Ernest Mandel

Marxistischer Theoretiker und revolutionärer Sozialist

Es fällt schwer, von Ernest Mandel in der Vergangenheitsform zu sprechen oder zu schreiben; allzu gegenwärtig ist der vitale, von Ideen und kämpferischem Elan geprägte Mensch in der Erinnerung. Ernest Mandel, der am 20. Juli 1995 in Brüssel an den Folgen einer Herzattacke starb, war einer der produktivsten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Durch Dutzende von Büchern, seine vielen hundert Aufsätze, Vorträge und Interviews zieht sich wie ein roter Faden die praktische Dimension seiner geistigen Anstrengungen: Mitzuarbeiten an der Transformation der kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft, die statt durch bürokratischen Despotismus durch die Selbstverwaltung der Lohnabhängigen auf allen Ebenen geprägt sein sollte.

Mario Keßler

Sozialistisch erzogen wurde Ernest Mandel bereits im Elternhaus. Sein Vater Henri, ein linker Sozialist, war Kriegsgegner im Ersten Weltkrieg und von Belgien nach Holland geflüchtet, um der Einberufung zu entgehen. Dort traf er Wilhelm Pieck; beide gingen nach dem Sturz der Hohenzollern-Monarchie nach Deutschland, wo Henri Mandel in der KPD und beim Aufbau der sowjetischen Nachrichtenagentur mitarbeitete.

Ernest Mandel wurde am 5. April 1923 in Frankfurt am Main geboren. Obwohl die Familie einige Jahre später wieder nach Belgien zog und der junge Ernest in Antwerpen aufwuchs, prägte ihn dieses Leben zwischen den Nationen und Kulturen. Der „flämische Internationalist jüdischer Herkunft“, als der er sich oft bezeichnete, war von Kindheit an mit der niederländischen, deutschen und französischen Sprache gleichermaßen vertraut. Durch häufige Kinobesuche lernte er fließend Englisch; und dem politischen Schriftsteller wurden all diese Sprachen Mittel seines Ausdrucks. Stets ein unermüdlicher Leser, galt sein Interesse nicht nur der sozialwissenschaftlichen und belletristischen Weltliteratur, sondern auch dem Kriminalroman; hierüber sollte er 1984 eine vielbeachtete Sozialgeschichte Ein schöner Mord schreiben.

 

Ernest Mandel (1970)

Foto: Eric Koch / Anefo)

Der Ausbruch des II. Weltkrieges und Ernest Mandels frühe politische Tätigkeiten fielen beinahe zusammen. Der später in Auschwitz ermordete Trotzkist Abraham Léon wurde seit dem Juli 1941 sein politischer Mentor. Mandel beteiligte sich am illegalen Kampf der kleinen trotzkistischen Partei und an der Herausgabe ihres Blattes Voie de Lénine. Im Juli 1943 gelang es den Genossen, eine Parteikonferenz abzuhalten, die die antifaschistische Arbeit effektiv zu koordinieren half. Besonders in der Region um Charleroi konnten trotzkistische Widerstandsgruppen aktiv werden. Die belgischen Trotzkisten beteiligten sich mitentscheidend an der Einberufung einer Europäischen Konferenz der IV. Internationale im Februar 1944 in Frankreich, die von den nazistischen Besatzern nicht verhindert werden konnte.

Doch wenig später geriet Mandel in die Hände der Nazis, von Lüttich wurde er nach Deutschland deportiert, dort von Lager zu Lager geschickt. Zunächst wegen der Verteilung von Flugblättern verurteilt, entdeckten die Faschisten schließlich, daß Mandel Jude war. Er sollte nach Auschwitz deportiert werden, konnte jedoch mit Hilfe ehemaliger Sozialisten unter der Wachmannschaft fliehen und untertauchen. Erneut verhaftet, floh er ein zweites Mal. Zum dritten Mal verhaftet, wurde er im April 1945 aus dem Lager Nieder-Roden bei Frankfurt/M. durch die Alliierten befreit.

