ist die weitverbreitete Meinung begründet, daß soziale Gleichheit ein Hindernis für wirtschaftliche Effizienz sei. Im israelischen Kibbuz läßt sich ohne weiteres der Nachweis für das Gegenteil finden; dort wächst heute eine dritte Generation von Menschen in einer Umgebung auf, die sowohl in der Produktion wie auch im Verbrauch grundsätzlich keine Geldbeziehungen kennt. Natürlich ist der Kibbuz keine sozialistische Gemeinschaft. Im Gegenteil, er ist ein militärisches Siedlerdorf, das als kolonialistischer Keil gegen das palästinensische Volk gedient hat, mit all den damit verbundenen Spannungen und Korruption. Außerdem ist der Kibbuz in eine kapitalistische Wirtschaft eingebettet, die ihn subventioniert und nach außen zunehmend verflicht mit Lohn- und Kapitalbeziehungen. Aber gerade wegen dieser ungünstigen äußeren Bedingungen ist es umso bemerkenswerter, daß die Abschaffung von Geld- und Marktbeziehungen allein schon zu vielen sozio-ökonomischen Ergebnissen im Kibbuz geführt hat, die Marx und Engels vorausgesagt haben. Trotz des völligen Verschwindens finanzieller Belohnung und Bestrafung produzieren die Menschen im Kibbuz normal, und in Wirklichkeit leisten sie im Durchschnitt mehr als die umliegende Marktwirtschaft. Es gibt keine neue „nicht-monetäre“ Form der ökonomischen Ungleichheit, Privilegien, Ausbeutung oder Unterdrückung. Gewalt und Verbrechen sind fast völlig verschwunden. Es gibt keine Gefängnisse oder „Umerziehungslager“. Der durchschnittliche Zustand der Gesundheit, Kultur und des Wohlstands ist viel besser als in der restlichen israelischen Gesellschaft. Es besteht unbegrenzte politische und kulturelle Freiheit. All das wird nicht nur von Anhängern des Kibbuz-Systems bestätigt, sondern auch von sehr kritischen Beobachtern wie dem Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, dem Liberalen Dieter Zimmer oder dem Soziologen Melford Sipro. [7] Natürlich gibt es viele Konflikte zwischen den Generationen und Geschlechtern, das zum einen. Der Kibbuz ist keine erfüllte Utopie. Individualistische Neigungen und individuelles Verhalten sind infolge der sozio-ökonomischen Gleichheit durchaus nicht verschwunden Warum sollten sie? Das non plus ultra in der Entwicklung einer klassenlosen Gesellschaft ist nicht die Gleichheit der Individuen, sondern die größtmögliche Entfaltung der größtmöglichen Anzahl von Individuen. Das Ziel des Sozialismus ist nicht so sehr die Sozialisierung des Menschen, sondern die Vermenschlichung der Gesellschaft – die umfassendste Entwicklung der einmaligen Persönlichkeit eines jeden Individuums.
Die Motivation – zur Wirtschaftlichkeit, Kooperation und Innovation – ist also für die sozialistische Demokratie kein unlösbares Problem. Größere Schwierigkeit bereitet die Institutionalisierung der Volkssouveränität als solche. Wie kann ein Maximum an Konsumbefriedigung mit einem Minimum an Arbeitsbelastung der Produzenten verbunden werden? Alec Nove verweist zurecht auf diesen Widerspruch, den kein ernsthafter Marxist leugnen wird. Aber diesen Widerspruch zur Kenntnis nehmen – daß man nicht unendlich Güter und Dienstleistungen bereitstellen kann, wenn die wöchentliche Arbeitszeit sich gegen 1 oder 0 Stunden bewegt, es sei denn mithilfe einer noch in der fernen Zukunft liegenden „totalen“ Automatisierung – bedeutet nicht, daß man die Befriedigung der Konsumwünsche aller Menschen nicht beträchtlich steigern kann, bei gleichzeitiger spürbarer Verminderung der Arbeitslast und -entfremdung für die unmittelbaren Produzenten. Ein System organisierter Selbstverwaltung könnte dieses Ziel weitgehend erreichen. Seine grundlegenden Mechanismen und Institutionen würden folgendermaßen funktionieren:
Regelmäßig – sagen wir der Einfachheit halber einmal jährlich – tagende Kongresse nationaler (und sobald wie möglich internationaler) Arbeiter- und Volksräte würden anhand vorliegender Alternativen, die zuvor anläßlich der Wahlen zu diesen Kongressen von allen Bürgern diskutiert wurden, die grobe Verteilung des Nationalprodukts festlegen. Die Entscheidungen, d. h. die wichtigsten voraussehbaren Folgen jeder Option würden deutlich herausgearbeitet: die damit verbundene durchschnittliche Arbeitsbelastung (die Länge der Wochenarbeitszeit); die vorrangigen Bedürfnisse, die mittels einer gesicherten Zuteilung der Ressourcen (ihrer „freien“ Verteilung) zu befriedigen sind; der Umfang der für das „Wachstum“ bereitzustellenden Mittel (ein Reservefond + dem Konsum der zuwachsenden Bevölkerung + den Nettoinvestitionen infolge der technologischen Entscheidungen, die ebenfalls deutlich herausgearbeitet werden müssen); der Umfang der für die „nicht wesentlichen“ Güter und Dienstleistungen bereitzustellenden Ressourcen, die über den Markt verteilt würden. Der globale Rahmen des Wirtschaftsplans wird dabei durch eine bewußte Auswahl von einer Mehrheit der Betroffenen abgesteckt.
Ausgehend von den so getroffenen Entscheidungen würde dann der allgemeine Plan erstellt, wobei man sich der input-output-Tabellen und der Materialaufstellungen bedienen kann, die für jeden Produktionszweig (Industriesektoren, Transportwesen, Landwirtschaft und Distribution) und für das gesellschaftliche Leben (Erziehung, Gesundheit, Nachrichtenwesen, Verteidigung, falls noch erforderlich, usw.) die zur Verfügung stehenden Ressourcen angeben. Der nationale und internationale Kongreß würde diesen allgemeinen Rahmen nicht überschreiten und würde keine besonderen Festlegungen für die einzelnen Branchen oder Produktionseinheiten oder Regionen treffen.
