Geschichte

Rosa Luxemburg und die deutsche Sozialdemokratie

Ernest Mandel

Der Platz Rosa Luxemburgs in der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung bleibt noch näher zu bestimmen. Seit dem Niedergang des stalinistischen Monolithismus werden ihre Verdienste fast einhellig hervorgehoben, doch oft fügt man eilig hinzu, daß sie „zur Welt von vor 1914 gehört“ [1]. Tatsächlich geraten die Historiker, die versuchen, sie in diese Geschichte einzuordnen, um so mehr in Verlegenheit, als sie mit im wesentlichen subjektiven Kriterien an die Geschichte der Arbeiterbewegung herangehen. Rosas Verdienste werden bei dieser Betrachtungsweise je nach der Neigung des Autors verteilt auf die Aufdeckung der Wurzeln des Imperialismus, die kompromißlose Verteidigung des Marxismus gegen den Bernsteinschen Revisionismus, das Festhalten an den Prinzipien der Massenaktion und Massenspontaneität oder gar die Verteidigung der Prinzipien der Arbeiterdemokratie gegen die bolschewistischen „Exzesse“.

Die Schwierigkeit verschwindet, sobald man die Geschichte der Arbeiterbewegung mit objektiven Kriterien untersucht und hierbei auf den Marxismus selbst die Grundthese des historischen Materialismus anwendet: In letzter Instanz bestimmt die materielle Existenz das Bewußtsein, und nicht umgekehrt. Um den Wandel im Denken der internationalen Arbeiterbewegung einschließlich der aufeinanderfolgenden Rezeptionen des Marxismus zu erklären, muß man von den Veränderungen der gesellschaftlichen Realität ausgehen. In diesem Rahmen erscheint Rosas Rolle in der Entwicklung der Arbeiterbewegung vor 1914, ja sogar bis 1919 nicht mehr fragmentweise und zufällig, sondern gewinnt ihre Einheit wieder. Nur mit Hilfe einer solchen Methode tritt die entscheidende Bedeutung von Rosas Aktivität und Werk hervor und hebt sich von einer reinen Chronik und zusammenhanglosen Aufzählung von Besonderheiten in ihrem Wirken ab.


Die „alte bewährte Taktik“ gerät in eine Krise


Dreißig Jahre lang hat die Taktik der deutschen Sozialdemokratie, die „alte bewährte Taktik“, vollkommen die internationale Arbeiterbewegung beherrscht. In der Tat, sieht man einmal von der im ganzen genommenen isolierten Erfahrung der Pariser Kommune und einiger Bereiche der internationalen Arbeiterbewegung, in denen Anarchisten überwogen, ab, so hat die Sozialdemokratie einem halben Jahrhundert der Geschichte von Klassenkämpfen ihren Stempel aufgedrückt. Dieser Einfluß überwog in so hohem Grad, daß selbst diejenigen, die, wie Lenin und die bolschewistische Fraktion, auf nationaler Ebene mit dieser Tradition in der Praxis gebrochen hatten, sich weiterhin ehrfürchtig auf das deutsche Modell wie auf ein taktisches Modell von universeller Gültigkeit bezogen.

Die „alte bewährte Taktik“ konnte zu ihrer Verteidigung bedeutende Autoritäten anführen. In den letzten 15 Jahren seines Lebens hatte Friedrich Engels, trotz vielsagendem Zögern [2], sie hartnäckig verteidigt, und zwar so sehr, daß er in seinem „politischen Testament“, der Einleitung, die er 1895 für die neue deutsche Ausgabe von Marxens Klassenkämpfe in Frankreich (1848-1850) verfaßte, eine regelrechte Charta aufstellte. Die berühmtesten Passagen dieser Einleitung wurden zwischen 1895 und 1914 in allen europäischen Sprachen unzählige Male zitiert. Die Sozialdemokraten führten diese Routine zwischen 1918 und 1929 fort, bis die Weltwirtschaftskrise und die Krise der Sozialdemokratie selbst diesen sterilen Übungen ein Ende bereiteten: „Überall hat man das deutsche Beispiel der Benutzung des Wahlrechts, der Eroberung aller uns zugänglichen Posten nachgeahmt, überall ist das unvorbereitete Losschlagen in den Hintergrund getreten ...

Die zwei Millionen Wähler, die sie an die Urnen schickt, nebst den jungen Männern und Frauen, die als Nichtwähler hinter ihr stehen, bilden die zahlreichste, kompakteste Masse, den entscheidenden ‘Gewalthaufen’ der internationalen proletarischen Armee. Diese Masse liefert schon jetzt über ein Viertel der abgegebenen Stimmen ... Ihr Wachstum geht so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozeß. Alle Regierungseingriffe haben sich ohnmächtig dagegen erwiesen. Auf 2½ Millionen Wähler können wir schon heute rechnen. Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle anderen Mächte sich beugen müssen, ob sie wollen oder nicht. Dies Wachstum ununterbrochen in Gang zu halten, bis es von selbst dem gegenwärtigen Regierungssystem über den Kopf wächst, diesen sich täglich verstärkenden Gewalthaufen nicht in Vorhutkämpfen aufreiben, sondern ihn intakt zu erhalten, bis zum Tag der Entscheidung, das ist unsere Hauptaufgabe.“ (Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften, Dietz-Verlag 1966, S. 123 f., Band I.)

Sicherlich, wir wissen heute, daß die deutschen Sozialdemokraten auf schändliche Weise den Text von Engels verstümmelt und seinen Sinn entstellt hatten, indem sie alles ausließen, was bei diesem alten Mitkämpfer und Freund von Marx von Grund auf revolutionär blieb [3]. Aber das ist nicht das Wesentliche. Der Absatz, den wir zitiert haben, ist authentisch. Er rechtfertigt voll und ganz die „alte bewährte Taktik“: soviel Mitglieder wie möglich organisieren, die größtmögliche Anzahl von Arbeitern erziehen, bei Wahlen ein Maximum an Stimmen gewinnen, gute Streiks zur Erhöhung der Löhne und Durchsetzung von Sozialgesetzen führen (vor allem die Verkürzung der Arbeitswoche) – der Rest kommt von allein, automatisch: „alle anderen Mächte werden sich vor uns beugen müssen“ (sic); unser Aufstieg ist „unwiderstehlich“; wir müssen „unsere Kräfte bis zum Tag der Entscheidung intakt halten“ (re-sic)...

Überzeugender noch als der Segen des ehrwürdigen Altmeisters des internationalen Sozialismus war das Urteil der Tatsachen. Diese Tatsachen gaben Bebel, Vandervelde, Victor Adler und anderen Pragmatikern recht, die sich damit begnügten, dieser von nun an geheiligten Routine zu folgen. Die Stimmenzahlen nahmen von einer Wahl zur anderen zu. Wenn es einige Male einen unerwarteten Rückschlag gab (die „Hottentottenwahlen“ 1907 in Deutschland), folgte ihm eine besonders glänzende Revanche auf dem Fuße: bei den Reichstagswahlen 1912 erhielt die Sozialdemokratie ein Drittel aller Stimmen. Die Arbeiterorganisationen wurden immer stärker, breiteten sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aus, fügten sich zu einer regelrechten „Gegengesellschaft“ zusammen und ermöglichten so eine kontinuierliche Entwicklung des Klassenbewußtseins. Die Löhne stiegen, die Arbeitsschutzgesetze häuften sich; das Elend wurde zurückgedrängt, ohne jedoch zu verschwinden. Der Aufstieg schien in so hohem Grad unwiderstehlich, daß er nicht nur die bereits Überzeugten, sondern auch die Gegner berauschte.