Mandels Hoffnung, sein durch die Okkupation Belgiens unterbrochenes Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte wiederaufnehmen zu können, erfüllte sich zunächst nicht. Er mußte mit enormen materiellen Schwierigkeiten ringen, arbeitete in verschiedenen Berufen, auch als Hilfsarbeiter. Zwischen 1954 und 1963 konnte er als wirtschaftswissenschaftlicher Sachverständiger für den belgischen Gewerkschaftsbund arbeiten. In dieser Zeit war er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, aus der er als aktiver Trotzkist jedoch ausgeschlossen wurde.

Schon in den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde Mandel als theoretischer Kopf und Aktivist der trotzkistischen Richtung innerhalb des revolutionären Sozialismus bekannt. Von 1945 bis zu seinem Tode gehörte er dem Vereinigten Sekretariat, dem Führungsgremium der IV. Internationale, an, Als politischer Publizist machte er sich bald über die trotzkistischen Gruppierungen hinaus einen Namen, obwohl er manchmal nur unter den Pseudonymen Ernest Germain oder Pierre Gousset publizieren konnte. Mandels Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte in präziser, einfacher Sprache vorzutragen, ohne daß die Wissenschaftlichkeit verloren ging, prägte sich in dieser Zeit aus. Zugleich begann er, systematisch beinahe die gesamte wirtschaftswissenschaftliche Literatur zu studieren. Seine große Belesenheit und seine theoretischen Anstrengungen mündeten 1962 in die bei René Juillard in Paris erschienene, beinahe tausendseitige Abhandlung Traité d'Economie Marxiste.

Das Buch wurde in alle Weltsprachen übersetzt; in der Bundesrepublik erschien es 1968 bei Suhrkamp unter dem Titel Marxistische Wirtschaftstheorie. Mandel wurde mit ihm einer der prominentesten Vertreter der mit der Studentenrevolte verbundenen sozialistischen Intelligenz. Er warnte vor einer Überschätzung der Rolle von Universitätsprofessoren und Studenten in den Auseinandersetzungen um Demokratie und (künftigen) Sozialismus (Die Rolle der Intelligenz im Klassenkampf, 1975).


Sozialismus oder Markt


Als marxistischer Wirtschaftswissenschaftler entfaltete Mandel die Marxsche Theorie an der modernen Industriegesellschaft. Er begriff die von Marx analysierten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nicht als Fetisch, sondern suchte nach Möglichkeiten, den logischen Selbstwiderspruch des Kapitals durch die Emanzipation der Gesellschaft vom Kapitalismus zu lösen. Mandel argumentierte, daß der Sozialismus jede Form der warenproduzierenden Gesellschaft schließlich überwinden werde. Dies brachte ihn in theoretischen Gegensatz zu zahlreichen Linken in Ost und West, die in den sechziger Jahren nach einem Sozialismus-Modell suchten, das Plan und Markt miteinander vereinbaren könne. Den parlamentarischen Reformvorstellungen vieler Linker setzte Mandel seine Auffassung entgegen, daß nur eine durch das Rätesystem realisierte Selbstregierung der werktätigen Massen dem Sozialismus adäquat sei. Allerdings trat Mandel stets für Parteien-Pluralismus auf dem Boden einer sozialistischen Verfassung ein und sprach sich auch für das Prinzip der Gewaltenteilung aus, wobei die verschiedenen Komponenten „von unten her“ einer Kontrolle unterworfen sein sollten. Der deutsche Leser kann eine Reihe diesbezüglicher Überlegungen in den Bänden Revolutionäre Strategie im 20. Jahrhundert (1978), Kritik des Eurokommunismus (1978), Revolutionärer Marxismus heute (1982) sowie in dem gemeinsam mit Johannes Agnoli verfaßten Gesprächsband Offener Marxismus (1980) finden.


Kapitalistische Krisenprozesse


Um eine richtige Strategie für revolutionäre Parteien und Bewegungen entwickeln zu können, sei, so Mandel, das Studium der kapitalistischen Krisenprozesse unerläßlich. So erschienen in rascher Folge die Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie (1967), eine Zusammenfassung seines Hauptwerkes im Kontext der beginnenden Studentenrevolte, Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx (1968), Der Spätkapitalismus - Versuch einer marxistischen Erklärung (1972), Einführung in den Marxismus (1979), Karl Marx - die Aktualität seines Werkes (1984), Kontroversen um „Das Kapital“ (1991). Hierzu gehört auch Mandels Abhandlung über Die langen Wellen im Kapitalismus (1983), wo er, an Nikolaj Kondratjew anknüpfend, den von den zyklischen Krisen zu unterscheidenden Rückgang der Produktion von längerer Dauer analysierte, der alle 40 bis 50 Jahre beobachtet werden kann.

