FRANKREICH:

Der Kampf der Erwerbslosen

Der politische und soziale Jahresbeginn in Frankreich steht im Zeichen einer beispiellosen Mobilisierung der Arbeitsloseninitiativen, die die Regierung in die Enge treibt. Warum hört sie nicht auf die Forderung nach einem menschenwürdigen Einkommen, die im Mittelpunkt der Bewegung steht - in einer Situation, wo 80 Prozent der Arbeitsuchenden weniger als 5000 Francs (1500 DM) monatlich erhalten?

Von François Ollivier

Als sichtbares Zeichen der Widersprüche einer von wachsender Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten Gesellschaft ist die Frage der Erwerbslosigkeit die soziale Frage am Ende dieses Jahrhunderts. Dennoch war die Mobilisierung der Erwerbslosen im Kampf für Arbeit immer ein Schwachpunkt in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Sich gewerkschaftlich oder politisch zu organisieren, seine Forderungen laut und kraftvoll vorzubringen und zu kämpfen, fällt nicht leicht, wenn man sich nicht nur von der Arbeit sondern auch von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt. Diese paradoxe Situation erklärt gleichzeitig den begrenzten Charakter der Mobilisierungen der Arbeitslosen, auch wenn es die stärksten der letzten Jahre waren, wie auch die außerordentliche Popularität der Bewegung, die sich in allen Umfragen zeigt. Die Triebfeder dieser Mobilisierungen ist die unerträgliche Situation von Hunderttausenden Erwerbslosen, die durch immer weitere Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung und der Sozialfonds verarmt sind.

ORGANISIERTE ARMUT

Man muss immer wieder daran erinnern, dass 40% der Arbeitsuchenden gar keine Unterstützung bekommen (mehr als eine Million Menschen). 38% der Arbeitsuchenden erhalten nur zwischen 3000 und 4000 Francs (900 bis 1200 DM) und 80% bleiben unter 5000 Francs (1500 DM). Diese Zahlen sprechen für sich selbst. Damit entlarvt sich alles Gerede der neoliberalen Ideologen, die Arbeitslosenunterstützungen seien zu hoch, als Spott und Geschwätz von einem beispiellosen Zynismus.

Gegen diese organisierte Armut steht die Forderung nach einem menschenwürdigen Einkommen für die Erwerbslosen im Mittelpunkt der aktuellen Mobilisierungen. Ein Weihnachtsgeld von 3000 Francs (900 DM), ein Mindesteinkommen auch für Jugendliche unter 25 Jahren, Anhebung aller Sozialminima um 1500 Francs (450 DM) - diese Forderungen einen die derzeitigen Kämpfe der Erwerbslosen.

Die Schatzhüter des Staates und die Verwalter der Arbeitslosenkassen (Unedic) entgegnen, es gebe kein Geld. Doch gerade eben haben dieselben Verantwortlichen des Staates noch genug Geld gefunden, um die (Großbank) Crédit Lyonnais wieder flottzubekommen. Das Geld ist da. Es ist eine politische Entscheidung, eine Entscheidung der Gesellschaft, damit Armut und Ausgrenzung zu bekämpfen.

Von 2000 Francs (600 DM) im Monat kann man nicht leben, lautet der Schrei der Langzeitarbeitslosen und Ausgesteuerten. Man muss ihn hören und man muss die Forderungen erfüllen.

UNTERSTÜTZUNG

Die Verantwortung der Regierung ist gefragt. Die derzeitigen Mobilisierungen haben sie in die Ecke gedrängt. Die würdevollen Erklärungen gegen die Ausgrenzung reichen nicht aus. Verzögerungsmanöver wie die Freigabe von gesperrten Fonds werden nicht lange vorhalten. Polizeieinsätze alleine werden nicht ausreichen, um die Besetzungen der Arbeitsämter zu brechen.

Mit ihrer Weigerung, mit der neoliberalen Logik zu brechen, und mit ihrem strikten Festhalten an den europäischen Konvergenzkriterien und den Amsterdamer Verträgen hat die Regierung sich gegen die Möglichkeit einer wirklich gegen Erwerbslosigkeit und Ausgrenzung gerichteten Politik entschieden. Die Millionen Stimmen von Menschen der Linken für die "Mehrheit der Vielfalt" (das Linksbündnis) sind nicht für eine solche Politik abgegeben worden. Allein die Mobilisierung kann die Regierung zur Erfüllung der Forderungen zwingen, ist die Botschaft der kämpfenden Erwerbslosen. Sie muss sich mit hoher Geschwindigkeit verbreiten. Ein gutes Gesetz für die 35-Stunden-Woche, Rechte für die Erwerbslosen - nur der Kampf kann diese Ziele voranbringen. Die Unterstützung von Besetzungen, von Versammlungen und Demonstrationen muss sich vervielfachen. Die Erwerbslosen müssen gewinnen.


Gekürzt aus: Rouge Nr. 1761 (8.1.1998)
Übers.: Björn Mertens

Dieser Artikel erscheint in Inprekorr Nr. 316

Weitere Artikel zur französischen Erwerbslosenbewegung erschienen in Inprekorr im März und im Mai.


[1] Sozialminima: die verschiedenen Formen der Sozialhilfe.