Das Bewußtsein hinkte, wie immer, auch jetzt hinter der Wirklichkeit her. Dieser ganze „unaufhaltsame Aufstieg“ hatte einem Aufschwung des internationalen Kapitalismus entsprochen, einer säkularen Verminderung der „industriellen Reservearmee“ in Europa, besonders durch die Auswanderung, einer wachsenden Überausbeutung der kolonialen und halbkolonialen Länder durch den imperialistischen Kapitalismus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Quellen, die diese zeitweise Dämpfung der sozio-ökonomischen Widersprüche in der westlichen Welt genährt hatten, zu versiegen. Von nun an stand die Verschärfung und nicht die Milderung der gesellschaftlichen Widersprüche auf der Tagesordnung. Was bevorstand, war nicht eine neue Ära des friedlichen Fortschritts, sondern das Zeitalter der imperialistischen Kriege, der nationalen Befreiungskriege und der Bürgerkriege. Einer langen Phase der Verbesserungen folgten nun zwei Jahrzehnte der Stagnation, ja sogar des Rückgangs der Reallöhne. Die Epoche der Evolution war verstrichen; die Epoche der Revolution sollte beginnen.

Die „alte bewährte Taktik“ verlor in diesem neuen Zeitalter ihren Sinn; sie begann sich von einem Organisationsprinzip in eine verheerende Falle für das europäische Proletariat zu verwandeln. Die überwältigende Mehrheit der Zeitgenossen hat dies vor dem 4. August 1914 nicht begriffen. Selbst Lenin verstand dies nicht, soweit es die Länder westlich des Zarenreichs betraf; Trotzki zögerte. Das Verdienst Rosas besteht darin, als erste klar und systematisch die Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung der Strategie und Taktik der westlichen Arbeiterbewegung begriffen zu haben, angesichts der Veränderung der objektiven Lage und des beginnenden imperialistischen Zeitalters [4].


Die Wurzeln von Rosas Kampf gegen die „alte bewährte Taktik“


Gewiß, die neue objektive Realität war von den scharfsichtigsten Marxisten seit Ende des 19. Jahrhunderts teilweise erfaßt worden. Die Phänomene der Ausdehnung der Kolonialreiche, der Anfänge des Imperialismus als Expansionspolitik des Großkapitals wurden analysiert. Hilferding schrieb sein bemerkenswertes Werk Das Finanzkapital. Man registrierte das Auftauchen der Kartelle, der Trusts, der Monopole (die Revisionisten verwiesen übrigens auch hierauf, um zu erklären: Der Kapitalismus wird immer mehr organisiert sein, seine Widersprüche werden sich deshalb mehr und mehr abschwächen: es gibt offenbar nichts Neues unter der Sonne). Seit dem Stuttgarter Kongreß der Internationale wuchs das Mißtrauen Lenins, der holländischen und polnischen Linken, der belgischen und italienischen Linken, wegen Kautskys Konzessionen an die Revisionisten, vor allem auf der Ebene des Kampfes gegen den imperialistischen Krieg. Der Stimmzettelopportunismus, die „taktischen“ Bündnisse dieser oder jener regionalen oder nationalen Gruppe (die „Badener“ in Deutschland; die Mehrheit der belgischen Arbeiterpartei (POB); die Anhänger von Jaurès in Frankreich etc.) mit der liberalen Bourgeoisie wurden einer harten Kritik unterworfen. Aber all das blieb vereinzelt und bruchstückhaft und führte vor allem nicht dazu, die „alte bewährte Taktik“ – die mehr als jemals zuvor tabu war – durch eine neue Strategie und Taktik zu ersetzen.

Der einzige Versuch, der in dieser Richtung zwischen 1900 und 1914 westlich von Rußland unternommen wurde, war der von Rosa. Dieses außergewöhnliche Verdienst ist nicht nur ihrem unleugbaren Genie zu verdanken, der Schärfe ihres Verstandes und ihrer absoluten Ergebenheit an die Sache des Sozialismus und des internationalen Proletariats. Es erklärt sich vor allem aus den historischen und geographischen, d. h. gesellschaftlichen Bedingungen, in denen ihr Handeln und Denken entstanden sind und sich entwickelten.

Ihre außergewöhnliche Stellung als führendes Mitglied zweier sozialdemokratischer Parteien, der polnischen und der deutschen Partei, setzte sie auf einen Beobachtungsposten, der die Aufnahme von zwei widersprüchlichen Tendenzen in der internationalen Sozialdemokratie erleichterte: einerseits ein gefährliches Versinken in eine immer konservativere, bürokratische Routine in Deutschland; auf der anderen Seite das Aufsteigen neuer Kampfformen und Kampfmethoden im Zarenreich. So konnte sie auf der Ebene der Taktik der Arbeiterbewegung die gleiche kühne Umwälzung vollziehen, wie Trotzki sie auf dem Gebiet der revolutionären Perspektiven geleistet hatte. Es war nicht mehr notwendigerweise das „fortgeschrittene“ Land, das dem „zurückgebliebenen“ das Abbild seiner eigenen Zukunft aufzeigte. Es war im Gegenteil die Arbeiterbewegung des „zurückgebliebenen“ Landes (Rußlands, Polens), die den fortgeschrittenen Ländern des Westens die dringend notwendige Anpassung der Taktik aufzeigte, die es vorzunehmen galt.

Sicherlich, auch hier gab es Vorläufer. Parvus veröffentlichte bereits 1896 eine lange Arbeit in der Neuen Zeit, in der er den Einsatz der Waffe des politischen Massenstreiks gegen die Drohung eines Staatsstreichs zur Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts ins Auge faßte [5]. Diese Arbeit wiederum war angeregt von einem Antrag, den Kautsky bereits 1893 der 10. Kommission des Sozialistischen Kongresses in Zürich vorgelegt hatte, über die Maßnahmen gegen die Bedrohung des allgemeinen Wahlrechts; Engels hatte eine ähnliche implizite Drohung vorgebracht. Aber alle diese Versuchsballons blieben isoliert. Sie führten nicht zu einem systematischen strategischen oder taktischen Konzept.

Neben Rosas tiefer Vertrautheit mit den Arbeiterbewegungen Polens und Rußlands half ihr ein gründliches Studium von zwei politischen Krisen, die Westeuropa gegen Ende des Jahrhunderts erschütterten: die durch die Dreyfus-Affäre hervorgerufene Krise in Frankreich und der Generalstreik für das allgemeine Wahlrecht 1902 in Belgien. Aus dieser zweifachen Erfahrung schöpfte sie einen tiefen Widerwillen gegen den parlamentarischen Kretinismus und eine wachsende Überzeugung, daß die „alte bewährte Taktik“ am „Tag der Entscheidung“ Schiffbruch erleiden werde, wenn die Massen nicht schon lange vorher gelernt hätten, die außerparlamentarische, politische Aktion in dem gleichen Maß zu handhaben wie die Wahlroutine und die Durchführung ökonomischer Streiks.

Aber die Erfahrung der russischen Revolution von 1905 war das Ereignis, das es Rosa ermöglichte, die verstreuten Elemente zu einer systematischen Kritik der „alten bewährten Taktik“ der westlichen Sozialdemokratie zusammenzufügen. Rückblickend ist es zweifellos das Jahr 1905, das das Ende der im wesentlichen progressiven Rolle der internationalen Sozialdemokratie markiert und die Phase der Zweideutigkeit eröffnet, in der weiterbestehende fortschrittliche Züge Hand in Hand gehen mit reaktionären Einflüssen, die nun auftauchen, sich verstärken und schließlich in das Desaster von 1914 münden.