Die Selbstverwaltungsorgane – z. B. Arbeiterräte und Kongresse in der Schuh-, Lebensmittel-, Elektro- und Stahlindustrie oder Energiewirtschaft – würden dann den aus diesem allgemeinen Plan sich ergebenden Arbeitsanfall auf die vorhandenen Produktionseinheiten verteilen und/oder die zusätzlich zu schaffenden Produktionseinheiten für die nächste Periode planen, wenn die Verwirklichung der Produktionsziele bei dem gegebenen Arbeitseinsatz dies erforderlich macht. Sie würden den technologischen Durchschnittsstandard für die Produktion der Güter herausfinden, also die durchschnittliche Arbeitsproduktivität oder durchschnittlichen „Produktionskosten“ (und damit schrittweise auf der Grundlage des bestehenden Wissens an das technische Optimum herankommen). Sie würden jedoch die Einheiten mit der niedrigsten Produktivität solange nicht schließen, wie der gesamte Ausstoß in den anderen Einheiten nicht die Gesamtmenge der Bedürfnisse deckt, und solange nicht neue Arbeitsplätze für die Produzenten unter für sie zufriedenstellenden Bedingungen garantiert sind.
In den Einheiten, die Produktionsmittel herstellen, würde die Produktionspalette weitgehend von den technischen Vorgaben bestimmt, die sich aus den vorangegangenen Entscheidungen ergeben haben. In den Fabriken, die Konsumgüter herstellen, würde der Produktionsumfang durch vorhergehende Beratung zwischen Arbeiterräten und den von der Masse der Bürger demokratisch gewählten Verbraucherversammlungen ermittelt. Ihnen würden verschiedene Modelle vorgelegt, z. B. verschiedene Schuhmodelle, die von den Verbrauchern begutachtet, kritisiert und durch andere ersetzt werden könnten. Ausstellungsräume und öffentliche Anschlagtafeln wären die Hauptinstrumente für solche Verbrauchertests. Es könnte eine Art „Referendum“ stattfinden, indem ein Verbraucher, der Anspruch auf sechs Paar Schuhe im Jahr hat, sechs Modelle auf einer Liste ankreuzt, die einhundert oder zweihundert Wahlmöglichkeiten aufweist. Das Modellangebot würde vom Ausgang dieses Referendums bestimmt und zusätzlich ein Mechanismus eingebaut, der die Produktion im Nachhinein der Verbraucherkritik aussetzt. Verglichen mit dem Marktmechanismus hat dieses System den großen Vorteil, daß der Verbraucher einen viel größeren Einfluß auf das Produktionsangebot hat und daß Überproduktion vermieden wird. Der Ausgleich zwischen den Verbraucherwünschen und der Produktion erfolgt vor der Produktion, nicht nach dem Verkauf, wobei zusätzlich eine gesellschaftliche Reserve produziert würde, die als Nachfragepuffer auf Lager genommen wird und deren Größenordnung nach einigen Jahren empirisch (statistisch) optimal bestimmt werden kann. Die Arbeiterräte in den Betrieben wären dann frei, diese Branchenentscheidungen nach ihrem Belieben auf die Ebene ihrer Produktionseinheiten zu übertragen und die Produktion und den Arbeitsprozeß so zu organisieren, daß sie dabei die für sie größtmögliche Arbeitszeitökonomie realisieren können. Wenn sie das Produktionsziel in 20 Stunden pro Woche statt 30 Stunden erreichen, können sie sich nach Überprüfung der Qualität der von ihnen hergestellten Güter eine entsprechende Herabsetzung der Arbeitszeit leisten, ohne daß der gesellschaftliche Verbrauch eingeschränkt werden muß.
Die Überlegenheit der Selbstverwaltung
Alec Nove vermerkt an einer Stelle: „In keiner Gesellschaft ist es möglich, daß eine gewählte Versammlung mit 115 zu 73 Stimmen darüber entscheidet, wem 10 t Leder zuzuteilen sind, oder ob weitere 100 t Schwefelsäure hergestellt werden sollen.“ [8] In unserem Modell der organisierten Selbstverwaltung hätte keine Versammlung zwei derartige Entscheidungen zur gleichen Zeit zu treffen; und keine „zentrale“ Versammlung oder Planungsgruppe sähe sich vor solche Entscheidungen gestellt. Aber aus welchem Grund sollte ein Kongreß von Arbeiterräten der Lederindustrie nicht mehrheitlich (oder nach vorheriger Diskussion einstimmig) über die Zuteilung von Leder entscheiden können (ob die Entscheidung über so kleine Mengen, wie sie in dem Beispiel angeführt sind, dem Fabrikrat überlassen bleiben sollte, ist eine andere Frage), nachdem das Verbraucherziel für Ledererzeugnisse zuvor von anderen Organen festgelegt wurde? Warum könnte er nicht die Gesamtmenge von sagen wir 50 000 t jährlich produziertem Leder auf mehrere Betriebe verteilen (wie es heute ein Leder verarbeitender Konzern auch tut), indem er jeder Produktionseinheit ihre „Kunden“ zuweist (d. h. die Endverbraucher der geforderten Mengen an Leder)? Wären die Delegierten eines solchen Kongresses in der Tat nicht besser in der Lage, eine solche Zuteilung vorzunehmen als irgendein Technokrat oder Computer, weil sie ihre Branche besser kennen und eine Menge von Imponderabilien berücksichtigen können, die kein Markt und keine zentrale Stelle in ihre Kalkulation einbeziehen kann, bestenfalls durch Zufall? Tatsächlich geschehen bei der Zuteilung der Ressourcen ständig riesige „Fehler“, die eine aufgeschlossene Arbeiterversammlung niemals machen würde. Kapitalistische Planer haben die Baukosten des Itaipu-Staudamms in Brasilien mit fünf Milliarden Dollar veranschlagt. Nach dem heutigen Stand kostet er achtzehn Mrd. Dollar, und der Staudamm ist noch nicht fertig. Der Landwirtschaftsmaschinenkonzern John Deere mußte trotz der scharfen Konkurrenz neue Produkte mehrmals neu zeichnen, wegen der immer wieder auftretenden Diskrepanz zwischen den fachlichen Kenntnissen und Interessen der Konstrukteure und den in der Produktion tätigen Ingenieuren. In der gegenwärtigen Rezession hat die bayrische Automobilfirma BMW plötzlich entdeckt, daß man die Lagerbestände von einem elf-Tage-Ausstoß auf einen fünf-Tage-Ausstoß reduzieren konnte, d. h. mehr als 50 %. Solche Beispiele ließen sich nach Belieben vermehren.
