Wir schreiben das Jahr 1986. Im Vorwärts, der Parteizeitung der SPD, stand zu lesen: „Diese Blutspur (vom Mord an Luxemburg/Liebknecht über Auschwitz und Dachau, Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke und Stammheim bis zu Günter Sare...) ist das Kainsmal der immer noch herrschenden Klasse, ist das Kainsmal ihrer nationalen Geschichte, die eine Geschichte der Abtreibung ihrer schöneren, menschlicheren Möglichkeiten war - Abtreibungen, an denen übrigens die SPD der Eberts und Scheidemänner, der Lebers und Schmidts stets staatstragend mitwirkte.” Der dies schrieb, wurde entlassen. Obwohl er die immer noch herrschende Klasse und nicht die SPD für diese „Blutspur” verantwortlich machte. Daß diese sich jedoch an der Abtreibung der „schöneren menschlichen Möglichkeiten” beteiligte - 1914 durch die Bewilligung der Kriegskredite, 1918 durch Verhinderung der Räterepublik, 1933 durch Mitverantwortung an der Niederlage der Arbeiter - läßt sich schlechterdings nicht leugnen.
Jakob Moneta
Rosa Luxemburg steht für die Weigerung, sich unter Opferung der Lebens- und Überlebensinteressen der Lohnabhängigen und aller Ausgebeuteten und Unterdrückten, der bürgerlichen Ordnung anzupassen. Damit ist sie heute, wo die gleiche Politik der herrschenden Klasse die Gefahr der atomaren Zerstörung der Menschheit heraufbeschwört, wo die Sozialdemokratie noch deutlicher als damals sich an die bestehenden Verhältnisse gekettet hat, aktueller denn je. Rosa Luxemburg, unversöhnliche Kämpferin gegen die kapitalistische Ausbeutung, frühe Warnerin vor der bürokratischen Entartung der jungen Räte-Macht in Rußland, wurde nicht selten von Sozialdemokraten vereinnahmt. War sie nicht „weniger hart”, „menschlicher” als die Bolschewisten, als Lenin und Trotzki?
Als sie sich gegen das imperialistische Schlachten gewandt hatte, als sie nach dem Ersten Weltkrieg für die Machteroberung der Räte in Deutschland, für die Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmaschinerie und gegen die konterrevolutionäre Politik der Mehrheitssozialdemokratie antrat, hat man ihr solche Blumen nicht zugeworfen, sondern bejubelte ihre feige Ermordung durch eine schamlose Soldateska.
Wie es in einer revolutionären Strömung, in einer revolutionären Partei üblich ist, gab es unter den internationalistischen, sozialistisch-revolutionären Kräften stets Meinungsverschiedenheiten über Fragen unterschiedlichen Gewichts, Fragen der Einschätzung, der Strategie, der Taktik. So gab es Meinungsverschiedenheiten auch zwischen Luxemburg und Lenin; und es geht hier nicht darum zu beurteilen, wer in welchem Falle mehr recht hatte. Es ist aber nützlich, das Verhältnis zurechtzurücken, in dem diese Meinungsverschiedenheiten zum Boden revolutionärer internationalistischer Gemeinsamkeit standen, was von interessierter - sozialdemokratischer und stalinistischer Seite - gern geleugnet wird.
Nicht aus Hochachtung für die Märtyrerin Rosa Luxemburg nach ihrer Ermordung, sondern drei Jahre später - Ende Februar 1922 - schrieb Lenin: „Rosa Luxemburg irrte in der Frage der Unabhängigkeit Polens; sie irrte 1902 in der Beurteilung des Menschewismus; sie irrte in der Theorie der Akkumulation des Kapitals; sie irrte, als sie im Juli 1914 neben Plechanow, Vandervelde, Kautsky u.a. für die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki eintrat; sie irrte in ihren Gefängnisschriften von 1918 (wobei sie selbst nach der Entlassung aus dem Gefängnis Ende 1918 und Anfang 1919 ihre Fehler zum großen Teil korrigierte). Aber trotz aller dieser Fehler war sie und bleibt sie ein Adler; und nicht nur die Erinnerung an sie wird den Kommunisten der ganzen Welt immer teuer sein, sondern ihre Biographie und die vollständige Ausgabe ihrer Werke (mit der sich die deutschen Kommunisten in unmöglicher Weise verspäten, was nur teilweise mit den unerhört vielen Opfern in ihrem schweren Kampf zu entschuldigen ist) werden eine sehr nützliche Lehre sein bei der Erziehung vieler Generationen von Kommunisten der ganzen Welt” (Lenin Werke, Dietz Verlag, Berlin 1962, Bd. 22, S. 195.)