Um die Bedeutung der russischen Revolution von 1905 zu verstehen, muß man zuallererst daran erinnern, daß es die erste revolutionäre Explosion größeren Ausmaßes war, die Europa seit der Pariser Kommune, d. h. seit 34 Jahren erlebte. Es war natürlich, daß eine so leidenschaftliche Revolutionärin wie Rosa Luxemburg dabei sorgfältig alle zutage tretenden Phänomene und besonderen Züge studierte, um daraus Schlüsse über das Schicksal der zukünftigen Revolutionen in Europa abzuleiten. Marx und Engels hatten in bezug auf die Revolutionen von 1848 und die Kommune genauso gehandelt.

Vom Standpunkt der Ausarbeitung einer neuen Strategie und Taktik der internationalen Sozialdemokratie im Unterschied zu der SPD spielt ein besonderer Zug der russischen Revolution von 1905 eine entscheidende Rolle. Jahrzehntelang standen sich in der Debatte zwischen Anarchisten und Syndikalisten einerseits und Sozialdemokraten andererseits die Verfechter der direkten Aktion einer Minderheit und die Verfechter der im wesentlichen „friedlich“ (Wahlen und Gewerkschaftsarbeit) organisierten Massenaktion gegenüber.

Aber die russische Revolution von 1905 brachte eine von beiden unvorhergesehene Kombination: die direkte Aktion der Massen, aber von Massen, die, weit davon entfernt, am Zustand der Unorganisiertheit und der Spontaneität Gefallen zu finden, sich gerade dank der Aktion und im Hinblick auf künftige, noch kühnere Aktionen in ihrer Mehrheit organisieren.

Lenin und Rosa unterstrichen beide die im Westen wenig verstandene Tatsache, daß die Revolution von 1905 das Totengeläut für den revolutionären Syndikalismus in Rußland war, obwohl doch die revolutionären Syndikalisten den Mythos des Generalstreiks dem sozialdemokratischen Elektoralismus lange Zeit hindurch entgegengesetzt hatten, und das genau in dem Augenblick, in dem sich der Generalstreik irgendwo in Europa zum ersten Mal durchsetzte. Sie hätten hinzufügen müssen – Lenin begriff das erst 1914! -, daß der Niedergang der revolutionären Syndikalisten in Rußland sich daraus erklärt, daß die russische und polnische (oder zumindest der radikale Flügel der polnischen) Sozialdemokratie, weit davon entfernt, sich dem Massenstreik zu widersetzen oder ihn auch nur irgendwie zu bremsen, sein Organisator und begeisterter Propagandist wurde, das heißt endgültig den alten Dualismus „graduelle Aktion – revolutionäre Aktion“ überwand [6].

Rosa wurde „erleuchtet“ durch die Erfahrungen der Revolution von 1905, die tiefe Rückwirkungen auf das Proletariat mehrerer Länder westlich des Zarenreichs hatte, angefangen mit Österreich, wo ein Generalstreik hervorgerufen wurde, mit dem man das allgemeine Wahlrecht errang. Die 14 Jahre, die ihr noch zum Leben blieben, waren nichts anderes als eine ununterbrochene Anstrengung, dem deutschen Proletariat diese grundlegende Lehre zu vermitteln: Es gilt, den Gradualismus aufzugeben, man muß sich wieder auf revolutionäre Massenkämpfe vorbereiten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der russischen Revolution von 1917, der deutschen Revolution von 1918 bestätigten, daß sie bereits 1905 richtig gesehen hatte.

Am 1. Februar 1905 schrieb sie: „Aber auch für die internationale Sozialdemokratie ist die Erhebung des russischen Proletariats ein neues Phänomen, das man sich erst geistig assimilieren muß. Wir sind alle, mögen wir noch so dialektisch denken, in unseren unmittelbaren Bewußtseinszuständen unverbesserliche Metaphysiker, die an der Unwandelbarkeit der Dinge kleben ... Und erst in vulkanischen Ausbrüchen der Revolution zeigt sich, wie rasch und gründlich der junge Maulwurf gearbeitet hat. Wie lustig arbeitet er erst der westeuropäischen bürgerlichen Gesellschaft unter den Füßen! Die politische Reife und die latente revolutionäre Energie der Arbeiterklasse mit Wahlstatistiken oder Gewerkschafts- und Wahlvereinsziffern messen wollen, heißt an den Montblanc mit dem Schneiderzentimetermaß herantreten.“

Am 1. Mai 1905 fuhr sie fort: „Die Hauptsache aber ist, sich darüber klar und bewußt zu werden, daß von der gegenwärtigen Revolution im Zarenreich eine gewaltige Beschleunigung des internationalen Klassenkampfes ausgehen wird, die uns in gar nicht langer Frist auch in den Ländern des alten Europas in revolutionäre Situationen und vor neue taktische Aufgaben stellen wird.“

Und auf dem Jenaer Kongreß am 22. September 1905 rief sie, konfrontiert mit reformistischen Gewerkschaftern wie Robert Schmidt, empört aus:

„Wenn man die bisherigen Reden in der Debatte zur Frage des politischen Massenstreiks hier gehört hat, muß man sich wirklich an den Kopf fassen und fragen: Leben wir denn tatsächlich im Jahre der glorreichen russischen Revolution oder stehen wir in der Zeit zehn Jahre vor ihr? (‘Sehr richtig!’) Sie lesen tagtäglich in den Zeitungen die Berichte von der Revolution. Sie lesen die Depeschen, aber es scheint, daß Sie keine Augen haben, zu sehen, und keine Ohren, zu hören... Ja, sieht denn Robert Schmidt nicht, daß die Zeit gekommen ist, die unsere Großmeister Marx und Engels vorausgesehen haben, wo die Evolution in die Revolution umschlägt? Wir sehen die russische Revolution und wir wären Esel, wenn wir daraus nichts lernten [7].“

 

Rosa Luxemburg, ca. 1900 {Wikimedia]

Rückblickend sind wir davon überzeugt, daß sie recht gehabt hat. Ebenso wie der Sieg der russischen Revolution von 1917 unendlich schwieriger gewesen wäre ohne die Erfahrung der Revolution von 1905 und ohne die gewaltige revolutionäre Lehrzeit, die sie für Zehntausende russische Arbeiterkader dargestellt hat, genauso wäre ein Sieg der deutschen Revolution von 1918/19 durch die Erfahrung von vorrevolutionären oder revolutionären außerparlamentarischen politischen Massenkämpfen vor 1914 unerhört erleichtert worden. Man kann nicht schwimmen lernen, ohne ins Wasser zu gehen. Man kann ohne die Erfahrung revolutionärer Aktionen kein revolutionäres Bewußtsein erlangen. Auch wenn es im Deutschland der Jahre 1905-1914 unmöglich war, 1905 nachzuahmen, so war es doch durchaus möglich, die tägliche Praxis der Sozialdemokratie von Grund auf umzugestalten, die Sozialdemokratie auf eine mehr und mehr revolutionäre Praxis und Erziehung umzuorientieren und die Massen auf den Zusammenstoß mit der bürgerlichen Klasse und dem Staatsapparat vorzubereiten. Weil sich die Führer des „marxistischen Zentrums“ der SPD weigerten, diese Wendung durchzuführen, und sich an Formeln klammerten, die zunehmend jeglichen Sinn verloren – so etwa den „unvermeidlichen“ Sieg des Sozialismus, das „unvermeidliche“ Zurückweichen der Bourgeoisie und des bürgerlichen Staates vor der „ruhigen und friedlichen Kraft“ der Arbeiter -, haben sie im Verlauf dieser entscheidenden Jahre die Saat gesät, die die bitteren Ernten der Jahre 1914, 1919 und 1933 hervorgebracht hat.