Die Zusammenhänge von Konjunktur und Krisenzyklus mit längerfristigen Entwicklungstendenzen und ihren Auswirkungen auf den „subjektiven Faktor“ - das Massenbewußtsein der Lohnabhängigen - beschäftigte Mandel in einer Reihe von Schriften, die aktuelle innerkapitalistische Probleme behandelten: Die EWG und die Konkurrenz Europa-Amerika (1968), Die deutsche Wirtschaftskrise. Lehren der Rezession 1966-67 (1968), Weltwirtschaftsrezession und BRD-Krise 1974/75 (1976), Ende der Krise oder Krise ohne Ende? (1977; beide mit Winfried Wolf), Die Krise. Weltwirtschaft 1974-86 (1987), Cash, Crash & Crisis. Profitboom, Börsenkrach und Wirtschaftskrise (1989; mit W. Wolf). Bisweilen neigte Mandel dazu, die Beharrungskräfte des Kapitalismus zu unter- und das revolutionäre Bewußtsein zu überschätzen. Doch ist dies, wie Robert Kurz mit Recht bemerkte, bestimmt besser, als jene krisentheoretische Besinnungslosigkeit, die die Krisen des globalen Marktsystems verdrängt.


Alternative zum Stalinismus


Als einer der bedeutendsten Schüler Leo Trotzkis beschäftigte sich Ernest Mandel immer wieder mit Leben und Werk des russischen Revolutionärs. Er verdichtete seine Überlegungen 1981 zu dem Band Leo Trotzki - eine Einführung in sein Denken, der, wesentlich erweitert und der veränderten politischen Situation Rechnung tragend, 1992 unter dem Titel Trotzki als Alternative neu erschien. Ein Vergleich beider Ausgaben zeigt, daß Mandel in seinen letzten Lebensjahren Werk und Persönlichkeit Trotzkis stärker historisierte, also kritischer sah. Mandel leuchtete jene Widersprüche in Trotzkis Denken aus, die ihn in der Phase des Bürgerkriegs und des Kriegskommunismus 1918-21 seine libertären Vorstellungen zeitweilig beinahe vergessen ließen. Doch unterstrich Mandel die Erkenntnis der Revolutionäre von Marx bis Trotzki, daß die Lohnabhängigen sich selbst organisieren und befreien müssen, daß keine Partei und kein Zentralkomitee diese Aufgabe für sie übernehmen kann. Mandel porträtierte Trotzki nicht nur als machtpolitischen Gegenspieler Stalins, sondern als Alternative zum Stalinismus, ohne sich in Spekulationen über mögliche Handlungsweisen Trotzkis in Krisensituationen allzusehr zu verlieren, Er wies schlüssig nach, daß viele dieser Krisen durch Stalins Aufstieg und die brutale Art seiner Herrschaft überhaupt erst hervorgerufen wurden.

Wie viele andere Sozialisten analysierte auch Ernest Mandel in den achtziger Jahren die Ursachen, Bedingungen und möglichen Entwicklungsrichtungen der Perestrojka in der Sowjetunion. Mandels These, vorgetragen in Das Gorbatschow-Experiment (1989), wonach eine Reform von oben allein nicht ausreiche, um die Grundlagen der stalinistischen Diktatur zu beseitigen und eine Entwicklung in Richtung auf eine sozialistische Demokratie zu ermöglichen, wurde durch die Geschichte bestätigt. Anders als Trotzki hielt Mandel eine Entwicklung der Sowjetunion in Richtung auf einen Kapitalismus bis zu Beginn der neunziger Jahre noch für völlig ausgeschlossen. In Power and Money. A General Theory of Bureaucracy (1992) setzte er sich mit diesem Fehlurteil auseinander. In Trotzki als Alternative, seinem letzten Buch, das in gewisser Weise als Mandels politisches Testament gelten kann, griff er diese Problematik erneut auf und verwies vor allem auf den „subjektiven Faktor“: „Die Oppositionsströmungen innerhalb der kommunistischen Weltbewegung, allen voran die Trotzkis und die vom Geist Rosa Luxemburgs inspirierten, haben früh vor den entscheidenden Gefahren gewarnt. Hätte man ihren Warnungen in genügendem Maße und genügender Zahl Gehör geschenkt, dann hätte der Menschheit unsägliches Leid erspart werden können.“ [1]

