Geschichte

Materielle, soziale und ideologische Voraussetzungen des nazistischen Genozids

Ernest Mandel


1.

Was den Holocaust – ein bis dato einzigartiges Ereignis in der Geschichte – möglich gemacht hat, war in erster Linie die hyperrassistische Ideologie in ihrer biologischen Variante (eine extreme Form des Sozialdarwinismus). Gemäß dieser Doktrin gibt es „Untermenschen-Rassen“, deren Vernichtung gerechtfertigt bzw. unerläßlich ist. Für die Verteidiger dieser Ideologie waren die Juden das „auszurottende Übel“, die Schwarzen sind „Affen“, die „einzigen guten Indianer sind tote Indianer“ usw.

Die Doktrin des biologischen Rassismus ist nicht vom Himmel gefallen. Sie findet ihre materielle Basis in der sozio-ökonomischen und politischen Praxis, die bestimmte Gruppen von Menschen derart unmenschlich behandelt, daß fast zwangsläufig die Notwendigkeit der ideologischen Rechtfertigung – einer Ideologie der Ent-Menschung – und der „Neutralisierung“ des schlechten Gewissens und des persönlichen Schuldgefühls entsteht (vgl. die Rede Himmlers vom 6. Oktober 1943).


2.

Die systematische Entmenschung der Juden durch die Nazis ist kein isoliertes Phänomen in der Geschichte. Vergleichbare Erscheinungen hat es gegenüber den Sklaven in der Antike, den weisen Frauen („Hexen“) im 16. und 17. Jahrhundert, den Indianern Amerikas, den Schwarzen während des Sklavenhandels usw. gegeben. Die Opfer zählen nach Millionen, darunter Frauen und Kinder. Wenn die Massaker in keinem Fall einen solchen Grad an Perfektion und Systematik erreicht haben wie im Holocaust, liegt es nicht daran, daß die Mörder „menschlicher“ oder nachsichtiger gewesen wären als die Nazis. Es liegt daran, daß ihre Mittel und ihre sozioökonomischen und politischen Zielsetzungen beschränkter waren.


3.

Es stimmt nicht, daß die Ausrottungsvorhaben der Nazis sich nur auf die Juden erstreckten. Die Roma sind verhältnismäßig in vergleichbarem Umfang ausgerottet worden wie die Juden. Längerfristig wollten die Nazis einhundert Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa vernichten, vor allem Slawen. Daß die Vernichtung mit den Juden angefangen hat, liegt teilweise an den Wahnvorstellungen Hitlers und einiger seiner Helfershelfer über die „jüdische Weltverschwörung“, teilweise hat es aber auch einen praktischeren Grund. Vor ihrer Vernichtung sollten die Sklaven arbeiten („Justiz“minister Thierack: „Tod durch Arbeit“). Die Nazis glaubten aber, zu Recht oder zu Unrecht, die Juden würden weniger zahm, weniger geeignet sein, auf einen Zustand unwissender und vollständig resignierter Sklaven zurückgestoßen zu werden als andere „unterlegene Rassen“. Deshalb war es aus ihrer Sicht nötig, sie innerhalb der Lager zu Tode zu bringen (auch durch Arbeit) und nicht in Dörfern und Städten, die teilweise noch „offen“ waren (wo man zu einem späteren Zeitpunkt nach und nach die Russen, Polen, Ruthenier, Ukrainer etc. vernichten wollte).


4.

Die Doktrin der rassischen Unterlegenheit (die „Ent-Menschtheit“) der Juden wird von den fanatisiertesten zeitgenössischen Antisemiten mit dem Mythos der „Verschwörung des internationalen Judentums“ in Verbindung gebracht, die damit angeblich die Macht auf der ganzen Welt erobern und allen Völkern „das Blut aussaugen“ will. Die zusammenwirkenden Instrumente dieser Verschwörung wären das große spekulative (Bank-)Kapital, der marxistische Sozialismus (später der Bolschewismus), das Freimaurertum und ... die Jesuiten.