Nationale Selbstverwaltungsorgane können darüberhinaus die Leitung der öffentlichen Dienste übernehmen: Wohnung, Erziehung, Gesundheit, Nachrichtenwesen, Transport und Distribution. Auch hier würden die betroffenen Bürger Räte wählen, die zu konsultieren wären, bevor endgültige Beschlüsse gefaßt werden. Regionale und lokale Organe würden die zugeteilten Ressourcen ausgeben und zwar unter Entfaltung wiederum eines Maximums an freier Initiative, um den besten Gebrauch davon zu machen, einerseits im Interesse der Befriedigung der Verbraucherwünsche, andererseits der Verringerung der Arbeitsbelastung der Produzenten. Ein solches System würde die Marxsche Vorstellung vom Absterben des Staates mit konkretem Inhalt füllen. Dadurch würde es möglich, daß mit einem Schlag mindestens die Hälfte der heute amtierenden Minister durch Selbstverwaltungsorgane ersetzt würden. Die Folge wäre außerdem eine radikale Verminderung der Zahl der Beamten, einschließlich derer in den Planungsbehörden. Das würde zugleich bedeuten, daß buchstäblich Millionen von Menschen nicht nur „konsultiert“ werden, sondern tatsächlich an den Entscheidungen und an der direkten Leitung von Wirtschaft und Gesellschaft mitwirken. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen denen, die verwalten, und denen, die verwaltet werden –zwischen Bossen und Untergebenen – würde anfangen zu verschwinden.
Die Verwaltung würde nicht mehr auf der „zentralen Ebene“ monopolisiert und das Selbstmanagement bliebe nicht auf die betriebliche Ebene beschränkt. Beide würden sich auf der zentralen und auf der lokalen Ebene miteinander vermischen. Die meisten an der Entscheidungsfindung beteiligten Bürger würden diese Tätigkeit nicht als Beruf ausüben und dabei ihre ganze Zeit auf Versammlungen oder auf Reisen zu diesen verbringen. Da die anstehenden Entscheidungen ihr Wohlergehen und ihre Arbeitsbedingungen direkt betreffen, kann man annehmen, daß sie ihre Verantwortung nicht formal oder indifferent wahrnehmen würden, sondern daß sie sich ihrer Aufgabe ernsthaft widmeten. Die Herabsetzung der Arbeitszeit und das Informations- und Kommunikationspotential der Computer würde die wichtigste materielle Grundlage für eine erfolgreiche Streuung der Macht liefern. [9]
Wie müßte das zusätzliche Geldeinkommen der produzierenden und verteilenden Einheiten über ihren garantierten Anteil an freien Gütern und Dienstleistungen hinaus kalkuliert werden? Es könnte einem Index der Qualitätskontrolle und der Zufriedenstellung der Verbraucher folgen, der einen Koeffizienten für Arbeitsstreß enthält (besonders in Bergwerken und an anderen Arbeitsplätzen, wo schwere Arbeit verrichtet wird, die eine höhere Entlohnung erfordert). Für Zwischenprodukte wäre die pünktliche Lieferung ein Bestandteil dieses Index. Der Vorteil eines solchen Systems läge darin, daß es keine eingebauten Hindernisse für einen ehrlichen Informationsfluß über die Ressourcen und Kapazitäten der Produktions- und Distributionseinheiten enthielte, da die die Selbstverwaltung ausübenden Arbeiter kein Interesse daran haben, die Fakten zu verschleiern. Nove macht einen starken Einwand gegen die Vorstellung geltend, ein ehrlicher Informationsfluß könne selbstverständlich sein. Aber er übersieht, daß die Hauptursache für die Verwendung falscher Daten in Gesellschaften wie der Sowjetunion die materiellen Interessen der Fabrikdirektoren sind, die auf einen bestimmten materiellen Produktionsausstoß festgelegt sind. Man kann die Folgen nicht vermeiden, wenn man die Ursachen nicht unterbindet. Hinzu kommt natürlich noch, daß ein computerisierter Informationsfluß, der den Güterstrom begleitet, auf lange Sicht zur Eingabe korrekter Daten für eine demokratisch zentralisierte Planung zwingt.
Wie könnte solch ein System im Weltmaßstab aussehen? Zunächst muß man betonen, daß demokratische Selbstverwaltung nicht bedeutet, daß jeder über alles entscheidet. Nimmt man das an, ist die Schlußfolgerung offensichtlich: Sozialismus ist nicht möglich. Denn Milliarden Menschen können in ihrer Lebenszeit nicht einmal einen Bruchteil der alle Menschen betreffenden Angelegenheiten in ihrem Sinne regeln. Das ist aber auch nicht nötig. Einige Entscheidungen können am besten auf der Ebene von Abteilungen getroffen werden, andere auf der des Betriebs, wieder andere auf der der Stadtteile, Ortschaften, Regionen, Kontinente und wieder andere schließlich weltweit. In der Auseinandersetzung mit Nove dreht sich unsere Diskussion bisher hauptsächlich um die nationale Ebene. Welche Entscheidungen könnten und sollten aber im weltweiten Maßstab getroffen werden? Hier bieten sich sofort vier Entscheidungsfelder an. Das ersteumfaßt sämtliche Entscheidungen, die eine globale Umverteilung der menschlichen und materiellen Ressourcen bedeuten, zur schleunigen Beseitigung der sozialen und kulturellen Mißstände, die die Ursache für Unterentwicklung, Hunger, Kindersterblichkeit, Krankheit und Analphabetismus in der Dritten Welt sind.