Die Debatte über den Massenstreik


Genau das ist der Zusammenhang, in dem man die Debatte über den Massenstreik untersuchen muß, die in der deutschen Sozialdemokratie in der Folge der Revolution von 1905 ausgelöst wurde. Die wichtigen Etappen dieser Debatte werden gekennzeichnet durch den Jenaer Kongreß 1905 (in einem gewissen Sinn der „linksradikalste“ Kongreß vor 1914, unter dem offensichtlichen Druck der russischen Revolution), den Mannheimer Kongreß 1906, im selben Jahr das Erscheinen einer Broschüre von Kautsky und einer von Rosa Luxemburg, die sich beide mit dem Problem des Massenstreiks befaßten, die Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Kautsky im Jahre 1910, die Diskussion zwischen Kautsky und Pannekoek [8].

Man könnte die Debatte schematisch wie folgt zusammenfassen: Nachdem die sozialdemokratischen Führer jahrzehntelang die Idee des Generalstreiks („Generalstreik ist Generalunsinn“) unter dem Vorwand bekämpft hatten, man müsse zunächst die große Mehrheit der Arbeiter organisieren, bevor ein Generalstreik gelingen könne, und wenn man eine so große Mehrheit organisiert habe, brauche man den Generalstreik nicht mehr, wurden diese Führer von dem belgischen Generalstreik 1902/03 aufgerüttelt, unternahmen aber nur sehr zögernd eine Revision ihrer „friedlichen“ Konzeptionen [9]. Auf dem Jenaer Kongreß (1905) bricht ein Konflikt zwischen den Führern der Gewerkschaften und der Partei aus, in dessen Verlauf die Gewerkschaftsführer so weit gehen, vorzuschlagen, daß alle Verfechter des Generalstreiks ihre Ideen in Rußland und Polen in die Praxis umsetzen sollten [10]. Mit Zurückhaltung, aber nicht ohne Schärfe, steigt Bebel in die Arena, um die Gewerkschaftsführer zu kritisieren, und gesteht die Möglichkeit eines politischen Massenstreiks „im Prinzip“ zu. Doch sollte ein Kompromiß zwischen dem Jenaer und dem Mannheimer Kongreß ausgearbeitet werden. 1906 in Mannheim ist der Frieden innerhalb des Apparates wiederhergestellt. Von nun an werden nur noch die Gewerkschaftsführer als „zuständig“ anerkannt, Streiks, einschließlich des politischen Massenstreiks, „auszurufen“, nachdem sie eine Bestandsaufnahme der „Organisation“, der Kasse, des Kräfteverhältnisses etc. gemacht haben. Nach dem ärgerlichen Zwischenspiel der russischen Revolution ist man also wieder glücklich bei der „alten bewährten Taktik“ angelangt.

Rosa schäumt vor Wut, verbeißt sich aber ihren Ärger. Sie wartet auf die Gelegenheit, einen großen Schlag für die neue Strategie und Taktik zu landen. Der günstige Augenblick bietet sich, als 1910 die Agitation zur Erreichung des allgemeinen Wahlrechts für den preußischen Landtag eröffnet wird. Die Massen fordern Aktion. Rosa hält etwa ein Dutzend Massenkundgebungen ab, an denen Tausende und Abertausende von Arbeitern und Genossen teilnehmen. Nach einigem Geplänkel mit Verboten seitens der Polizei bringt eine zentrale Demonstration im Treptower Park in Berlin 200 000 Teilnehmer zusammen. Aber die sozialdemokratische Führung sieht dieses Gewühle nicht gern; ihr kommt es auf die Vorbereitung „guter Wahlen“ für 1912 an. So wird die Agitation ebenso schnell erstickt, wie sie entfaltet wurde. Und dieses Mal ist es der „Hüter der Orthodoxie“, Karl Kautsky, selbst, der die Führung des theoretischen und politischen Kampfes des Apparates gegen die Linke übernimmt, mit schulmeisterlichen Artikeln und Broschüren, die von einem gänzlichen Unverständnis für die Dynamik der Massenbewegung zeugen [11].

Schon auf den ersten Blick scheint sich eine Umkehrung der Bündnisse vollzogen zu haben. Am Anfang des Jahrhunderts sind Rosa und Kautsky (die Linke und das Zentrum) mit dem Parteiapparat um Bebel und Singer gegen die revisionistische Minderheit um Bernstein verbündet. 1906 auf dem Mannheimer Kongreß ist der Gewerkschaftsapparat offen in das Lager der Revisionisten übergewechselt, das Bündnis Bebel-Rosa-Kautsky scheint gestärkt und besiegelt. Wie erklärt sich diese plötzliche Umkehrung innerhalb von vier Jahren (1906-1910)? Die gesellschaftlichen und ideologischen Gegebenheiten des Problems unterschieden sich in der Realität sehr stark vom Schein. Bebel und der Parteiapparat waren 1900 genauso wie 1910 der „alten bewährten Taktik“ verhaftet. Sie waren von Grund auf konservativ, d. h. Verfechter des Status quo innerhalb der Arbeiterbewegung (ohne deshalb ihre sozialistische Überzeugung und selbst Leidenschaft aufgegeben zu haben; diese waren jedoch auf eine unbestimmte Zukunft gerichtet). Bernstein und die Revisionisten drohten das empfindliche Gleichgewicht zwischen der „alten bewährten Taktik“ (d. h. der täglichen reformistischen Praxis), der sozialistischen Propaganda, der Hoffnung und dem Glauben der Massen an den Sozialismus, der Einheit der Partei, der Einheit zwischen den Massen und der Partei umzustoßen. Darum widersetzten sich ihm Bebel und der Parteiapparat: für im wesentlichen konservative Ziele, damit ja nichts über den Haufen geworfen wird, damit alles beim alten bleibt.

Aber als die russische Revolution von 1905 – und die Auswirkungen des imperialistischen Zeitalters auf das Verhältnis zwischen den Klassen in Deutschland selbst – eine Verschärfung der Spannungen innerhalb der Arbeiterbewegung hervorrief und der sozialdemokratische Apparat nach dem Jenaer Kongreß gerade noch an einer Spaltung vorbeikam, zogen Bebel, Ebert, Scheidemann die Einheit des Apparates der Einheit mit den radikalisierten Arbeitern vor; das war ihre Interpretation der „Vorrangigkeit der Organisation“. Von nun an brach der Apparat in seiner Gesamtheit mit der Linken, da es ja diesmal die Linke war, die das Überbordwerfen der „alten bewährten Taktik“ forderte, und zwar nicht nur die Theorie, sondern auch – die schlimmste Sünde – die zur Routine gewordene Praxis. Die Würfel waren gefallen.