Mit dieser Haltung hob sich Mandel deutlich von vielen (ehemaligen) Linken ab, die retrospektiv in der Oktoberrevolution die Wurzeln allen Übels sehen wollen. In Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution (1992) setzte sich Mandel in polemischer Schärfe mit jenen auseinander, die zwischen Lenin und Stalin ein Gleichheitszeichen setzen oder beide innerhalb einer bruchlosen Traditionslinie sehen: „Gestern war der geniale Stalin der Fortsetzer des genialen Lenin. Heute ist der Despot Stalin ein Nebenprodukt des leninistischen Hangs zur persönlichen Macht und zur Gewalt.“ [2] Dabei verschloß Mandel nicht vor der Tatsache die Augen, daß bei Lenin zwar in den Phasen revolutionären Aufschwungs die demokratischen Akzente vorherrschten. „In den Phasen revolutionären Rückgangs, rückgehender Aktivität der Massen gewinnt das Thema des Zentralismus und der Substitution der Klasse durch die Partei die Oberhand.“ [3] Mandel hob hervor, daß die möglichen Verbindungslinien zwischen Lenin, einem von Stalin kreierten „Leninismus“ und dem stalinistischen Regime wohl nur dann erkennbar werden, wenn man bedenkt, daß unter Stalins Herrschaft die wesentlichen Errungenschaften der Oktoberrevolution, besonders die (tendenzielle) Selbstregierung der Massen, beseitigt, nicht fortentwickelt wurden. Daß eine Modernisierung Rußlands unter Lenin mit gleichen terroristischen Mitteln in Gang gesetzt worden wäre, wie sie Stalin anwandte, darf in das Reich der Phantasie verwiesen werden. Vielleicht aber hätte sie, so Mandel, ohne den Terror dauerhaftere Ergebnisse gezeigt?


Wissenschaftler und Revolutionär


Ernest Mandels theoretische Forschungsarbeit und seine praktisch-politische Tätigkeit im Rahmen der IV. Internationale standen in einem engen Zusammenhang, ohne daß er beide gleichsetzte. „Ein Marxist, der Arzt ist“, antwortete er 1972 dem Spiegel, „kann sein Berufsleben auch nicht von der politischen Überzeugung trennen. Gleichwohl praktiziert er im Operationssaal nicht permanente Revolution ... Zwischen Lehrtätigkeit und politischer Aktivität besteht ein gewisser Unterschied... Ich bin kein Utopist. Eine sozialistische Revolution kann man nicht mit Studenten an der Hochschule machen ... Deshalb bin ich auch für den Pluralismus der Meinungen an der Universität, deshalb sollten weder bürgerliche noch marxistische Wissenschaftler ausgeschlossen sein. Ferner habe ich meine politische Überzeugung, gehöre einer politischen Organisation an und werde neben meiner Berufspraxis - das ist nicht miteinander identisch - meine revolutionäre Tätigkeit weiter ausüben.“ [4]

