Der folgende Beitrag, verfaßt am 5. März 1990 von Manuel Kellner, Angela Klein und Hans-Günter Mull, sollte Positionen und Diskussionsstand der Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP), in der die Mitglieder der IV. Internationale in der BRD und Westberlin organisiert sind, in Reaktion auf die Meinungsbildung in der Leitung der IV. Internationale zusammenfassen und wurde in der Presse der IV. Internationale (Inprecor, Nr. 305) als Position der VSP veröffentlicht.
Manuel Kellner, Angela Klein und Hans-Günter Mull
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Die VSP erwartet, daß nach den Wahlen am 18. März eine Periode beginnt, während der die entscheidenden Maßnahmen für ein Aufsaugen der DDR durch die BRD getroffen werden. Die Dauer dieser Periode mag variieren, je nach den Hindernissen, die sich diesem Vorhaben in den Weg stellen werden. Allerdings haben die Massenflucht und der imperialistische Druck eine schwerwiegende Destabilisierung der DDR-Ökonomie bewirkt, die ihrerseits die Fluchtbewegung verstärkt hat. Die Abwesenheit einer Massenbewegung in der BRD stärkt wiederum den Druck für die Vereinigung. Die einen erwarten davon ein Ende der Wanderungswelle in den Westen und die anderen eine spürbare Verbesserung ihrer materiellen Lage. Die Drift zur kapitalistischen Wiedervereinigung ist unumkehrbar geworden.
Das föderale System, welches in der DDR nach den Wahlen eingeführt werden soll, würde der deutschen imperialistischen Bourgeoisie sehr helfen, diese Assimilierung durchzuführen. Es würde ihr erlauben, eine ganze Reihe von Ausnahmeregelungen zu in der BRD geltenden Gesetzen zuzulassen. Dies könnte im Bildungssystem Anwendung finden, bei einem Teil des sozialen Netzes, der Steuergesetzgebung, der Mietpreisgestaltung, der Eigentumsformen, bei der Wahlgesetzgebung und bei Rechten wie dem der Volksabstimmung. Die einzige Sache, die garantiert werden müßte, wäre, daß im Falle eines Konflikts zwischen Ländern und Bundesgesetzgebung letztere entscheidet.
2. |
Angesichts der Abwesenheit einer glaubwürdigen sozialistischen Alternative zur Zeit in der BRD besteht die einzige Möglichkeit, Errungenschaften der Lohnabhängigen und der Frauen in der DDR zu verteidigen, darin, die staatliche Souveränität und Unabhängigkeit der DDR in jeder Hinsicht zu verteidigen. Darum spricht sich die VSP entschieden gegen die sogenannte „Wiedervereinigung“ aus.
Man wird uns entgegnen, daß wir eine Perspektive aufzeigen, die wir oben selbst als unrealistisch bezeichnet haben. Das ist wahr. Und natürlich wird diese Perspektive dann nicht mehr viel Sinn haben, wenn die Einheit zur Tatsache wird, sogar wenn sie formal noch nicht abgeschlossen ist. Doch so weit sind wir nicht. Die DDR existiert noch als souveräner Staat, und solange Menschen in der DDR für eine nichtkapitalistische Gesellschaft, für eine Alternative zur BRD kämpfen, haben wir kein Recht, diesen Kampf für unnütz zu erklären.
3. |
Wir halten die Herstellung einer gemeinsamen Kampffront von Lohnabhängigen, Frauen, Jugendlichen, sozialen Bewegungen in DDR und BRD für lebensnotwendig; das ist unsere Art und Weise, die Grenzen zu bekämpfen.
4. |
Aus dem gleichen Grund sehen wir keine Grundlage für eine Losung wie die einer „sozialistischen Wiedervereinigung Deutschlands“.
Das Soziale und das „Nationale“ sind in dieser Situation untrennbar miteinander verbunden, die „nationale“ Frage wird vom Imperialismus systematisch benutzt, um den nationalen Konsens zu schaffen, den er braucht, um die „Opfer“. die erfordert, durchsetzen zu können. Angesichts der enormen Herausforderung. die das Vorhaben der Vereinigung für den Imperialismus bedeutet, muß er den deutschen Chauvinismus Türken und braucht wieder ein Klima, wo er „keine Parteien mehr kennt, nur nochDeutsche“. Dies geht Hand in Hand mit der Verschärfung der repressiven und diskriminierenden Gesetzgebung gegenEinwanderinnen und Einwanderer. gegen das Asylrecht, gegen die nichtvölkischen demokratischen Rechte, mit fremdenfeindlichen und rassistischen Aktionen.
5. |
a) Die VSP stellt sich entschieden gegen alle Formen der Wiedervereinigungkampagne. wie sie gegenwärtig von der Bundesregierung, den Vertriebenenverbänden, den Unternehmern und rechtsextremen und faschistischen Organisationen geführt wird. Sie hat dies unmißverständlich in Artikeln und in der allgemeinen Linie ihrer Zeitung SoZ[Sozialistische Zeitung] zum Ausdruck gebracht.
b) Die VSP hat über diese unwidersprocheneantirevanchistische Position hinaus keineDiskussion über die nationale Frage nacheiner sozialistischen Revolution in der BRD oder im Zusammenhang mit einer solchen Revolution geführt. Solche Positionen müssen ihren Platz in der politischen Debatte und in der VSP haben können. Sie können nicht als revanchistisch ausgegrenzt werden.
c) Unabhängig von dieser noch ausstehenden Diskussion geht die VSP davon aus, daß die Frage der Wiedervereinigung unter den gegebenen Bedingungen nicht fortschrittlich aufgeworfen werden kann.“
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Zugleich wird in der VSP über die Möglichkeit einer Initiative für einen Bevölkerungsentscheid zur Wiedervereinigung diskutiert. Wir wollen „nein“ sagen können zum Anschluß der DDR, und wir wollen das Bestreben der Massen, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden, stärken. Wir wollen ein wirkliches Selbstbestimmungsrecht, welches die fünf Millionen in der BRD lebenden Einwanderinnen und Einwanderer einschließt, denen keinerlei Mitentscheidungsrecht eingeräumt wird.
Zugleich unterstützen wir bestehende Initiativen für die Abschaffung der westdeutschen Armee, dem schweizerischen Beispiel folgend. Es gibt in der Bevölkerung eine tatsächliche Stimmung, diese Situation zu nutzen, um eine neue Ordnung in Europa zu erreichen, die nicht mehr von Armeen, Atomwaffen, Nationalstaaten, Chauvinismus und Rassismus geprägt wäre. In dieser Hinsicht hat die VSP dem Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale eine gemeinsame Initiative vorgeschlagen, für die Abschaffung der Armee in jedem einzelnen europäischen Staat – in der Perspektive eines entmilitarisierten Europas – und für eine europäische antimilitaristische Konferenz, die einer internationalen Demonstration den Weg bereiten könnte.
Wir wirken für die Solidarität der arbeitenden Menschen über alle Grenzen hinweg und stützen uns auf die Motive der Selbstverteidigung gegen die kapitalistische Offensive.
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 227 (Mai 1990). | Startseite | Impressum | Datenschutz