Die einzige Frage, die für eine gewisse Zeit offenblieb, war, wem sich Kautsky anschließen würde: würde er sich auf die Seite des Apparates gegen die Linke oder auf die Seite der Linken gegen den Apparat stellen? Nach der Revolution von 1905 neigte er einen Augenblick zur Linken. Aber ein bezeichnender Vorfall sollte sein Schicksal entscheiden. 1908 schrieb Kautsky eine Broschüre mit dem Titel Der Weg zur Macht, in der er genau die Frage untersuchte, die seit Engels' berühmtem Vorwort von 1895 anstand, nämlich die Frage nach dem Übergang von der Eroberung der Mehrheit der Massen für den Sozialismus (das Ziel, das durch die „alte bewährte Taktik“ erreicht werden sollte) zur Eroberung der politischen Macht selbst. Seine Formeln waren im großen und ganzen gemäßigt und implizierten keinerlei systematische revolutionäre Agitation; er sprach nicht einmal von der Abschaffung der Monarchie (es ist höchstens schamhaft die Rede von der „Demokratisierung des Kaiserreichs und seiner Teilstaaten“). Aber für einen kleinlichen und konservativen Parteivorstand enthielt diese Broschüre zu viele „gefährliche“ Worte. Es war darin von der Möglichkeit einer „Revolution“ die Rede. Es hieß dort sogar: „Niemand wird so naiv sein, zu behaupten, daß wir friedlich und unmerklich vom militaristischen Staat ... zur Demokratie übergehen werden.“ Diese Formulierungen waren „gefährlich“. Sie konnten sogar „einen Prozeß zur Folge haben“. Der Parteivorstand beschloß also, die Broschüre einzustampfen.

Darauf folgte eine Tragikomödie [12], die über Kautskys Schicksal als Revolutionär und Theoretiker entschied. Er rief die Kontrollkommission der Partei an, die ihm recht gab. Aber Bebel sagte immer noch „nein“. Kautsky beugte sich daraufhin unter das Joch der Parteizensur und akzeptierte es, seinen eigenen Text zu verstümmeln: alles, was einen Skandal hervorrufen konnte, wurde von ihm aus dem Text entfernt, der somit harmlos wurde. Kautsky ging aus dieser Angelegenheit als ein Mann ohne Charakter und Rückgrat hervor. Der Bruch mit Rosa, sein Zentrismus, seine Dienerrolle gegenüber dem Apparat in der Debatte von 1910 bis 1912, die schändliche Kapitulation von 1914 usw. sind als Keim in dieser Episode angelegt.

Es ist kein Zufall, daß die entscheidende Probe für Kautsky und alle Zentristen die Frage des Kampfes um die Macht war, die Frage der Wiedereinführung des Problems der Revolution in eine Strategie, die gänzlich auf der reformistischen Tagesroutine begründet war. Das war in der Tat die entscheidende Frage für die internationale Sozialdemokratie seit 1905.

Die Analyse der ersten Fassung von Der Weg zur Macht zeigt, daß die Elemente des Zentrismus schon angelegt sind, bevor die bürokratische Zensur zuschlägt. Denn wenn auch in dieser ersten Fassung eine scharfsinnige Beschreibung der Elemente enthalten ist, die die Klassenantagonismen verschärfen (Imperialismus, Militarismus, gedämpftes wirtschaftliches Wachstum etc.), so bleibt doch seine grundlegende Philosophie die der „alten bewährten Taktik“: die Industrialisierung arbeitet für uns; die Konzentration des Kapitals arbeitet für uns; unser Aufstieg ist unwiderstehlich, wenn nur kein Unglück dazwischenkommt. Die Hypothese, daß der abwartende Fatalismus aufgegeben werden könnte, kommt nur für die Fälle in Betracht, wo „unsere Gegner eine Dummheit begehen“: ein Staatsstreich oder der Weltkrieg. Alles in allem befindet man sich immer noch an dem Punkt, wo Parvus 1896 das Problem formuliert hatte ...

Von „revolutionären Streiks“, von Massenexplosionen, ist im Weg zur Macht keine Rede. Die russische Revolution wird nur herangezogen, um zu zeigen, daß sie eine neue Ära der Revolutionen im Osten eröffnet (was richtig ist); daß vermittels der innerimperialistischen Konflikte diese Ära der Revolutionen im Osten tiefgreifende Rückwirkungen auf die Bedingungen im Westen haben wird (was ebenfalls richtig ist) und unbestreitbar die Spannungen und die Instabilität verstärken werden. Aber nichts dringt von den Rückwirkungen der russischen Revolution und von dieser Instabilität durch auf das Verhalten der arbeitenden Massen im Westen. Das aktive Element, der subjektive Faktor, die politische Initiative fehlen vollständig. Auf die Dummheit lauern, die der Gegner begehen könnte; sich mit rein organisatorischen Mitteln auf die Stunde X vorbereiten, wobei man sorgfältig dem Gegner die Initiative überläßt: so läßt sich die ganze zentristische Weisheit Kautskys zusammenfassen, die später von den Austromarxisten fortgesetzt wird, welche 1933/34 endgültig Bankrott machen.

Rosas Überlegenheit zeigt sich nun in dieser entscheidenden Debatte auf allen Gebieten. Gegenüber den faden Verweisen auf die Statistik, mit denen Kautsky seine These rechtfertigte, nach der „die Revolution niemals verfrüht ausbrechen kann“, entwickelte Rosa ein tiefes Verständnis der Unreife der Bedingungen, mit der jede proletarische Revolution am Anfang konfrontiert sein wird: „... weil diese ‘verfrühten’ Angriffe des Proletariats eben selbst ein, und zwar ein sehr wichtiger Faktor sind, der die politischen Bedingungen des endgültigen Sieges schafft, indem das Proletariat erst im Laufe jener politischen Krise, die seine Machtergreifung begleiten wird, erst im Feuer langer und hartnäckiger Kämpfe den erforderlichen Grad der politischen Reife erreichen kann, der es zur endgültigen großen Umwälzung befähigen wird [13].“

Bereits 1900 hatte Rosa diese Zeilen geschrieben, womit sie in Wirklichkeit die ersten Elemente einer Theorie der für einen revolutionären Sieg notwendigen subjektiven Bedingungen formuliert hatte, wohingegen Kautsky der Untersuchung lediglich objektiver Bedingungen verhaftet bleibt, wobei er soweit geht, die Existenz des von Rosa aufgeworfenen Problems zu leugnen. Mit ihrem so feinen Gefühl für das Leben, für die Sehnsucht, die Stimmung und die Aktion der Massen greift Rosa in der Debatte von 1910 erneut die Schlüsselprobleme der Strategie der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert auf, und zwar, daß es vergeblich wäre, eine ununterbrochen steigende Kampfbereitschaft der Massen zu erwarten, und daß, wenn diese durch das Ausbleiben von Resultaten und durch falsche Politik seitens der Führung enttäuscht werden, sie in Passivität zurückfallen können [14].

Wenn Kautsky behauptet, der Erfolg eines Generalstreiks, „der in der Lage ist, alle Fabriken stillzulegen“, hinge von der vorherigen Organisierung aller Arbeiter ab, so treibt er die „Vorrangigkeit der Organisation“ bis ins Absurde. Die Geschichte hat ihm unrecht und Rosa recht gegeben. Wir haben zahlreiche Generalstreiks erlebt, die ganz und gar erfolgreich das ganze ökonomische und gesellschaftliche Leben moderner Nationen lahmlegten, obwohl nur eine Minderheit der Arbeiter vorher organisiert war.