Das zweitewäre die Festlegung der Prioritäten für die Zuteilung wirklich knapper natürlicher Ressourcen, solcher Ressourcen, die absolut zu versiegen drohen und die keine Minderheit der Menschheit das Recht hat, den kommenden Generationen zu rauben: hierüber kann nur die Gesamtheit der heute lebenden Weltbevölkerung von rechts wegen entscheiden.
Das drittebetrifft alles, was die natürliche Umwelt und das Klima auf dem Planeten als ganzes beeinträchtigt: all jene Prozesse, die die Meere verschmutzen oder umkippen lassen können, die Polargebiete und die Atmosphäre gefährden oder das ökologische Gleichgewicht in solchen, für die gesamte Welt wichtigen Regionen zerstören wie die Amazonaswälder. Schließlich müßte natürlich ein universelles Verbot der Herstellung von Massenvernichtungswaffen, toxischen Drogen u. ä. erlassen werden.
Aus diesen globalen Bestimmungen ergeben sich Zwänge für die Zuteilung der kontinentalen und nationalen Ressourcen, die dann noch verfügbar bleiben für die Planung und Erfüllung der Bedürfnisse; diese wiederum muß jeder Kontinent und jedes Land selbst festlegen. So wären z. B. nach der Festlegung der Tonnen Stahl, die jeweils für Amerika, Europa oder Asien zur Verfügung stehen, die Produzenten und Konsumenten auf diesen Kontinenten frei, die jeweiligen Kontingente nach ihren eigenen Beschlüssen weiter aufzuteilen. Würden sie trotz aller Argumente über Umwelt- und andere Schäden an der Priorität für Privatautos festhalten wollen, die weiterhin ihre Städte verpesten würden, müßten sie hierzu berechtigt sein. Änderungen im eingefleischten Verbraucherverhalten vollziehen sich im allgemeinen nur langsam. Kaum jemand wird glauben, daß die Arbeiter in den USA am Tag nach der sozialistischen Revolution ihre Vorliebe für das Privatauto aufgeben werden. Das Ansinnen, Menschen zu zwingen, ihr Verbraucherverhalten zu ändern, ist weitaus schlimmer, als einige Jahrzehnte lang den Smog in Los Angeles zu ertragen. Die Emanzipation der Arbeiterklasse, die allen gegenteiligen Ansichten zum Trotz zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit die absolute Mehrheit der Weltbevölkerung ausmacht, kann nur durch die Arbeiter selbst erreicht werden, und zwar so, wie sie sind: nicht Menschen aus einer anderen Welt, sondern Menschen mit ihren Schwächen, wie wir sie alle haben.
Der Aufbau des Sozialismus
Solch ein Komplex bewußter Zuteilung von Ressourcen, demokratisch zentralisierter Planung und Selbstverwaltung wäre viel wirkungsvoller als eine (monopolkapitalistische) Marktwirtschaft oder eine (bürokratisch zentralisierte) Befehlswirtschaft. Denn es gäbe dann einen machtvollen, eingebauten Mechanismus der Selbstkorrektur von Fehlentscheidungen, den es in den beiden heute vorhandenen Alternativen nicht gibt. Wir glauben nicht, daß „die Mehrheit immer recht hat“, ebensowenig wie wir glauben, daß der Führer, der Papst oder die Partei immer recht haben. Fehler macht jeder. Das gilt auch für die Mehrheit der Bürger, der Produzenten und ebenso für die Mehrheit der Verbraucher. Aber es wird einen grundlegenden Unterschied zwischen ihnen und früheren Mehrheiten geben. In jedem System mit ungleicher Machtverteilung – gleich ob diese auf wirtschaftlicher Ungleichheit, politischem Monopol oder einer Kombination von beiden beruht –bezahlen die, die falsche Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen treffen, selten den Preis für die Folgen ihrer Fehlentscheidung; niemals zahlen sie den höchsten Preis.
Wenn Vorstandsmitglieder einer großen Monopolgesellschaft über eine wichtige Investition entscheiden, die sich einige Jahre später nicht auszahlt, werden sie nicht selbst zu Empfängern von Arbeitslosenunterstützung und ihre Wohngebiete verfallen nicht. Aber die Arbeiter, die sie entlassen haben und deren Wohngebiete erleiden genau dieses Schicksal, obwohl sie an der Entscheidung völlig unschuldig sind. Genauso müssen weder die Mitglieder des Präsidiums der KPdSU noch des Ministerrats noch die Verantwortlichen für den Gosplan auf den Genuß von Fleisch verzichten, wenn sie eine Fehlentscheidung in der Landwirtschaftspolitik treffen, während Millionen Menschen jahrelang an mangelhafter Ernährung leiden und ganze Gebiete verseucht oder zerstört werden können. Im Gegensatz hierzu werden die Masse der Produzenten und Konsumenten, wenn sie eine Fehlentscheidung bezüglich der Zuteilung der Ressourcen getroffen haben, die ersten sein, die für ihren Irrtum zu bezahlen haben. Vorausgesetzt es gibt eine wirkliche politische Demokratie, eine wirkliche kulturelle Wahl- und Informationsmöglichkeit, ist schwerlich anzunehmen, daß sie lieber ihre Wälder dahinsiechen, ihren Verbrauch an Fleisch sinken, ihren Wohnraum zerfallen, ihre Krankenhäuser ohne ausreichendes Personal lassen, als die falsche Zuteilung von Mitteln rasch zu korrigieren.
