Manuel Kellner
Dieser Beitrag, geschrieben in der ersten Februar-Woche, erschien am 1. März 1990 in Rouge, der Zeitung der LCR, der französischen Sektion der IV. Internationale, zur Verdeutlichung der Kritik der VSP an der von LCR und Rouge propagierten Losung „Gegen kapitalistische Wiedervereinigung, für ein vereinigtes sozialistisches Deutschland“.
Es ist klar, daß Rouge und die LCR zur aktualisierten deutschen Frage eine Reihe von Positionen verteidigen, die auch wir vertreten: das Anprangern des Vorhabens des deutschen Imperialismus, die DDR zu vereinnahmen und dort den Kapitalismus wieder einzuführen: die Unterstützung der Verteidigung der unmittelbaren Interessen der Lohnabhängigen; und. natürlich, die allgemeine Perspektive einer wirklichen sozialistischen Demokratie.
Aber die Losung eines „vereinigten sozialistischen Deutschland“ aufzustellen, scheint um ein Fehler zu sein. Zunächst paßt dies in keiner Weise zur politischen Konjunktur, da die einzige heute realistische deutsche Einheit eben gerade die Schaffung eines neuen imperialistischen und kapitalistischen Staates ist zu Lasten verbliebener Errungenschaften in der DDR. zu Lasten der Interessen der Arbeiterklasse und der Besitzlosen im allgemeinen, einschließlich auf Weltebenc.
Es scheint uns unrealistisch, sich auf das Geschrei nach „Deutschland einig Vaterland“ in Leipzig als auf etwas potentiell Fortschrittliches stützen zu wollen. Jene, die das rufen, drücken nicht mehr die tiefen demokratischen Bestrebungen der Volksmassen aus. die im November 1989 das alte Regime des bürokratischen Partei-Staats bis in seine Grundfesten erschütterten, sondern vielmehr die Verzweiflung und den Mangel an einer glaubwürdigen Alternative, Zugleich öffnen sie sich weit allen Themen der extremen Rechten, der Fremdenfeindlichkeit, dem Rassismus, dem Antiintellektualismus, dem aggressiven Antikommunismus. indem sie „Rote ’raus” schreien und diejenigen als Stalin- oder Stasi-Kinder beschimpfen, die sich bemühen, antikapitalistische Argumente in der öffentlichen Debatte zu behaupten.
Wir sind uneingeschränkt für die Öffnung der Grenzen, für die in November eroberten Freiheiten, für die Elemente direkter Demokratie, für die Reisefreiheit, die Bewegungsfreiheit, das Recht der Wahl des Wohnorts. Aber wir sind mit der Behauptung nicht einverstanden. daß das Recht auf nationale Selbstbestimmung ein unverletzliches demokratisches Recht wäre. Für uns gibt es – wie Lenin zu Recht in die Diskussion der revolutionären Linken einführte – ein unveräußerliches Recht unterdrückter Nationen und Nationalitäten auf nationale Selbstbestimmung. Aber es gibt kein unterdrücktes deutsches Volk. Wir verteidigen das Recht der Bevölkerung der DDR auf Selbstbestimmung, welches Recht gerade vom westdeutschen Kapital, seinem Staat und seinen Politikern in Frage gestellt wird, die vollendete Tatsachen schaffen, indem sie sich auf die Agonie des sich rasch zersetzenden bürokratischen Systems stützen.
Ein Einwand mag lauten, daß die Teilung Deutschlands nicht nur ungerecht war. sondern auch eine Spaltung der deutschen Arbeiterklasse bewirkte, die ihre revolutionären Potenzen schmälern sollte. Aber diese Arbeiterklasse ist nun seit Jahrzehnten geteilt und lebte in zwei sehr verschiedenen politischen und sozialen Systemen, mit sehr tiefgehenden Konsequenzen. Die Klasseneinheit zwischen diesen beiden Klassen wiederherzustellen ist notwendig. Aber sie wird sich nur über die demokratischen und sozialen Fragen mit emanzipatorischer Ausrichtung herstellen lassen, nicht über die nationale Frage. Es gibt kein „Menschenrecht“ auf Imperialismus.
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Aber wenn die ungleiche Entwicklung beider Klassen aufgehoben und die Macht des Kapitals in der BRD ihrerseits erschüttert würde? Davon sind wir weit entfernt. Und wenn das eintritt, wäre die sozialistische Revolution zumindest auf europäischer Ebene auf der Tagesordnung. Die Losung „Vereinigtes sozialistisches Deutschland“ wäre auch dann genausowenig fortschrittlich, denn dann wäre gerade die Perspektive des Absterbens der Nationalstaaten von Anfang an vorzuschlagen, die Schwächung der alten imperialistischen Nationen zugunsten der kleinen unterdrückten Nationen.
Die wirklichen Probleme, die sich heute gegen den Strom der schwarz-rot-goldenen Euphorie stellen, sind die sozialen Konsequenzen der beschleunigten Destabilisierung und die Kosten der raschen Annektion der DDR für die Lohnabhängigen, für die Einwanderinnen und Einwanderer (gegen die die Kohl-Regierung eine noch repressivere Gesetzgebung vorbereitet). für die Bevölkerung beider Länder. Dagegen muß die Solidarität von unten gestellt werden, auf allen Ebenen und über alle Grenzen hinweg.
Manuel Kellner (für das Sekretariat des Politischen Büros der VSP) |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 227 (Mai 1990). | Startseite | Impressum | Datenschutz