Wenn Kautsky Rosa entgegenhält, daß die „spontanen Bewegungen unorganisierter Massen immer unberechenbar sind“ und aus diesem Grund gefährlich für eine „revolutionäre Partei“, legt er die kleinbürgerliche Geisteshaltung eines Funktionärs an den Tag, der sich eine „Revolution“ ausdenkt, die nach einem sorgfältig ausgearbeiteten Zugfahrplan abläuft. Rosa hat tausendfach recht, wenn sie – gegen ihn – unterstreicht, daß eine revolutionäre Partei wie die russische und die polnische Sozialdemokratie von 1905 sich gerade durch ihre Fähigkeit auszeichnet, alles Progressive in dieser unvermeidlichen und heilsamen Spontaneität der Massen zu verstehen und es aufzunehmen, um deren Energie auf das revolutionäre Ziel zu konzentrieren, das sie formuliert und in ihrer Organisation verkörpert hat [15]. Es bedurfte des ganzen bornierten Konservativismus der stalinistischen Bürokratie, um gegen Rosa die unbegründete Anschuldigung wieder aufzunehmen, daß ihre Analyse der revolutionären Prozesse von 1905 der Spontaneität der Massen „zu viel Platz“ einräume, „zu wenig Platz für die Rolle der Partei [16]„.

Wenn sich Rosa einer „Theorie der Spontaneität“ schuldig gemacht hat (was keineswegs bewiesen ist), dann äußert sich eine derartige Theorie sicherlich nicht in ihrer Beurteilung der Unvermeidbarkeit spontaner Initiativen der Massen im Verlaufe von revolutionären Explosionen – in diesem Punkt hat sie 100 Prozent recht -, noch in irgendeiner Illusion, daß es genüge, auf diese spontane Initiative zu vertrauen, damit die Revolution siegt oder, was auf das gleiche herauskommt, damit aus dieser Initiative die Organisation hervorgeht, die die Revolution zum Sieg führen wird.

Was dem „politischen Massenstreik“ einen außergewöhnlichen Platz in Rosas Entwurf verschafft, ist die Tatsache, daß sie darin das wesentliche Mittel zur Erziehung und Vorbereitung der Massen auf die kommenden revolutionären Zusammenstöße sieht (oder besser: die Massen zu erziehen und die günstigsten Bedingungen zu schaffen, damit sie diese Erziehung durch ihre eigene Aktion vollenden können). Ohne eine Strategie von Übergangsforderungen ausgearbeitet zu haben, hatte sie aus der ganzen bisherigen Erfahrung die Lehre gezogen, daß man mit der alltäglichen Praxis Schluß machen sollte, die sich auf die Wahlkämpfe, die ökonomischen Streiks und die abstrakte Propaganda „für den Sozialismus“ beschränkt. Der „politische Massenstreik“ war für sie das wesentliche Mittel, diese Routine zu überwinden.

Zusammenstoß mit dem Staatsapparat, Hebung des politischen Bewußtseins der Masse, revolutionäre Lehrzeit, all das wurde im Hinblick auf eine klare revolutionäre Perspektive angestrebt, die mit revolutionären Krisen in relativ kurzer Frist rechnete. Wenn Lenin den Bolschewismus auf die Überzeugung von der Aktualität der Revolution in Rußland gegründet hat, wenn er diese Vorstellung erst nach dem 4. August 1914 auf den Rest Europas erweitert, dann kommt Rosa das Verdienst zu, bereits unmittelbar nach der russischen Revolution von 1905 als erste eine sozialistische Strategie entworfen zu haben, die sich auf das nahe Bevorstehen der Revolution im Westen selbst gründet. Daß sie eine realistische – und leider auch prophetische – Sicht von der Rolle hatte, die der bürokratische Apparat der Arbeiterbewegung in einer solchen revolutionären Krise spielen könnte, zeigt, bereits im September 1905, ihre Rede auf dem Jenaer Kongreß:

„Die bisherigen Revolutionen, namentlich die von 1848, haben bewiesen, daß man in revolutionären Situationen nicht die Massen im Zügel halten muß, sondern die parlamentarischen Rechtsanwälte, damit sie die Massen und die Revolution nicht verraten [17].“

Nach der bitteren Erfahrung, die sie zwischen 1906 und 1910 machte, sind ihre Worte noch wesentlich lehrreicher, wenn sie 1910 auf das gleiche Thema zurückkommt: „Ist die revolutionäre Periode erst in ihrer vollen Entfaltung, gehen die Wogen des Kampfes bereits hoch, dann wird kein Bremsen der Parteiführer viel auszurichten imstande sein, dann schiebt die Masse ihre Führer beiseite, die sich dem Sturm der Bewegung widersetzen. So kann es auch einmal in Deutschland kommen. Aber ich finde es im Interesse der Sozialdemokratie weder notwendig noch wünschenswert, dahin zu steuern [18].“


Die Einheit des Werkes von Rosa Luxemburg


Im Zusammenhang mit Rosas „großem Plan“ – die Sozialdemokratie zum Aufgeben der „alten bewährten Taktik“ zu bewegen und sich auf die ihrer Meinung nach nahe bevorstehen- den revolutionären Kämpfe vorzubereiten – gewinnt ihre ganze Aktivität eine klare Einheit.

Die Imperialismusanalyse entspringt nicht allein eigenständigen theoretischen Bedürfnissen, wenn dieses Bedürfnis auch wirklich vorhanden war [19]. Sie hat zum Ziel, eine der Haupttriebfedern für die Verschärfung der Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Welt insgesamt und innerhalb der deutschen (europäischen) Gesellschaft im besonderen bloßzulegen. Ebenso wird der Imperialismus nicht einfach als ein mehr oder weniger platonisches Propagandathema verstanden, sondern in Beziehung zu zwei Erfordernissen gesehen, zum einen die fortschreitende Internationalisierung des Streiks und zum anderen die Vorbereitung des Proletariats auf den Kampf gegen den kommenden imperialistischen Krieg. Die systematische internationalistische Kampagne, die Rosa 20 Jahre lang in der internationalen Sozialdemokratie geführt hat, leitete sich aus einer revolutionären Perspektive und einer strategischen Option ab, genau wie ihre Kampagne für den „politischen Massenstreik“ und ihre eingehende Imperialismusanalyse.

Das gleiche gilt für ihre antimilitaristische und antimonarchistische Kampagne. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung, die selbst für Rosa eingenommene Kommentatoren manchmal wiederholen [20], war Rosas antimilitaristische Kampagne nicht nur Ausdruck ihres „Hasses“ gegen den Krieg (oder ihrer „Furcht“ vor ihm), sondern auch eines präzisen Verständnisses der Rolle des bürgerlichen Staates, den es niederzuwerfen galt, sollte die sozialistische Revolution siegen. Bereits 1899 schrieb sie in der Leipziger Volkszeitung: „In dem Militarismus kristallisiert sich die Macht und die Herrschaft ebenso des kapitalistischen Staates wie der bürgerlichen Klasse! Und wie die Sozialdemokratie die einzige Partei ist, die ihn prinzipiell bekämpft, so gehört auch umgekehrt die prinzipielle Bekämpfung des Militarismus zum Wesen der Sozialdemokratie. Die Verzichtleistung auf den Kampf mit dem militärischen System läuft praktisch auf die Verleugnung des Kampfes mit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung überhaupt hinaus [21].“

Und in Sozialreform oder Revolution wiederholt sie ein Jahr später in ihren Bemerkungen zur Wehrpflicht in gedrängter Form, daß, wenn diese auch die materiellen Grundlagen für die allgemeine Bewaffnung des Volkes legt, sie es doch tut „in der Form des modernen Militarismus, der in augenfälligster Weise die Beherrschung des Volkes durch den militaristischen Staat, den Klassencharakter des Staates ausdrückt“. Man vergleiche diese Formulierungen von leuchtender Klarheit nicht nur mit den Hirngespinsten eines Bernstein, sondern auch mit der Nicht- Fisch-und-nicht-Fleisch-Phraseologie von Kautsky über die „Demokratisierung (sic) des Kaiserreichs“, dann wird man feststellen, wie weit sie voneinander entfernt sind.

