Zur Fluchtbewegung aus der DDR
Winfried Wolf
Seit Wochen hält das Trommelfeuer an: „Der Sozialismus ist tot.“ Blüm fügte hinzu: „Jesus lebt“. Aufleben läßt die Deutsche Bank, etwas realitätsnäher, spezielle Umsiedler-Kredite.
In der Nacht vom 10. auf den 11. August dann der Höhepunkt: Die ungarische Regierung erklärt, die Grenzen des Landes seien für alle geöffnet, die sie in Richtung Westen verlassen wollen. Der Westen, die Bundesregierung, Bosse und Banker jubilieren; die „Tagesthemen“ entblöden sich nicht zu vermeldet: „Natürlich waren Pkw westlicher Bauart die ersten an der Grenze.“
Einmal abgesehen von dieser heuchlerischen Kampagne derjenigen, die jeden Ausländer ohne Arier-Persilschein möglichst gleich an den Grenzen zurück in Länder, wo sie Folter und Tod erwartet, abschieben, muß unmißverständlich festgestellt werden: Eine sozialistische Gesellschaft muß ein Maximum an Freiheit und demokratischen Rechten gewähren, weit mehr, als es die liberalste bürgerliche Demokratie gewähren kann. Freizügigkeit ist eines der unverzichtbaren Menschenrechte ähnlich wie dasjenige auf Bildung freier, unabhängiger Gewerkschaften, Autonomie der Bewegungen und wirkliche Selbstbestimmung der Menschen. Nichts von alledem existiert in der DDR, real existiert dort die Abwesenheit dieser Grundrechte. Das heißt auch: Die Entscheidung dieser Menschen, in die BRD überzuwechseln, muß gerade von Sozialistinnen und Sozialisten als Wahrnehmung eines elementaren Menschenrechtes respektiert werden.
Bei unserer bedingungslosen Respektierung dieses elementaren Rechts kann nicht übersehen werden: Die aktuelle Fluchtbewegung aus der DDR und anderen RGW-Ländem (aus Bulgarien in die Türkei, aus Rumänien nach Ungarn) wird als Wasser auf antikommunistische Mühlen genutzt. Dieselben West-Regierungen, die die Potentaten der RGW-Länder viele Jahre lang unterstützt und von deren Politik profitiert hatten, buchen nun die Pleite dieser Regimes unter dem Propagandaslogan „Ende des Kommunismus“ ab. Wer, wenn nicht Westregierung und Westbanker unterstützte denn jahrzehntelang Ceauçescu nebst herrschender Sippschaft? Wer sah zinsgeil zu, wie dieser „Große Conducator“ Land und Volk auspreßte? Wer erhielt den Ehrentitel „Großer Einfädler“ und brachte einen Milliarden-Sonderkredit in einem Sonderzug nach Pankow?
Selbst wenn wir die „Dritte Welt“ — ein Produkt des westlichen Imperialismus — ausklammern, selbst wenn wir absehen von den Völkerwanderungen aus Elend, Armut, Hunger in dieser ihrer „Dritten Welt“, selbst wenn wir die neue Armut in den imperialistischen Metropolen ausblenden — selbst auf der banalen Ebene „Eure Mauer — unsere Mauer“ —, lautet das Ergebnis: In Ost und West existieren unmenschliche Regime, krasse soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die Menschen zu hundertausenden zur Flucht veranlassen. Was ist mit den 50 000 Menschen, die jährlich aus Irland fliehen? Was ist mit Südkoreas Regime, soeben von Kohl als „demokratisch“ geziehen, das die Grenze nach Norden hermetisch abriegelt? Wer berichtet über die Tragödien an dem Tausende Kilometer langen Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko, an welchem eine Massenflucht von Mexikanerinnen und Mexikanern in die reicheren USA mit Waffengewalt abgewehrt wird?
„Die Freiheit leuchtet“ wußte der Freistaats-Vorsteher Streibl anläßlich der Massenflucht anzüglich zu formulieren. Tatsächlich ist einiges Gold, was so glänzt. Ungarn ist das RGW-Land mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung im Westen, mit dem größten Westexportanteil. Es ist ein Land, in welchem die Menschen einiges mehr zu verlieren haben als die Ketten, die sie an die Herrschenden binden. Mit einem Wort: Ungarn ist erpreßbar. Die dort Herrschenden — Reformer wie Betonköpfe — wissen: Sie müssen den Lebensstandard der Massen vor dem drohenden radikalen Verfall bewahren, wenn sie nicht Kopf, Kragen und Privilegien riskieren wollen. Also verkaufen sie das Tafelsilber des Landes an den Westen — so große Teile des Tungsram-Konzerns und der Handelsbanken. Ob sie nun auch Menschen verkauft haben? Innenminister Schäubles Kommentar: „Wir werden nicht vergessen, wie großartig Ungarn uns Deutschen in diesen schweren Stunden geholfen hat.“
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Angesichts der schweren Krise in den RGW-Ländern sitzt der Westen am längeren Hebel. Und er nutzt ihn. Es existiert jedoch auch eine punktuelle Interessenidentität zwischen den hier ihren Profit und dort ihre Privilegien Verteidigenden: Menschen gegen Marktöffnung, neue Anlagemöglichkeiten des Kapitals gegen EG-Lebensmittelhilfe, Konvertibilität des Złoty gegen neue Kredite, Mark gegen Marx. Es wäre zu einfach, nur den Westen zu denunzieren. Wer in Polen die Lenin-Werft an westliches Kapital verkaufen, wer in der UdSSR Kaliningrad zur „Freihandelszone“ erklären will, arbeitet gegen die Interessen der arbeitenden Menschen.
Der „Kommunismus“ sei „am Ende“ — so jubilieren diejenigen, die auch sprachlich einen Pakt mit den im Osten Herrschenden bildeten, die deren Regime als „kommunistisch“ titulieren, um das Gespenst des Kommunismus besser bekämpfen zu können. Tatsache ist, daß weder die Regime in den RGW-Ländern und in der VR China noch der Kapitalismus die Probleme der Menschen — Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Hunger, Ökokatastrophen — lösen können. Tatsache ist, daß immer wieder Menschen, wenn sie die Möglichkeit zu einer kollektiven Diskussion und Aktion haben, für eine ganz andere Lösung stimmen: gegen Ost-Regime, nicht für einen West-Kapitalismus, für die Verteidigung der eigenen Interessen. So zuletzt geschehen im Juli 1989, im Fall des Streiks von 500 000 Menschen in den sowjetischen Bergbaugebieten. Ihre Forderungen lauteten: Keine Privilegien — gleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums; die Arbeitenden sollen über die Ergebnisse ihrer Arbeit selbst entscheiden können; Schluß mit dem Raubbau an der Natur. Unsere Vorstellungen einer menschlichen Gesellschaft entsprechen weitgehend solchen Zielen.
Sozialismus ist für uns eine reale Utopie, noch immer nicht real existierend. Dies ist die nüchterne Wahrheit. Mit dieser läßt sich besser leben als mit der Akzeptierung eines der Herrschaftsmodelle im Westen und Osten, die beide keine Antwort auf die entscheidenden Themen von Menschheit und Natur geben, die beide nach der Devise wirtschaften: „Nach uns die Sintflut, doch jetzt noch eine schnelle Ost-West-Mark.“
Aus: SoZ — Sozialistische Zeitung, Nr. 18, 14. September 1989 |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 220 (Oktober 1989). | Startseite | Impressum | Datenschutz