Das System, das wir beschrieben haben, wäre noch nicht der „reine Sozialismus“, den Marx und Engels sich vorgestellt haben. Es wäre immer noch eine Übergangsgesellschaft zum Sozialismus – obwohl sie tatsächlich und definitiv auf dem Weg zum Sozialismus wäre und nicht auf dem in eine unbekannte Zukunft oder zurück zum Kapitalismus. Denn es würde immer noch ein Bereich bestehen bleiben, der vom Geld und vom Markt beherrscht wird. Private und genossenschaftliche Unternehmen würden in der Kleinproduktion weiterbestehen (Landwirtschaft, Handwerk, Dienstleistungen, usw.). Privates Unternehmertum wäre nicht verboten. Da alle Bürger ein gesichertes Mindestniveau an Verbrauch hätten, gäbe es keine wirtschaftliche Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft an diese Unternehmer zu verkaufen; Arbeitsverträge mit ihnen wären also wirklich freiwillig. Die „Arbeit auf eigene Rechnung“ könnte zunehmen, wenn Bürger eine Ausstattung an Heimwerkzeugen bekommen, die es ihnen ermöglicht, Dinge für ihren eigenen Bedarf oder den ihrer Familien, ihrer Freunde und Nachbarn herzustellen, und zwar in ihrer Freizeit. Autos, die alle gleich aussehen, machen die Städte häßlich. Sie könnten anders aussehen, wenn die Autobesitzer schöpferische Maler würden und ihre Phantasie darauf verwendeten, ihre Autokarosserien entsprechend zu gestalten. Der Bereich praktischer „do it yourself“-Initiativen würde sich erheblich ausweiten.
Alec Nove hat ein Modell eines machbaren Sozialismus vorgeschlagen, das sich aus fünf Segmenten zusammensetzt: eine Kombination von staatlichen, vergesellschafteten, genossenschaftlichen, kleinen privaten und individuellen Unternehmen. [10] Auf den ersten Blick mag der Unterschied zwischen diesem Schema und dem Modell, das wir gerade skizziert haben, relativ geringfügig erscheinen. Doch obwohl sich die Modelle in einigen Punkten überschneiden, weichen sie in drei Punkten wesentlich voneinander ab.
Der erstebetrifft den Charakter der vorherrschenden Produktions- bzw. Distributionsweise. Für Nove bedeutet individuelle Kostenberechnung auch individuelle Rentabilität der Einheiten. D. h. die Einkommen der jeweiligen Gruppen oder Personen sollen abhängen von der rechnerischen Differenz zwischen den Kosten von Input und Output (in Geld oder Wert ausgedrückt). Mit anderen Worten: diese Einheiten sind unabhängige Firmen. Damit sind wir nicht einverstanden. Unserer Ansicht nach bedeutet das, das Einkommen der Gruppen oder Personen an den „Profit“ zu binden, und damit mächtige Impulse wirtschaftlicher Irrationalität fortbestehen zu lassen, die sich gesellschaftlich verheerend auswirken können, da zahlreiche Entscheidungen in Abhängigkeit von besonderen, partiellen Interessen getroffen werden. Aus dem gleichen Grund glauben wir nicht, daß Übereinkünfte zwischen Produzenten und Konsumenten auf Belohnung oder Bestrafung mit Geld beruhen sollten. Anders ausgedrückt: wirkliche Marktverhältnisse, also Warenaustausch, der in Geldform abgewickelt wird, sollte im wesentlichen begrenzt sein auf die Beziehungen zwischen dem privaten bzw. genossenschaftlichen Bereich einerseits und dem individuellen Verbraucher bzw. dem vergesellschafteten Bereich andererseits. Das würde bedeuten. daß in den fortgeschrittenen Industrieländern solche Marktbeziehungen nur ein untergeordnetes Gewicht hätten im Verhältnis zum gesamten Ausstoß und Verbrauch. Die Dynamik des Übergangs würde sich in Richtung auf das Absterben der Warenproduktion bewegen, nicht in Richtung auf ihre Ausweitung.
Zweitensmacht Alec Nove einen Unterschied zwischen dem zentralisierten, „staatlichen Sektor“, wo der Umfang des Einsatzes der Technik und ihre Kompliziertheit seiner Meinung nach eine Selbstverwaltung der Produzenten unmöglich machen, und einem „vergesellschafteten Sektor“ von Unternehmen mit einer weniger aufwendigen Produktion, wo eine solche Selbstverwaltung eingeführt werden könnte. Er scheint auch anzunehmen, daß Einkommensunterschiede in beiden Sektoren unerläßlich wären; möglicherweise gelte das auch für den genossenschaftlichen Bereich. So schreibt er: „Einkommensunterschiede (eine Art Arbeitsmarkt) sind die einzig bekannte Alternative zur Lenkung der Arbeit durch Befehle. Es ist wichtig, hier eine geistige Konfusion zu vermeiden: manche mögen einwenden, daß es innerhalb einer Kommune oder eines Kibbuz völlige Gleichheit oder auch Rotation der Arbeit geben kann ... Das kann man aber nicht auf die ganze Gesellschaft übertragen, zum Teil deshalb, weil dies nur bei kleinen Einheiten möglich ist, wo die Anzahl der Menschen beschränkt ist, sie sich untereinander kennen und täglich treffen können; und zum Teil deshalb, weil solche Kommunen nur Enthusiasten anziehen, die eine solche Lebensform mögen.“ [11]
Dies Argument entspricht scheinbar dem gesunden Menschenverstand, in Wirklichkeit beruht es auf einer Reihe von unbewiesenen Dogmen und Vorurteilen. Es stimmt nicht, daß es nur die Wahl gibt zwischen einer despotischen „Leitung der Arbeit“ und einem Arbeitsmarkt. Kooperativ verteilte Arbeit ist eine echte Alternative. Noch auch ist es richtig, daß sich sehr große Einheiten nicht ohne Einkommensunterschiede verwalten lassen. Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert wurden Gewerkschaften und Kirchen, die zehn- und hunderttausende Mitglieder umfaßten, oft von Menschen geleitet, die keine ernsthaften materiellen Privilegien dafür erhielten. Das trifft auch auf große wissenschaftliche Organisationen zu, darauf weist Alec Nove selbst hin, ganz zu schweigen von den großen Produktionsgenossenschaften. Nove weist zu Recht an anderer Stelle darauf hin, daß nur wenige Professoren lieber Müllmänner wären, auch wenn sie hierfür besser bezahlt würden. Das steht aber doch eher im Widerspruch zu seiner allgemeinen Annahme. Es ist ein Argument dafür, unangenehme, schmutzige oder Schwerarbeit, nicht Verwaltungstätigkeit oder Facharbeit besser zu entlohnen, vorausgesetzt, die Gesellschaft bezahlt für den Einsatz der Qualifikation.