      
Weitere Artikel zum Thema
Manfred Behrend: Leo Trotzki und Rosa Luxemburg 1905, Inprekorr Nr. 402/403 (Mai/Juni 2005)
Manfred Behrend: Lebensbild einer großen Sozialistin (Rosa Luxemburg), Inprekorr Nr. 303 (Januar 1997)
Jakob Moneta: „Sie war und bleibt ein Adler”, Inprekorr Nr. 279 (Januar 1995)
 

Man versteht daher, welch ungeheure Wut Rosa gepackt haben muß, als sie sah, wie dieselben Reformisten, die ihr vorgeworfen hatten, es durch ihre „abenteuerliche Taktik zu riskieren“, daß „das Blut von Arbeitern vergossen wird“ [22], nach dem August 1914 das Blut von Arbeitern in einem tausendmal größeren Ausmaß vergießen ließen, aber nicht für ihre eigene Sache, sondern für die ihrer Ausbeuter. Genau diese Entrüstung veranlaßte sie zu ihren scharfen Formulierungen: „Die Sozialdemokratie ist nur noch ein stinkender Leichnam“ und „Die deutschen Sozialdemokraten sind die infamsten und größten Halunken, die in der Welt gelebt haben“ [23].

Selbst ihre Irrtümer sind ein Ergebnis des großen Vorhabens, das ihr Leben beherrschte. Wenn sie sich in der Tat in der vergleichenden Beurteilung von Bolschewiki und Menschewiki in Rußland täuschte, wenn sie Lenins „Ultra-Zentralismus“ bekämpfte, obwohl sie die ultra-zentralistische, eisenharte Ordnung billigte, die Leo Jogiches in ihrer eigenen illegalen polnischen Partei errichtet hatte [24], wenn sie dazu neigte, sich zu sehr auf die sozialistische Erziehung der Arbeitervorhut zu verlassen und die Notwendigkeit unterschätzte, Arbeiterkader zu schmieden, die die breiten Massen führen können, welche spontan am Anfang der Revolution in Aktion getreten sind, wenn sie aus dem gleichen Grund den Aufbau einer organisierten linken Tendenz und Fraktion innerhalb der Partei ab 1906 vernachlässigte (die Bildung einer neuen Partei war unmöglich, ehe sich der Verrat der Führer in für die Massen faßbaren Taten konkretisiert hatte), was dem jungen Spartakusbund und der jungen KPD teuer zu stehen kam, die eine Führung inmitten einer revolutionären Krise erziehen mußten, anstatt das vorangegangene Jahrzehnt zu diesem Zweck genutzt zu haben – dann deshalb, weil sie von einem wachsenden Mißtrauen gegenüber den Funktionärsapparaten und den Berufssekretären beherrscht war, deren Missetaten sie an Ort und Stelle beurteilen konnte, weit besser und weit früher als Lenin.

Lenin gelangte 1914 zu denselben Schlußfolgerungen über die deutsche Sozialdemokratie wie Rosa. Er folgerte daraus, daß das Wesentliche für das Proletariat nicht einfach die „Organisation“ ist, sondern die Organisation, deren Programm und praktische, tägliche Verbundenheit mit diesem Programm garantieren, daß sie ein Motor und keine Bremse im revolutionären Aufschwung der Massen sein wird. Rosa gelangte 1918 zu der gleichen Schlußfolgerung wie Lenin in bezug auf die Notwendigkeit einer getrennten Organisierung der revolutionären Avantgarde, als sie voll verstanden hatte, daß es nicht ausreichte, auf den Elan der Massen zu vertrauen oder auf ihre Spontaneität, um die Bremse der von nun an konterrevolutionären sozialdemokratischen Funktionäre zu brechen. Aber das Verdienst, das Rosa bei der Ausarbeitung des zeitgenössischen revolutionären Marxismus zukommt, ist gewaltig. Sie war die erste, die das Problem der revolutionären marxistischen Strategie und Taktik im Hinblick auf den Sieg der Massenerhebungen in hochindustrialisierten Ländern aufgeworfen und zu lösen begonnen hat.

Dieser Artikel von Ernest Mandel wurde erstmalig im März 1971 veröffentlicht. Er ist u.a. in der isp-pocket Reihe Nr. 16 (Rosa Luxemburg, Leben-Kampf-Tod) im Mai 1986 nachgedruckt worden. Wir möchten mit diesem Nachdruck unsreren Lesern und Leserinnen ebenfalls die Möglichkeit geben, sich mit diesem unserer Meinung nach sehr guten Artikel auseinanderzusetzen.
Aus Platzgründen erschien der zweite Teil erst in Nr. 269, wird hier aber zusammenhängend wiedergegeben.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 268 (Februar 1994). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Das ist insbesondere das Urteil J. P. Nettls,der die bis heute umfangreichste Biographie Rosas geschrieben hat. (J. P. Nettl: Rosa Luxemburg, Band I, S. 19-40, London, Oxford University Press, 1966.) Nettl verbindet eine bedeutsame Ansammlung von Details und eine oft beeindruckende Beurteilung von Teilfragen mit einem fast gänzlichen Unverständnis für die umfassenden Probleme der Strategie im proletarischen Klassenkampf, der Massenbewegung und der revolutionären Perspektiven, genau die Probleme, die Rosas Leben und Sorgen beherrschten.

[2] So bekräftigt Engels, als die Kriegsgefahr Anfang der neunziger Jahre sich zum ersten Mal verstärkte, daß die Sozialdemokratie im Falle eines Krieges gezwungen wäre, die Macht zu übernehmen, und sprach die Befürchtung aus, daß dies schlecht enden würde. In dem gleichen Brief an Bebel drückt er seine Überzeugung aus, daß „wir vor Ende des Jahrhunderts an der Macht (sind)“ (Brief vom 24. Oktober 1891). In einem vorhergehenden Brief vom 1. Mai 1891 empörte er sich gegen die von Bebel beabsichtigte Zensur an der Veröffentlichung der Kritik des Gothaer Programms und geißelte die Einschränkung der Freiheit der Kritik und Diskussion innerhalb der Partei.

[3] Engels schrieb am 1. April 1895 an Kautsky: „Zu meinem Erstaunen sehe ich heute im Vorwärts einen Auszug aus meiner ‘Einleitung’ ohne mein Vorwissen abgedruckt und derartig zurechtgestutzt, daß ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit quand même (unter allen Umständen) dastehe. Um so lieber ist es mir, daß das Ganze jetzt in der Neuen Zeit erscheint, damit dieser schmähliche Eindruck verwischt wird.“ Unter dem Vorwand, daß die Behörden gerichtlich vorzugehen drohten, weigerten sich Bebel und Kautsky, in den sauren Apfel zu beißen. Engels ließ sich besänftigen und bestand nicht mehr auf einem ungekürzten Abdruck der „Einleitung“. Dies geschah erst nach 1918 durch die Bemühungen der Komintern.