      
Mehr dazu
François Vercammen: Ein unerschütterlicher Optimist, Inprekorr Nr. 287 (September 1995)
Jakob Moneta: „Versucht zu beginnen, die Welt zu verändern!“, Inprekorr Nr. 287 (September 1995)
Politisches Sekretariat des RSB: Ernest Mandel (1923-1995), Inprekorr Nr. 287 (September 1995)
Ernest Mandel: „Die Botschaft ist: sich politisch einzusetzen“, Inprekorr Nr. 287 (September 1995)
Ernest Mandel: Brücke zum Sozialismus, Inprekorr Nr. 287 (September 1995)
Livio Maitan: Ansprache zum Gedenken an Ernest Mandel, Inprekorr Nr. 289 (November 1995)
Friedrich Dorn: Beisetzung von Ernest Mandel, Inprekorr Nr. 289 (November 1995)
François Vercammen: Ernest Mandel (1923-1995), Inprekorr Nr. 289 (November 1995)
Salah Jaber: Knapper Überblick über ein enormes Werk, Inprekorr Nr. 289 (November 1995)
Salah Jaber: Ernest Mandels Beitrag zur marxistischen Theorie, Inprekorr Nr. 299 (September 1996)
Jakob Moneta: Ernest zum Siebzigsten!, Inprekorr Nr. 259 (Mai 1993)
Ernest Mandel: 1953: Der Arbeiteraufstand in der DDR, Inprekorr Nr. 222 (Dezember 1989)
Ernest Mandel: Materielle, soziale und ideologische Voraussetzungen des nazistischen Genozids, Inprekorr Nr. 302 (Dezember 1996)
Gilbert Achcar: Ernest Mandels Aktualität, Inprekorr Nr. 406/407 (September/Oktober 2005)
Ernest Mandel: Rede auf dem Vietnam-Kongress Berlin 18.2.1968, Inprekorr Nr. 438/439 (Mai/Juni 2008)
Ernest Mandel: Der Kurs der Bolschewiki – eine kritische Analyse, die internationale Nr. 5/2017 (September/Oktober 2017)
Michel Husson: Die Aktualität der Wirtschaftstheorie von Ernest Mandel, die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020)
 

Diese Erklärung Mandels stand im Zusammenhang mit einer erregten Debatte über die Freiheit von Forschung und Lehre, die sich an Mandels Person entzündet hatte. Ernest Mandel hatte 1962 sein Studium endlich wiederaufnehmen und es 1967 an der Sorbonne mit großem Erfolg abschließen können. Anfang 1972 wurde er von der Berufungskommission des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der FU Berlin für eine Professur im Fach Sozialpolitik vorgeschlagen. Dies rief seine Gegner auf den Plan: Mandel habe nicht promoviert und könne nicht berufen werden, obwohl das Universitätsgesetz die Berufung Nichtpromovierter in Ausnahmefällen einräumte. Die schließliche Ablehnung Mandels durch den Wissenschaftssenator der Stadt wurde jedoch nicht mit dem fehlenden Doktortitel begründet, sondern mit Mandels „gegen den demokratischen Rechtsstaat gerichteten politischen Aktivitäten.“ Am 28.2.1972 verwehrte der Bundesgrenzschutz mit ausdrücklicher Order von Innenminister Genscher ihm die Einreise in die Bundesrepublik, da Mandel die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates anstrebe. Mandel sei, so Genscher im Bundestag, einer „der Hintermänner“ der Pariser Studentenunruhen vom Mai 1968 gewesen (was nicht stimmte). Erst wenn er von seinen revolutionären Zielen abgerückt sei, könne er in die Bundesrepublik einreisen. SPD-Fraktionschef Herbert Wehner kommentierte dies mit den Worten: „Der Bundesinnenminister hat eine Art Steckbrief zu Mandel vorgetragen, mit Begriffen, die ich nur aus dem Dritten Reich kenne.“ [5]

Als der Wissenschaftler 1972 seine Arbeit zum Spätkapitalismus an der FU als Dissertation einreichte, wurde die Politik zur Groteske. Da die Verteidigung in der BRD und in Westberlin unmöglich war, begab sich die Promotionskommission nach Brüssel. Dort wurde das Promotionsverfahren offiziell abgeschlossen. Im Jahre 1982 erhielt Mandel an der Freien Universität Brüssel endlich eine ordentliche Professur.

Auch die USA, Frankreich und die Schweiz verwehrten Mandel die Einreise. Hatte er noch 1968 eine Vortragsreise in die USA antreten können, in deren Verlauf er an 30 Universitäten Gastvorlesungen hielt, verweigerte ihm Generalstaatsanwalt Mitchell trotz gegenteiliger Empfehlung von Außenminister Rogers 1969 das Visum. Eine breite Solidaritätsbewegung formierte sich unter nordamerikanischen Intellektuellen, die die verfassungsmäßig garantierte Freiheit der Rede auch für Ernest Mandel einforderte. Doch erst 1979 konnte Mandel wieder in die USA einreisen, um für eine Woche einen Sommerkurs an der Boston University zu halten. 1978 wurde das für die Bundesrepublik geltende Einreiseverbot aufgehoben.