Aber der vielleicht bedeutendste Fehler in Noves Argumentation liegt woanders. Er liegt in dem Gegensatz, den er zwischen „der kleinen Anzahl von Menschen“ und der „Großorganisation“ annimmt. Denn es gibt nicht so etwas wie eine unstrukturierte, also atomisierte Großorganisation. Eine moderne Fabrik oder Bank, ein Hospital oder eine Hochschule sind sicher nichts dergleichen. Alle Einrichtungen dieser Art beruhen in Wirklichkeit auf kleinen Einheiten, die objektiv gesellschaftlich zusammenarbeiten: Arbeitsteams, Büros, Abteilungen, Klassen usw. Warum sollte es undenkbar sein, daß sich diese kleinen Einheiten selbst verwalten? Daß sie Delegierte wählen (auch solche die rotieren), die dann größere Einheiten verwalten, die ihrerseits das Ganze verwalten? Die Voraussetzungen für demokratische Selbstverwaltung findet man in den Bedingungen, unter denen die heutigen Keimzellen bestehender undemokratischer Institutionen funktionieren: d. h. in den Arbeitsbeziehungen einer kleinen Anzahl von Leuten, die einander kennen, sich täglich treffen und einander brauchen, anders ausgedrückt: die ihre Arbeit ohne gegenseitige Zusammenarbeit überhaupt nicht verrichten können. Darum glauben wir im Gegensatz zu Alec Nove, daß der Wirkungsbereich der Selbstverwaltung grundsätzlich eher ein universeller als ein sektorieller ist, und daß der Anreiz durch Geld und materielle Privilegien nicht unverzichtbar, sondern eher hinderlich ist für eine demokratische Ausübung administrativer Aufgaben.
Der dritte grundlegende Unterschied zwischen Noves Modell und dem unsrigen betrifft die Rolle des Wettbewerbs. Nove ist sich der destruktiven und korrumpierenden Auswirkungen des Konkurrenzkampfs im heutigen Kapitalismus bewußt. Er möchte dennoch den Geldanreiz im Sozialismus aufrechterhalten. Er argumentiert, man müsse zwischen „gutartigen“ und „unerwünschten“ Formen des Wettbewerbs unterscheiden. [12] Aber die Beispiele, die er anführt, um diesen Unterschied zu verdeutlichen, beweisen in Wirklichkeit, welch geringe Bedeutung er im wirtschaftlichen Leben hat. Es ist offensichtlich, daß der „Wettbewerb“ um einen Sitz im schottischen Nationalorchester, um den Sieg auf der Olympia-Bahn oder sogar um die Wahl in den Arbeiterrat eines „vergesellschafteten Dupont-Konzerns“ mit dem Wettbewerb um den Verkauf von Erdöl, Stahl, Schwermaschinen, Flugzeugen oder Raketen auf dem Markt sehr wenig zu tun hat. Die erste Art von „Wettbewerb“ hat unseres Wissens nach noch nie Millionen Menschen Elend gebracht (sie hat sehr viel persönliches Leid gebracht – der Marxsche Sozialismus hat allerdings nie von sich behauptet, er könne alles individuelle Leid aufheben). Die zweite Art von Wettbewerb hingegen hat nicht nur immer wieder Massenerwerbslosigkeit und sinkenden Lebensstandard hervorgerufen, wenn nicht gar völlige Armut, sondern auch Kriege, die Millionen Tote kosteten.
Ein falsches Dilemma
Stufe an freiwillig von Individuen übernommener, sozialer Verantwortung und zugleich gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die von Wettbewerb, Geldentlohnung und materiellem Gewinn geprägt sind, in höchstem Maße utopisch sind. Sie erinnern abgemildert an die naive (oder zynische) Behauptung der sowjetischen Bürokratie, daß die UdSSR den „neuen Menschen“ schaffen kann unter Aufrechterhaltung gewaltiger Unterschiede im Einkommen und im Machteinfluß und bei fortbestehendem allgemeinem Streit um materielle Vorteile. Nove treibt es in seine Widersprüche, weil er Gefangener eines falschen Dilemmas ist. Die Logik seines Irrtums wird in folgender Passage deutlich: „Nehmen wir an, es gäbe sechzehn oder mehr Unternehmen (vergesellschaftete und genossenschaftliche), die das gleiche Produkt oder die gleiche Dienstleistung herstellen. Das mag ein Wolltuch, Zahnpasta, ein Kugellager, Urlaubshotels oder sonst etwas sein. Ihre Aktivität als Produzenten beruht auf Verhandlungen mit den Konsumenten. Letztere können wählen, von wem sie die Güter und Dienstleistungen anfordern. Alle können von ihrem Zulieferer, den sie wählen, die Güter erhalten, die für die Produktion nötig sind. Sie haben ein inhärentes Interesse daran, ihre Kunden zufriedenzustellen ... Wir können hoffen, daß die Motivation zum Wettbewerb nicht in erster Linie darin liegt, mehr Geld zu verdienen.... Aber wir können nicht annehmen, daß die Masse der Bevölkerung nur um des Erfolgs willen handelt, und daß es keines materiellen Anreizes oder materieller Abschreckung bedarf.“ [13]
Mit dem ersten Teil der Argumentation stimmen wir völlig überein. Wir würden noch einschränkend hinzufügen, daß es für die meisten anspruchsvollen oder größeren Ausrüstungsgüter keine sechzehn Lieferanten geben wird. Aber der zweite Teil folgt keineswegs logisch aus dem ersten. Er stellt eine Art Zusatz oder Nachtrag dar, steht aber mit dem ersten Teil in keinem Zusammenhang und entbehrt auch der Begründung. Nove tut so, als könnten Menschen entweder nur völlig uneigennützig handeln oder infolge eines finanziellen Anreizes. Diese Wahlmöglichkeit ist jedoch nicht erschöpfend. Warum soll es nicht Anreize oder Abschreckungen geben, die nicht auf Geld beruhen und keinen Marktcharakter tragen? Die alltägliche Erfahrung lehrt uns, daß diese sogar im Kapitalismus Bedeutung haben. Wenn über 