[4] Trotzki hatte eine vergleichbare Meinung zu der von Rosa Luxemburg in den 1906 verfaßten „Ergebnissen und Perspektiven“ zum Ausdruck gebracht, indem er den zunehmend konservativen Charakter der Sozialdemokratie hervorhob. Aber wegen der Fraktionskämpfe in der russischen Sozialdemokratie und den versöhnlerischen Positionen, die er dabei einnahm, näherte er sich 1908 wieder Kautsky und unterstützte ihn in der Debatte über den „politischen Massenstreik“ gegen Rosa. Lenin nahm in bezug auf den Konflikt Kautsky – Rosa 1910 eine sehr vorsichtige Haltung ein, da er einen Block zwischen Kautsky und den Menschewiki verhindern wollte. In seinem Aufsatz „Zwei Welten“ über die deutsche Sozialdemokratie behauptete er, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Marxisten (zu denen er nicht nur Rosa und Kautsky, sondern auch noch Bebel rechnete) nur taktischer Natur und im ganzen genommen von geringer Bedeutung seien. Er rühmte Bebels „Umsicht“ und vertrat die These, es sei besser, dem Gegner die Initiative zur Eröffnung der Feindseligkeiten zu überlassen. (Werke, Band XVI, S. 311, 314, 315, 316, Berlin, Dietz-Verlag.)

[5] Der Artikel „Staatsstreich und politischer Massenstreik“ wurde zuerst in der Neuen Zeit veröffentlicht. (Er ist abgedruckt in der Anthologie: Die Massenstreikdebatte, EVA, Frankfurt/Main 1970, S. 46-95.)

[6] In „Sozialreform oder Revolution?“ schrieb Rosa bereits: „Und es blieb Bernstein vorbehalten, den Hühnerstall des bürgerlichen Parlamentarismus für das berufene Organ zu halten, wodurch die gewaltigste weltgeschichtliche Umwälzung: die Überführung der Gesellschaft aus den kapitalistischen in sozialistische Formen, vollzogen werden soll.“ Diese ganze Kritik des Parlamentarismus – diese ganze Analyse des Niedergangs des bürgerlichen Parlaments, im Jahre 1900 verfaßt, bewahrt eine Frische und Aktualität, wie sie keine einzige auf Westeuropa bezogene Analyse eines marxistischen Autors vor 1914 aufweist. Den gleichen Gedankengang findet man, wenn Rosa das Erstarken des revolutionären Syndikalismus in Frankreich mit der tiefen Enttäuschung des französischen Proletariats über den von Jaurés vertretenen Parlamentarismus erklärt. (Artikel in der Sächsischen Arbeiterzeitung vom 5.-6. Dezember 1904, in: Rosa Luxemburg, Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 196.)

[7] Die Zitate sind entnommen dem Artikel „Nach dem ersten Akt“, erschienen in der Neuen Zeit; „Im Feuerscheine der Revolution“, erschienen in der Sächsischen Arbeiterzeitung, und der auf dem Jenaer Kongreß der SPD gehaltenen Rede. (Rosa Luxemburg. Ausgewählte Reden und Schriften, Band II, Dietz-Verlag, Berlin 1955, S. 220-221, 234-235 und 244.

[8] Eine gute Zusammenfassung dieser Debatte liefert Antonia Grunenberg in der Einleitung zu: Die Massenstreikdebatte, op. cit., S. 5-44.

[9] Z. B. in dem Artikel: „Die Lehren des Bergarbeiterstreiks“, erschienen in der Neuen Zeit 1903.

[10] Rosa Luxemburg: Rede vom 21. September 1905 in Jena. (Ausgewählte Reden und Schriften, Band II, S. 240 f.)

[11] Vgl. im besonderen seinen Artikel: „Was nun?“ (Neue Zeit, 8.4.1910, S. 33.) Seine Unterscheidung zwischen „Demonstrationsstreiks“ und „Zwangsstreiks“ (eine Unterscheidung, die aus dem Buch stammt, das Henriette Roland-Holst über den Massenstreik geschrieben hat), „ökonomischen Streiks“ und „politischen Streiks“, „Ermattungsstrategie“ und „Niederwerfungsstrategie“ usw. macht einen genauso pedant-byzantinischen wie hilflosen Eindruck, wenn man sie im Lichte der historischen Erfahrung der letzten sechzig Jahre betrachtet. (Die Massenstreikdebatte, op. cit., S. 96-121.)

[12] Siehe die französische Ausgabe „Der Weg zur Macht“ mit, im Anhang, einer Darstellung der Briefe, die diese traurige Affäre beleuchten. (Anthropos-Verlag, Paris 1969.)

[13] Rosa Luxemburg, Ausgewählte Reden und Schriften, Band II, S. 136.

[14] Ibidem, S. 325-326, 330. Es handelt sich um Auszüge eines in der Dortmunder Arbeiterzeitung erschienenen Artikels mit dem Titel: „Was weiter?“

[15] Es ist eine pure Verleumdung, von den Stalinisten verbreitet und „arglos“ von den heutigen Spontaneisten wiederholt, daß Rosa „das ganze Verdienst“ der Revolution von 1905 den „unorganisierten Massen“ zugeschrieben habe, ohne die Rolle der sozialdemokratischen Partei zu erwähnen. Hier eines von den Zitaten, die das Gegenteil beweisen: „Und mag im ersten Augenblick die Leitung der Erhebung in die Hände zufälliger Führer geraten, mag die Erhebung von allerlei Illusionen und Traditionen äußerlich getrübt sein – sie ist doch nur ein Ergebnis der enormen Summe der politischen Aufklärung, die in den letzten zwei Jahrzehnten durch die sozialdemokratische Agitation von Frauen und Männern unsichtbar in den Schichten der russischen Arbeiterklasse verbreitet worden ist. In Rußland, wie in aller Welt, liegt nun die Sache der Freiheit und des sozialen Fortschritts in den Händen des klassenbewußten Proletariats. Sie ist gut aufgehoben!“

[16] Siehe die Biographie Rosas von Fred Oelssner, Dietz-Verlag, Berlin, insbesondere S. 50-53.

[17] Rosa Luxemburg, Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 245.

[18] „Theorie und Praxis“.(Neue Zeit, 1910, abgedruckt in Die Massenstreikdebatte, op. cit., S. 231.)

[19] Rosa schreibt selbst, daß sie beim Verfassen ihrer „Einführung in die Nationalökonomie“ auf eine theoretische Schwierigkeit gestoßen sei, als sie die Hindernisse zur Realisierung des Mehrwerts darlegen wollte. Von daher rührt ihr Vorhaben, „Die Akkumulation des Kapitals“ zu schreiben.

[20] Besonders Antonia Grunenberg in der Einleitung zu Die Massenstreikdebatte (op. cit., S. 43), wo sie behauptet, daß Pannekoek im Gegensatz zu Kautsky und Rosa strategische Konzeptionen zur Machtergreifung formuliert habe, die die Frage nach dem Kampf gegen die Staatsgewalt aufwerfen.

[21] Rosa Luxemburg, Ausgewählte Reden und Schriften, op. cit., Band II, S. 47.

[22] Ibidem, S. 245.

[23] „Rede zum Programm“, gehalten auf dem Gründungskongreß der KPD. (Der Gründungsparteitag der KPD, EVA, 1969, S. 194.) Ihr Zorn war besonders stark, als nach dem Waffenstillstand von 1918 die SPD-Führer versuchten, die deutschen Soldaten gegen die russische Revolution in den baltischen Staaten einzusetzen.

[24] Kürzlich hat Edda Werfel in Polen die Korrespondenz Rosa Luxemburg – Leo Jogiches herausgegeben, was wertvolles zusätzliches Material beitragen wird, um Rosas praktische und theoretische Haltung zur „Organisationsfrage“ innerhalb ihrer eigenen polnischen Partei zu studieren. Eine Teilübersetzung dieser Korrespondenz ins Französische (in den Editions Anthropos) und ins Deutsche (bei EVA) sind bereits angekündigt worden (Anm.: inzwischen bereits erschienen).