Jakob Moneta
Anfang 1923 zeichnete sich eine relative wirtschaftliche Stabilisierung ab. Zum ersten Mal seit 1918 waren die Sozialdemokraten nicht mehr in der Regierung. Reichskanzler Wilhelm Cuno, der im November 1922 eine rein bürgerliche Regierung gebildet hatte – er war Direktor einer der größten Schiffsbaugesellschaften –, machte sich darf an, eine der grundlegenden Errungenschaften der Novemberrevolution von 1918 – den Achtstundentag – auszuhöhlen. Aber ein völlig unerwartetes Ereignis änderte mit einem Schlag die gesamte politische und wirtschaftliche Lage.
Nach dem Scheitern einer internationalen Konferenz über die deutschen Reparationszahlungen ließ der französische Ministerpräsident Poincaré das Ruhrgebiet militärisch besetzen, und zwar am 11. Januar 1923. Bald danach erschütterte eine gewaltige Krise Deutschland. Die Reichsmark, die bereits vor der Inflation angefressen war 50 000 Reichsmark (RM) waren so viel wert wie ein Pfund Sterling – fiel in einem einzigen Monat auf ein Fünftel ihres Wertes.
Die Reichsregierung forderte zum „passiven Widerstand“ an der Ruhr auf. Jegliche Zusammenarbeit, jeglicher Kontakt mit den französischen Besatzungsbehörden wurde verboten. Der Streik wurde zur patriotischen Pflicht!
Aber der „Widerstand“ bei einer galoppierenden Inflation, die z. B. den Preis für ein Ei von 300 RM am 3. Februar 1923 auf 30 000 RM am 30. August 1923 hinauftrieb, während die Kapitalisten mit ihren „Sachwerten“ sich eine goldene Nase verdienten, musste zusammenbrechen.
Da die Arbeit mit wertlosem Papiergeld entlohnt wurde, der Export aber Devisen, also wertbeständige ausländische Währung, einbrachte, konnten Großkapitalisten riesige Vermögen zusammenraffen. So kaufte allein Stinnes 1 300 Unternehmen in den verschiedensten Wirtschaftszweigen auf. Jeder, der „Sachwerte“ und Waren besaß, konnte sich bereichern. Wer nur seine Arbeitskraft zu verkaufen hatte oder Rentner war, hungerte, sank in bitteres Elend ab. Da es keine gleitende Lohnskala gab, um mit der wahnsinnigen Inflation Schritt zu halten, verloren die Gewerkschaften ihre Existenzberechtigung. Sie konnte nicht einmal eine brutale Senkung des Lebensstandards aufhalten. Es kam deshalb zu massenhaften Austritten aus den Gewerkschaften.
Die Wut der Arbeitenden richtete sich gegen die Gewerkschaften, die sie nicht schützten und passiv blieben. Es gab keine „Arbeiteraristokratie“ mehr; es gab keine bevorrechteten Beamten, Polizei und Militär wurden zersetzt, jeder Begriff von Ordnung, Gesetz und Recht wurde zu einer sinnlosen Leerformel. Als Monate später die Währung stabilisiert wurde, waren 4 000 Milliarden RM – vier Billionen – so viel wert wie ein einziger US-Dollar!
Wie reagierte nun die KPD auf diese Lage, in der tatsächlich alle, die von Lohn, Gehalt oder Renten bzw. Pensionen lebten, in Mitleidenschaft gezogen wurden? Sie hatten alle schließlich für das Parlament oder auch die staatliche „Ordnung“ nur noch ein müdes Lächeln übrig.
Nach dem 3. Weltkongress der K.I. (1921) war die Wende zur Politik der Einheitsfront mit Ach und Krach durchgesetzt worden. Sie begann auch, die Massen anzuziehen. Die KPD trat in langwierige Verhandlungen mit den Sozialdemokraten ein und ging auch sehr pädagogisch in den Gewerkschaften vor. Diese Linie hielt die KPD nach 1921 – nach dem 3. Weltkongress – zwei Jahre lang durch und erzielte damit auch außerordentlich gute Ergebnisse. Ihr Einfluss in den Gewerkschaften – ablesbar an der Zahl der von ihr eroberten Delegiertenmandate wuchs beträchtlich.
Gleichzeitig wurde aber diese neue Linie der Einheitsfront zu einer Art Routine, von der sozusagen automatisch Ergebnisse erwartet wurden, ohne sie immer wieder in Bezug zur realen Entwicklung zu setzen. Und genau das sollte sich im Krisenjahr 1923 verheerend auswirken.