99 % der Autofahrer die Verkehrsampeln beachten, so doch nicht in erster Linie deshalb, weil sie der Geldstrafe entgehen wollen, die bei Übertretung dieses Gebots droht, sondern weil sie länger leben wollen. Dieser gesunde Selbsterhaltungstrieb ist durchaus verwandt mit einem anderen menschlichen Impuls: dem Wunsch, unangenehme, mechanische, langweilige und unschöpferische Arbeit zu reduzieren, d. h. Arbeit, die nur vollbracht wird, um Verbrauchsgüter und Dienstleistungen zu beschaffen und die verlorene Lebenszeit bedeutet. Es gibt immer einen potentiellen Anreiz, die Arbeitsbelastung zu verringern, indem man die Arbeit besser organisiert – das ist ein sehr mächtiger Anreiz. Vor allem aber und darüberhinaus scheint Nove vergessen zu haben, daß auch eine „gesellschaftliche Dividende“ einen Anreiz darstellen kann. Warum sollte eine zusätzliche Menge an kostenlos zugeteilten Gütern und Dienstleistungen nicht an die jährliche wirtschaftliche Gesamtleistung geknüpft werden und dies durch eine öffentliche Debatte und Telekommunikation publik gemacht werden? Wäre es nicht für alle Produzenten und Distributoren von Gütern ein Anreiz, die Quantität zu steigern, die Qualität der Leistungen zu verbessern und ihre Arbeitsorganisation zu rationalisieren, wenn eine bestimmte Steigerung des Güterausstoßes und der Dienstleistungen, die tatsächlich produziert und verbraucht werden, z. B. verbunden würde mit einer zusätzlichen Verlängerung des bezahlten Urlaubs und kostenloser Reisen für alle (wenn dies von der Mehrheit gewünscht wird)? Nachdem Nove auf diese Weise einen künstlichen Gegensatz zwischen subjektiven Motivationen geschaffen hat, der ihn zwingt, den finanziellen Anreiz zu verteidigen, läßt er die objektiv irrationalen Folgen außer acht, die sich aus der Kombination einer verbreiteten Marktwirtschaft mit einem Sektor kostenloser Güter und Dienstleistungen bei gesellschaftlichem Eigentum ergeben. Denn natürlich ist es so, wenn der Profit der grundlegende Mechanismus für die Zuteilung der Ressourcen bleibt, dann gibt es keinen Grund, warum die sich daraus ergebenden negativen Folgen, die im Kapitalismus so deutlich auftreten, nicht wieder auftauchen sollten. Es ist bezeichnend, daß Nove, wenn er auf die Risiken der Zuflucht zum finanziellen Anreiz aufmerksam macht, nur sehr geringfügige Beispiele dafür anführt, nicht die gewaltige Vergeudung, zu der die Produktion für den Profit führt: Überkapazitäten, Überproduktion, Arbeitslosigkeit, Vernichtung von Ausrüstungsgütern und Produkten. All diese typischen Erscheinungsformen beeinträchtigen Produzenten und Konsumenten zugleich viel ernstlicher als die angeblich überzogenen Kosten, die durch das Fehlen der „Disziplin von Gewinn und Verlust“ entstehen. Diese Lehre erfährt man nicht nur tagtäglich unter dem Kapitalismus. Man erfährt sie auch schmerzlich in den nachkapitalistischen Gesellschaften. Die praktische Erfahrung auch dort – vor allem in Jugoslawien und Polen, aber andere Beispiele werden noch folgen – beweist, daß Versuche, die Verzerrungen und die Unwirksamkeit der bürokratisch zentralisierten Planung durch verstärkte Zuflucht zu Marktmechanismen auszugleichen, nach einigen Anfangserfolgen nur zu einer wachsenden Kombination der Übel der Bürokratie mit denen des Marktes führen, wobei sie sich gegenseitig verstärken, nicht etwa abschwächen.
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Dies wird auch für China gelten, obwohl China für die Befürworter eines „marktwirtschaftlichen Sozialismus“ das günstigste Beispiel darstellt, denn je rückständiger ein Land, desto unerläßlicher bleiben Marktmechanismen, vor allem in der Landwirtschaft. Es gibt keinen Zweifel, daß die Überwindung der katastrophalen Fehler des „Großen Sprungs nach vorn“ – ein völlig irrationaler und mystischer Begriff für den Versuch der sofortigen Einführung des Kommunismus – auf dem Land in China zu beträchtlichen Fortschritten geführt hat. Die Produktion und Produktivität sind in die Höhe geschnellt, auf dem Land wird jetzt ein wachsender Überschuß erzeugt. Das war das Ergebnis der Freisetzung gewaltiger produktiver Energien der chinesischen Bauernschaft, die wahrscheinlich fähigste Bauernschaft der Welt, mit einer zweitausend Jahre alten Tradition im intensiven Landbau, die in vielen Teilen Westeuropas, ganz zu schweigen von Osteuropa, nicht ihresgleichen hat. Aber der wachsende Überschuß an Getreide wird zu einem wachsenden Überschuß an landwirtschaftlichen Arbeitskräften führen, da weniger Menschen mehr Nahrungsmittel erzeugen. Was wird mit dieser zusätzlichen Bevölkerung in fünfzehn, zwanzig oder dreißig Jahren sein? Bleibt sie dem Markt überlassen, führt das zu einem gewaltigen Anstieg der Arbeitslosigkeit in China – ein Problem, das in den Großstädten bereits empfindlich spürbar geworden ist. Nur eine geplante Industrialisierung kann diese überschüssige Bevölkerung auf dem Land absorbieren und nur eine demokratisch, nicht bürokratisch geplante Industrialisierung kann dies fertigbringen, ohne daß es zu solchen Erschütterungen auf dem Land kommt, wie sie die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion darstellte, die wiederum selber eine panische Reaktion auf die Ausweitung der Marktverhältnisse in der Sowjetunion war.