Dieser Mythos ist nicht deutschen, sondern russischen Ursprungs (die berühmten Protokolle der Weisen von Zion waren eine Fabrikation der zaristischen Ochrana); das Echo darauf war zu Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich, Großbritannien, Österreich, Ungarn und Polen viel stärker als in Deutschland. Der ukrainische Chef Petljura, verantwortlich für die Pogrome, durch die in kurzer Zeit über 100 000 Juden getötet wurden, war ein fanatischer Anhänger dieses Mythos. Für uns steht außer Zweifel, daß er fähig gewesen wäre, den Holocaust zu denken und durchzuführen, wenn er dazu die materiellen und technischen Mittel gehabt hätte.


5.

Die Doktrin des biologischen Rassismus ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen, dem des Aufschwungs von anti-humanistischen, antifortschrittlichen, antiegalitären, antiemanzipatorischen Lehren, die offen die extremste und systematischste Gewalt gegenüber großen Menschengruppen (dem „Feind“) verherrlichen, und die Ende des 19. Jahrhunderts Verbreitung finden. Es scheint uns unmöglich zu leugnen, daß der Ausbruch (in minderem Maße die Vorbereitung) des Ersten Weltkriegs diesbezüglich den entscheidenden Wendepunkt darstellt. Ohne den Ersten Weltkrieg wären Hitler und der Nazismus als Massenphänomen undenkbar gewesen. Ohne den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wäre Auschwitz unmöglich gewesen.

Der Erste Weltkrieg kann schwerlich vom Phänomen der Krise des Imperialismus getrennt werden, dessen Vorboten im Kolonialismus gerade an den Aufschwung biologisch-rassistischer Lehren bei einem Teil der Kolonisatoren gebunden sind (vgl. Plakate wie: „Für Hunde und Eingeborene verboten“).


6.

Der Holocaust hat nicht nur ideologische Wurzeln. Ohne bestimmte materielle und technische Mittel wäre er unmöglich gewesen. Er war ein industrielles, kein handwerkliches Vernichtungsunternehmen – das ist der ganze Unterschied zu den traditionellen Pogromen. Dieses Unternehmen erforderte die Massenproduktion von Zyklon B, von Gaskammern, Krematorien, Baracken, den massiven Einsatz der Eisenbahn – das alles auf einer solchen Stufenleiter, daß es im 18. und im größten Teil des 19. Jahrhunderts nicht durchführbar gewesen wäre, von früheren Zeiträumen ganz zu schweigen (sofern sie sich nicht über Jahrzehnte oder Jahrhunderte erstreckten). In diesem Sinn ist der Holocaust auch (nicht nur, aber auch) ein Produkt der modernen Industrie, die immer mehr der Kontrolle der menschlichen und humanistischen Vernunft entgleitet, d.h. der modernen kapitalistischen Industrie, deren Haupttriebkraft die entfesselte und unkontrollierbar gewordene Konkurrenz ist. Es ist das bisher extremste Beispiel der Kombination aus partieller, perfektionierter Rationalität und bis zum Extrem getriebener globaler Irrationalität, die für die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnend ist.


7.

Neben den ideologischen und materiellen/technischen Voraussetzungen des Holocaust muß man seine soziopolitischen Voraussetzungen hervorheben. Die Durchführung des Holocaust erforderte die Teilnahme mehrerer Millionen Menschen auf verschiedenen Ebenen der aktiven und passiven Komplizenschaft: Henker, Organisatoren und Wachleute der Lager in erster Linie, natürlich; aber auch Staatsmänner, Bankiers, Industrielle, hohe Funktionäre, höhere Offiziere, Diplomaten, Juristen, Professoren, Ärzte und das Fußvolk: kleine Befehlshabende, Polizisten, „normale“ Gefängniswärter, Eisenbahner, usw.

Eine aufmerksame Untersuchung über mehrere Millionen von Komplizen wird diese in verschiedene Nationalitäten einteilen, von denen die Deutschen sicher nicht mehr als 50-60 Prozent ausmachen. Sie wird sie auch in ihren unterschiedlichen Grad an Irrationalität einteilen – unter denen Psychopathen und Fanatiker sicher eine bedeutende Minderheit bilden. Aber die Mehrheit handelte aus Gehorsam, aus Routine oder aus Kalkül (das Schweigen der Kirchenhierarchie fällt in diese letztere Kategorie) oder auch aus Feigheit (die persönlichen Risiken des Ungehorsams wogen schwerer als das Risiko, zum Komplizen unmenschlicher Akte zu werden).