Lenin hätte sich damals nicht träumen lassen, daß ausgerechnet in der Sowjetunion im Jahre 1921 Stalin durch einen „Leserbrief” an die Redaktion der Zeitschrift Proletavskaja Rewolucja, in dem er gegen die Veröffentlichung eines Diskussionsartikels von Sluzki protestierte, der angeblich „parteifeindlich und halbtrotzkistisch” sei, eine Unterbrechung aller Forschungsarbeit und Publizierung der Werke von Rosa Luxemburg um mehr als zwei Jahrzehnte bewirken würde. Der Titel von Sluzkis Artikel lautete: „Die Bolschewiki über die deutsche Sozialdemokratie in der Periode ihrer Vorkriegskrise”. Bekanntlich hatte Rosa Luxemburg vor Lenin die Gefahren der Bürokratisierung der deutschen Gewerkschaften und der SPD erkannt und den Kampf gegen das „linke Zentrum” Kautskys aufgenommen. Stalin nahm diese historische Tatsache zum Anlaß, um scheinbar Lenin in Schutz zu nehmen und einige Breitseiten gegen „trotzkistische Schmuggler” loszulassen, mit denen man keine „literarische Diskussion” zulassen dürfe. Damit war aber zugleich das Urteil über Rosa Luxemburg gefällt. Bewundern muß man im nachhinein Stalins richtigen Instinkt: Er spürte bereits 1921, daß er und Rosa Luxemburg auf völlig verschiedenen politischen Wellenlängen liegen.
Feliks Tych, der Rosas Briefwechsel mit Leo Jogiches herausgegeben hat, nennt diesen „fast eine Enzyklopädie des Wissens über die damalige sozialistische Bewegung”. Er stellte auch „eine erstaunliche Einheit ganz persönlicher und politischer Moment” dar. Selten begegne man Texten, „die solch eine subtile Vivisektion psychologischer Motive des politischen Handelns hervorragender Führer erlauben” wie in diesen publizierten Briefen.
Was aber ebenso verblüfft in Rosas Briefwechsel (siehe die ausgezeichnete fünfbändige Ausgabe des Dietz Verlags der DDR, 1984) ist ihr unersättlicher Wissensdurst auf fast allen Gebieten, ihre Gabe, Wissen weiter zu geben, die sie bereits als Lehrerin der sozialdemokratischen Parteischule so glänzend bewiesen hat, ihr Einfühlungsvermögen in andere Menschen und wie sie - die fast den ganzen Krieg über unrechtmäßige Haft erleiden mußte, andere zu trösten versteht. Da heißt es in einem Brief vom 12. Januar 1918 aus dem Gefängnis in Breslau: „Sie schreiben mir viel zu elegisch! Trotz allem soll man nicht hoffnungslos sein. Lachen Sie über den ganzen Jammer: Er ist eben so groß, daß die Geschichte sich schon selbst auf die Beine machen muß, um ihn wegzuräumen. Und das wird sie, seien Sie unbesorgt! Die Geschichte allein weiß Rat für ihre eigenen Sorgen, und sie hat schon manchen Misthaufen in die Luft gesprengt, der ihr im Wege stand. Je hoffnungsloser es aussieht, um so gründlicher wird dann die Säuberung sein.”
Oder aus einem Brief an Rosi Wolfstein vom 8. März 1918 (sie wurde später die Frau von Paul Fröhlich): „Wenn man bloß mit dem 'Glück im Winkel', das ich nun im vierten Jahr genieße, auskommen könnte! Aber die Weltgeschichte kommt einem ja vor wie ein schlechtes Buch, ein Kolportageroman, wo grelle Effekte und Bluttaten sich in roher Übertreibung häufen und wo man keine Menschen, keine Charaktere, sondern Holzpuppen handeln sieht. Leider kann man dieses schlechte Buch nicht aus der Hand schmeißen, man muß sich durchbeißen. Und doch - sie bewegt sich. Ich verzweifle nicht einen Augenblick an der geschichtlichen Dialektik...”
Genauso ernst ging sie zum Beispiel auf Pflanzenkunde ein und verriet eine erstaunliche Kenntnis der Natur. Am 18. September 1918 schrieb sie ihrer Sekretärin Mathilde Jacob (sie wurde von den Nazis ermordet): „Die eine violette Blume, die Sie nicht kannten, heißt ...Beinwell, das weiße Blümchen mit grünlichen Streifchen, nach dem Sie fragten, ist das Sumpfherzblatt, in Österreich Studentenröschen genannt, auf Latein Parnassia Palustris...”