In seiner Zusammenfassung aller negativen wirtschaftlichen Konsequenzen aus dem Markt bietet Nove eine positive, politisch rationale Erklärung dafür: daß der Markt die Entscheidungsgewalt streut und damit zu einem Bollwerk gegen die Tyrannei wird. Das ist natürlich die traditionelle liberale Rechtfertigung des Marktes. Aber auch in sozialistischem Gewand ist diese Auffassung nicht weniger falsch. Das wird daran deutlich, daß Nove zugleich erhebliche Einkommensunterschiede für Verwalter akzeptiert. Wenn Verwalter aus ihrer Stellung materielle Vorteile genießen, werden sie unvermeidlich versuchen, diese in einen dauerhaften Besitztitel umzuwandeln, d. h. sich an sie zu klammern samt allem wirtschaftlich irrationalen und politisch repressiven Verhalten, das damit verbunden ist. Die Macht neigt zum Monopol. Die Streuung von Macht, für die Nove eintritt, kann nur verwirklicht werden, wenn ihre Ausübung von Privilegien getrennt wird. Das ist kein Glaubenssatz, sondern eine empirische Tatsache, die sich aus der gesamten schriftlich überlieferten Geschichte der Menschheit ergibt. Wenn Macht und Privileg zusammenfallen, dann ist die Konsequenz daraus die Entfernung von der Demokratie und die Tendenz zum Monopol der Information und des Wissens und der Kontrolle durch eine Minderheit. Nove möchte einen demokratischen Sozialismus. Wenn er aber für Geld als Form der Entlohnung von administrativen Leistungen eintritt, dann ist es kein Zufall, daß er schließlich mit der Notwendigkeit eines starken Staates aufhört. [14] Trotz aller Schärfe seiner Kritik am „real existierenden Sozialismus“ gelangt er auf diesem Weg zu zwei Schlußfolgerungen, die sehr viel näher an die Realität der bürokratischen sowjetischen Ordnung herankommen, als an den marxistischen Sozialismus. Es ist bezeichnend, daß Nove Solidarnosc mit ganz ähnlichen Argumenten wie die polnische Bürokratie dafür kritisiert, daß sie sich geweigert hat, Einschränkungen im Lebensstandard der polnischen Arbeiter zuzustimmen. [15] Dabei vergißt er, daß die Verantwortung für den Zerfall der Wirtschaft nicht bei den Forderungen der Arbeiter und ihren Streikaktionen liegt, sondern beim ganzen System der bürokratischen Mißwirtschaft vor und nach 1980. [16] In ähnlicher Weise berücksichtigt er nicht den unauflösbaren Widerspruch zwischen der Arbeiterselbstverwaltung und dem „Marktsozialismus“, der heute in Jugoslawien zu explosiven Situationen führt. Wenn „objektive wirtschaftliche Gesetze“, die hinter dem Rücken der Produzenten wirken – und das ist das, was Wertgesetz wirklich bedeutet – letztendlich über Produktion und Beschäftigung entscheiden, dann können die Arbeiter weder in ihrem Betrieb, noch in ihrem Wohnbezirk noch auf nationaler Ebene bestimmen, was zu geschehen hat.
Gibt es denn keine Alternative? Das Leitmotiv des vorliegenden Artikels lautet eben, daß es glücklicherweise einen Ausweg gibt: die demokratische und zentralisierte Selbstverwaltung, die geplante „Selbstherrschaft“ der assoziierten Produzenten. Souveränität des Volkes hängt nicht davon ab, daß man eine prästabilisierte oder perfekte Harmonie zwischen dem allgemeinen und den besonderen Interessen in der Gesellschaft voraussetzt. Sie geht im Gegenteil davon aus, daß es unvermeidlich Interessenskonflikte gibt zwischen Produzenten und Konsumenten, technisch mehr oder weniger fortgeschrittenen Produktionseinheiten, gesellschaftlich aktiveren und weniger aktiven Menschen, wirtschaftlich und kulturell mehr oder weniger entwickelten Gebieten. Demokratische Selbstverwaltung bedeutet eben ein System eingebauter Sicherungen, die verhindern, daß diese Widersprüche jegliche Art rationaler Planung und gesellschaftlicher Kooperation untergraben und so erneut Klassenkampf und mörderische Gewalt auslösen. „Marktsozialismus“ hingegen ist weder eine Lösung gegen die Übel des sog. freien Marktes noch gegen die bürokratische Karikatur des freien Sozialismus. Gemischte Wirtschaft bedeutet nur gemischtes Elend. Die reale Wirtschaft eines machbaren und wünschenswerten Sozialismus wäre eine Alternative zu beidem. Im Gegensatz zu Alec Noves erklärtem Glauben gibt es ein Drittes.
Unsere Debatte dreht sich letztlich um ein Problem, das das zentrale Problem der Menschheitsgeschichte ist: ob und unter welchen Bedingungen die Menschheit die Möglichkeit hat, ihr eigenes Geschick zu lenken oder ob Selbstemanzipation und Selbstbestimmung für alle ein ewig unerfüllter Traum bleiben wird. Wenn es den Gesellschaftswissenschaften und der gesellschaftlichen Praxis nicht gelingt, eine Kontrolle über die gesellschaftlichen Prozesse zu erlangen ähnlich der, die die Naturwissenschaften bisher über die Natur errungen haben, dann drohen auch die Fortschritte in den Naturwissenschaften gegen uns zurückzuschlagen. In der uralten Debatte zwischen der Kraft der Vernunft und der Last des Schicksals – letzten Endes ein Wettstreit zwischen Wissen und Aberglauben – stellen die „Marktkräfte“ nichts anderes dar als das blinde Schicksal, durchsichtig verkleidet als Teil-„Rationalität“. Ist die menschliche Erkenntnis der Gesetze ihrer eigenen Entwicklung wirklich eine Frucht, deren Genuß verboten sein sollte?
Eine überarbeitete Version des Buchs von Alec Nove ist online verfügbar. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 200 (Februar 1988). | Startseite | Impressum | Datenschutz