Einer der Gründe, die den Holocaust möglich gemacht haben, ist deshalb ethischer Natur. Der Holocaust ist auf der Ebene der Mentalitäten auch das Ergebnis der Doktrin, daß der Staat das Recht habe, den Individuen Aktionen aufzubürden, die diese abweisen müßten und in ihrem Innersten auch als Verstoß gegen die Grundregeln der Ethik empfinden.

Dieser Auffassung nach ist es besser, sich der Staatsmacht in jedem Fall zu unterwerfen, als die „politische Autorität“ zu unterminieren. Die extremen Konsequenzen dieser Doktrin legen die Absurdität der klassischen These der Konservativen bloß (inkl. der von Aristoteles und Goethe): Die „Unordnung“, die durch die Revolte gegen das Unrecht hervorgerufen wird, führe zu noch größerem Unrecht. Mehr Unrecht als in Auschwitz kann es nicht geben. Gegenüber massenhaftem Unrecht ist Widerstand und Revolte, auch individuelle, nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht, sie kommt vor jeder Staatsräson. Das ist die wichtigste Lehre aus dem Holocaust.


8.

Minderheiten mit extrem fanatischen und unmenschlichen Ansichten – also pathologische Minderheiten und Individuen – gab und gibt es im 19. und 20. Jahrhundert in praktisch jedem Land, von den vorhergehenden Jahrhunderten nicht zu reden. Aber sie bilden ein randständiges Phänomen, mit geringfügigem politischem Gewicht. Dies war sicher in Deutschland in der Periode von 1848 bis 1914 der Fall.

Damit solche Individuen bei Millionen Menschen ein Echo hervorrufen, muß es eine tiefe gesellschaftliche Krise geben (als Marxisten würden wir sagen: eine tiefe sozioökonomische Krise, eine tiefe Krise der Produktionsweise und eine tiefe Krise der Herrschaftsstrukturen). Damit solche Individuen aussichtsreich für Machtposten kandidieren bzw. die Macht ergreifen können, muß es eine Konstellation der gesellschaftlichen Kräfte geben, die dies erlaubt: die Schwächung der traditionellen Arbeiterbewegung (und, in geringerem Maße, des bürgerlichen Liberalismus), die Stärkung der aggressivsten Schichten der besitzenden Klassen, die Verzweiflung der Mittelschichten, der massive Anstieg der Zahl der Deklassierten usw. Die Krise der Weimarer Republik und die Wirtschaftskrise 1929-1934 haben offensichtlich solche Verhältnisse im Deutschland von 1932-33 geschaffen.


9.

Die Besonderheiten der deutschen Geschichte, der besondere Charakter des „Blocks an der Macht“ nach der Herstellung der deutschen Einheit 1871, das besondere Gewicht der preußischen Junker und ihrer militaristischen Tradition innerhalb dieses Blocks, die relative Schwäche der liberal-humanistischen Tradition verglichen mit anderen Ländern (wegen der Niederlage der Revolution von 1848), das offenkundige Ungleichgewicht zwischen dem Aufschwung der deutschen Industrie und des Finanzkapitals auf der einen, ihrem Anteil an der Aufteilung der Einflußsphären weltweit auf der anderen Seite – all dies hat den deutschen Imperialismus in der Periode von 1890-1945 aggressiver gemacht als den seiner hauptsächlichen Rivalen. Der Kampf um die Weltherrschaft lief damals in den Augen eines großen Teils der deutschen „Eliten“ über den Krieg und den Militarismus. Das zu erobernde Reich – vergleichbar dem indischen Kaiserreich – lag in Mittel- und Osteuropa (und sollte sich, von da aus, in den Nahen Osten, nach Afrika, Südamerika usw. erstrecken). Dies erklärt, warum ein großer Teil der herrschenden Klassen in Deutschland bereit war, Hitler zu akzeptieren, ohne daß sie sich völlig im klaren gewesen wären, wo das hinführen würde (allerdings war seit dem 30. Juni 1934 für jeden, der nicht blind war, klar, daß dieser Mann bereit war, die elementarsten Regeln des Rechtsstaats und der Moral zu überschreiten, und daß er ein hemmungsloser Mörder war).