Rosa Luxemburg ist von den „Zentristen”, dem linken marxistischen, Flügel in der Sozialdemokratie um Kautsky, mit dem sie zuvor den „Revisionismus” von Bernstein bekämpft hatte, der Vorwurf gemacht worden, sie übertrage einfach mechanisch Kampfmethoden der Russischen Revolution 1905 auf die deutschen Verhältnisse. Die Lektüre ihrer wohl bedeutendsten Schrift über die Taktik der Arbeiterbewegung - Massenstreik, Partei und Gewerkschaften - genügt, um sich vom Gegenteil zu überzeugen Schreibt sie nicht, daß alle auf dem „Boden der abstrakten unhistorischen Betrachtungsweise stehen”, die in Deutschland entweder den Massenstreik „auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen bestimmten Kalendertag ansetzen möchten” oder aber ihn aus der Welt schaffen wollen, indem sie verbieten, ihn zu propagieren, wie es der Gewerkschaftstag in Köln (Mai 1905) getan hat? Der Massenstreik sei kein bloßes „technisches Kampfmittel”, eine Art Taschenmesser, das man „für alle Fälle” zusammengeklappt bereit halten oder auch nach Beschluß aufklappen und gebrauchen kann.” Die Russische Revolution (von 1905) lehre, daß er sich „in gewissen Momenten aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt”. Darum müsse man diejenigen Momente und sozialen Verhältnisse erforschen, aus denen der Massenstreik in einer bestimmten Phase des Klassenkampfes erwächst! „Mit der Psychologie eines Gewerkschaftlers, der sich auf keine Arbeitsruhe bei der Maifeier einläßt, bevor ihm eine genau bestimmte Unterstützung für den Fall seiner Maßregelung im voraus zugesichert wird, läßt sich weder Revolution noch Massenstreik machen.”
Allerdings verwandle sich im Sturm der Revolution der Proletarier sehr leicht in einen „Revolutionsromantiker”, für den „sogar das höchste Gut, nämlich das Leben, geschweige das materielle Wohlsein, im Vergleich mit den Kampfidealen geringen Wert besitzt”.
Es sei schwer vorauszusehen, welche Momente zu sozialen Explosionen führen können. Die Aufgabe der Initiative und Leitung bestehe deshalb nicht „im Kommandieren aus freien Stücken, sondern in der möglichst geschickten Anpassung an die Situation und möglichst engen Fühlung mit den Stimmungen der Massen”.
Ihr Verständnis von der entscheidenden Funktion der Massenaktion führte Rosa Luxemburg zum Bruch mit der „sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft”, von SPD-Abgeordneten, die unter Durchbrechung der Funktionärsdisziplin im Dezember 1915 und im März 1916 gegen die Bewilligung von Kriegskrediten gestimmt hatten.
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In „Spartacus Nr. 1” vom 20. September 1916 schrieb sie aus dem Gefängnis: „Genauso wie zu Beginn des Krieges der Kadavergehorsam der Millionen Arbeiter die Partei wie eine preußische Soldatenkolonne auf das Geheiß der hundertzehn Mann im Reichstage schweigend kehrtum machen ließ, ebenso nimmt schon die Umkehr der Massen zurück zum Sozialismus die groteske Form der geistlosen Jasagerei zu der Kreditverweigerung im Reichstag an. Die parlamentarische Aktion (die Verweigerung der Kriegskredite - d.Red.) des Dutzends oder einiger Dutzend Abgeordneter ist also immer das gegebene, die Politik, die Achse des Lebens, der Nabel der Welt, die Massen sind nur der Chor, die dazu Ja oder - in seltenen Fällen - Nein sagen. Als ob die Schicksale des Krieges und des Friedens heute noch im Parlament entschieden werden könnten! Als ob die Aktion der sozialdemokratischen Parlamentarier heute noch eine andere Bedeutung, einen anderen Zweck hätte, als den Massen klarzumachen - daß sie nichts vom Reichstag, daß sie alles nur von sich selbst zu erwarten haben, als sie zu diesem selbständigen Handeln durch Wort und Beispiel aufzurütteln, aufzupeitschen! Die Mauern der Säbeldiktatur und der imperialistischen Blutherrschaft werden nicht vor den Posaunenstößen der Reichstagsreden und Abstimmungen fallen und noch weniger vor den schüchternen Versuchen auf der Hirtenflöte einer bescheidenen und tugendhaften Opposition. Nur die rücksichtslose Machtentfaltung der Volksmassen kann dieses Wunder fertig bringen. Und wenn die Kreditbewältigung im Reichstag allerdings zum Springpunkt und zur Losung der gesamten Politik des Sozialdemokratischen Verrats wurde, so ist umgekehrt die Ablehnung der Kredite im Reichstag mitnichten das A und O der Rückkehr zur sozialistischen Politik, vielmehr nur ein Detail, ein schwacher Anfang einer Politik, deren ganzer Schwerpunkt außerhalb des Parlaments, in Massenaktionen liegt.”
Rosa Luxemburg war nicht nur und bleibt ein Adler, sie war und ist einer der bedeutendsten theoretischen Köpfe der Arbeiterbewegung, zugleich aber auch hervorragende Lehrerin für Strategie und Taktik ihrer Kämpfe, in denen Geist und Tat eine unzertrennliche Einheit bilden müssen.
Jakob Moneta schrieb diesen Text 1986 als Vorwort zum Buch „Rosa Luxemburg - Leben, Kampf, Tod” von Ernest Mandel und Karl Radek (ISP-Verlag, Frankfurt/M.) |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 279 (Januar 1995). | Startseite | Impressum | Datenschutz