Echo in Osteuropa


Mit den Restriktionen gegen Mandel hatte die Bundesregierung den Geltungsbereich ihrer Rechtssprechung auf Westberlin ausgedehnt, ohne Protest der DDR. Mandel war, wie all seine Genossen, nicht nur vom Betreten der DDR und der anderen angeblich sozialistischen Länder (mit Ausnahme Jugoslawiens) ausgeschlossen. Die Trotzkisten wurden im Ostblock erbarmungslos verfolgt, eingekerkert oder bestenfalls ausgewiesen. Oftmals, so 1968 in Polen, wurde die Kampagne mit antisemitischer Hetze verbunden. Doch mutige Oppositionelle wie Jacek Kuron und Karol Modzelewski in Polen oder Petr Uhl in der CSSR bekannten sich zu einem Sozialismus, wie ihn Trotzki und Mandel vertraten. Wahrscheinlich hatte Ernest Mandel seine passioniertesten Leser in Osteuropa. Westliche Sozialisten, die als Gastwissenschaftler dort arbeiten konnten, schmuggelten seine Bücher an den Argusaugen des Zolls vorbei. Für alle Beteiligten war es ein wohl unvergeßliches Erlebnis, als Mandel am 2. November 1989 vor dem Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften und wenig später vor der Robert-Havemann-Gesellschaft erstmals in der DDR sprach. Bis zu seinem Tode hielt Mandel Kontakt mit sozialistischen Wissenschaftlern aus Ostdeutschland.

Ernest Mandel war der deutschen Linken auf vielfältige Weise verbunden. Mit dem deutschen Trotzkisten Jakob Moneta verband ihn eine fast ein halbes Jahrhundert dauernde enge Freundschaft. Auch mit nichttrotzkistischen Linken, so mit Peter von Oertzen, war er gut befreundet. Seine Hoffnungen, die IV. Internationale könne eine starke Landespartei konstituieren, verwirklichte sich in Deutschland ebensowenig wie anderswo. Es liegt eine Tragik in der Tatsache, daß Mandel einen so bedeutenden Teil seiner immensen Arbeitskraft für fraktionelle Auseinandersetzungen in der trotzkistischen Bewegung opfern mußte.

In den letzten Jahren setzte sich Ernest Mandel mit dem Wiederaufleben des Rechtsextremismus auseinander. In diesem Zusammenhang dachte er neu über den Antisemitismus und die jüdische Frage nach. „Mit der allmählichen Verarmung und Verunsicherung gewisser Bevölkerungsgruppen in Westeuropa und Nordamerika, den verheerenden sozialen und ideologischen Folgen des Zusammenbruchs der stalinistischen Diktaturen in Osteuropa entstand im Westen wie im Osten erneut ein Nährboden für die antisemitische Giftschlange“. [6] Umso mehr forderte Mandel die revolutionären Sozialisten auf, diese möglichen Gefahren bereits im Ansatz zu bekämpfen, damit die Linke „wieder ein breiteres Gehör bei den (durch die) neuen sich anbahnenden Katastrophen bedrohten Juden“ finden könne. [7]

Mario Keßler ist Historiker in Potsdam.
Sein Beitrag erschien erstmals (leicht gekürzt) in Sozialismus Nr. 9/95.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 289 (November 1995). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Ernest Mandel, Trotzki als Alternative, Berlin 1992, S. 8.

[2] Ernest Mandel, Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution, Köln 1992, S. 93.

[3] Ebenda, S. 97.

[4] Der Spiegel, 1972, Nr. 11, S. 41.

[5] Ebenda, 1972, Nr. 12, S. 90.

[6] Mandel, Trotzki als Alternative, S. 223.

[7] Ebenda. Einige Aspekte dieser Argumentation, noch ohne die Betonung sich anbahnender Gefahren für die Juden, finden sich in Mandels Überlegungen „Zum Historikerstreit“, in: Ders., Der Zweite Weltkrieg, Frankfurt am Main 1991, S. 209-245.