Die beiden Tendenzen, die liberal-humanistische und die konservativ-militaristische, trifft man bei allen bürgerlichen Klassen Europas, der USA und Japans nach 1885-90 an. Der Unterschied ist, daß die zweite Tendenz in Frankreich und Großbritannien eine Minderheit geblieben ist, in Japan und Deutschland aber die Mehrheit errungen hat (in den USA halten sie sich seit 1940 die Waage). Dieser Unterschied erklärt sich nicht aus ethnischen Faktoren, sondern aus historischen Besonderheiten. [...]


10.
      
Mehr dazu
Sascha Möbius: Hitlers willige Vollstrecker, Inprekorr Nr. 302 (Dezember 1996)
Per-Olof Mattsson: Die Deutschen und der Judenhass, Inprekorr Nr. 324 (Oktober 1998)
François Vercammen: Ernest Mandel (1923-1995), Inprekorr Nr. 289 (November 1995)
Mario Keßler: Marxistischer Theoretiker und revolutionärer Sozialist, Inprekorr Nr. 289 (November 1995)
 

[...] Diese Interpretation des Holocaust macht nicht die mindeste Konzession an die deutschen Nazis und Militaristen, um nicht zu sagen, an die deutschen „Eliten“, im Gegenteil, sie ist nützlich und notwendig vom Standpunkt der Interessen der Menschheit. Sie erlaubt, den intellektuellen und moralischen Gefahren zu entgehen, die der These innewohnen, der Holocaust entziehe sich jeder rationalen Erklärung, wäre „unbegreiflich“. Diese die Massen verdummende These stellt einen posthumen Triumph der nazistischen Doktrin dar. Denn wenn ein Teil der Geschichte wirklich irrational und vollständig unbegreiflich ist, dann ist auch die Menschheit irrational und unbegreiflich. Dann steckt das „Reich des Bösen“ in uns allen. Das ist eine kaum verhüllte, wenn nicht heuchlerische Art zu sagen, daß die Verantwortung für den Holocaust nicht bei Hitler, nicht bei den Nazis, nicht bei jenen lag, die ihnen erlaubt haben, die Macht zu ergreifen und auszuüben, sondern bei allen liegt, anders gesagt: bei niemandem im besonderen.

Wir ziehen vor festzustellen, was der historischen Wahrheit entspricht: Weit entfernt davon, „alle schuld“ zu sein, haben sich Männer und Frauen überall, auch in Deutschland, in zwei Lager aufgeteilt: Die Kriminellen und ihre Komplizen haben sich anders verhalten als die Widerständler. Die Arbeiter von Amsterdam, die in den Streik traten, um gegen die ersten antijüdischen Dekrete zu protestieren, sind nicht dasselbe wie die SS. Der dänische Widerstand, der praktisch allen Juden in diesem Land das Leben gerettet hat, ist nicht dasselbe wie die Quislinge. Die Mehrheit der italienischen Bevölkerung (eine „Bande von ehrlosen Lügnern“ nannte sie Eichmann mit groteskem Zynismus), die die große Masse der italienischen Juden gerettet hat, ist nicht dasselbe wie die Ustascha. Die Soldaten der Roten Armee, die Auschwitz befreit haben, sind nicht dasselbe wie die, die die Gaskammern gebaut haben. Zwischen diesen beiden Lagern gab es sicher Grenzsituationen und zweideutiges Verhalten. Aber die beiden Lager sind empirisch feststellbar. Indem man die Ursachen des Holocaust rational erklärt, erklärt man gleichzeitig den Unterschied zwischen diesen Verhaltensweisen. [...]

Quelle: Actes du Colloque International organisé à l'initiative de la Foundation Auschwitz, November 1988, Freie Universität Brüssel.
Übersetzung: Angela Klein.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 302 (Dezember 1996). | Startseite | Impressum | Datenschutz