Die Arbeiter verließen 1923 nicht nur die Gewerkschaften in Massen, sondern wandten sich auch von der Sozialdemokratie ab. In den Revolutionsjahren 1918/19 hatte die SPD davor gewarnt, das Chaos durch einen Sieg der Bolschewiken heraufzubeschwören. jetzt aber war das furchtbare Chaos der Inflation da, und die SPD hatte es keineswegs verhindern können!
Die KPD schien in dieser Stunde die einzige Kraft zu sein, die der Arbeiterklasse einen Ausweg anzubieten vermochte. Sie konnte sich damals außerdem auf das große Prestige stützen, das die siegreiche Oktoberrevolution in der deutschen Arbeiterklasse errungen hatte. Die Massen wandten sich der KPD zu und erwarteten von ihr, dass sie die Initiative ergreife. Zurecht vermied die Arbeiterklasse, sich in fruchtlose spontane Kämpfe zu stürzen, ohne dass diese miteinander koordiniert wären, die nacheinander erfolgten und deshalb leicht zerschlagen werden konnten. Sie hatte aus ihren Erfahrungen von 1918/19, aus der Märzaktion, aus der Bayerischen Räterepublik ihre Lehren gezogen. Sie wusste, dass verstreute Kämpfe nicht den großen Sieg bringen konnten und oft genug nur mit Blut bezahlt wurden. Ihrerseits aber wartete die Führung der KP auf ein Zeichen der Massen, auf einen spontanen Ausbruch, weil sie glaubte, die Arbeiterklasse sei zu erschöpft, um zu handeln. Als gebrannte Kinder der Märzaktion 1921 fürchteten sich die Führer, eine vorzeitige Aktion zu starten, und taten nichts, um die Massen zu mobilisieren. Gewiss, die konfuse „Linke“ in der Partei, Ruth Fischer vor allem, hatte stets verlangt, die Partei sollte sich an die Spitze der Bewegung setzen, um die Macht zu erobern. Aber ob die Zeit hierfür reif war oder nicht, sie hatte das immer gefordert. Darum hörte auch diesmal auf sie kaum jemand.
Auf dem 8. Parteitag der KPD (er fand vom 28. Januar bis zum 1. Februar 1923 in Leipzig statt) wurde über die „Arbeiter-Einheitsfront“ und die „Arbeiterregierung“ diskutiert. Die Führung der Partei mit Heinrich Brandler und August Thalheimer an der Spitze setzte sich für eine Einheitsfront mit den Sozialdemokraten auch „von oben“ ein. Sie schlug vor, in Sachsen und Thüringen, wo die Sozialdemokraten zusammen mit den Kommunisten eine Mehrheit im Landtag hatten und wo es eine starke Linke in der SPD gab, eine „Arbeiterregierung“ zu bilden.
Die Leitsätze „zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiterregierung“, die mit 118 gegen 59 Delegiertenstimmen angenommen wurden, waren im Wesentlichen durchaus richtig und bedeuteten einen Schritt nach vorn.
Die „Linke“ mit Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Ernst Thälmann wollte nur eine „Einheitsfront von unten“, nur an der Basis, befürworten. Eine Arbeiterregierung, meinte sie, dürfe nur unter Führung der KP gebildet werden!
Aber das brennendste Problem, das akute Problem der Ruhrbesetzung und die Folgen, die sich hieraus ergaben – damit beschäftigte sich der 8. Parteitag nicht. Und zwar weder die „Rechte“ noch die „Linke“. Da die „Linke“ aber nicht wieder ins Zentralkomitee gewählt wurde, brach erneut der interne Streit heftig aus und führte an den Rand einer Spaltung.
Die „Linke“ setzte nun ihre eigene Politik an der Ruhr fort, wo sie Zusammenstöße hervorrief. Es gab Tote. Die KP ergriff am 13. April 1923 „die Macht“ – in Mülheim! Arbeiterräte und Milizen wurden gebildet. Eine Zeit lang waren Bochum und Gelsenkirchen im Aufstand. Die Parteiführung verurteilte diese Aktionen der „Linken“ als Putsch, obwohl die „Linke“ sie gar nicht ausgelöst hatte. Diese lokalen „Unruhen“ waren in Wirklichkeit eher ein Zeichen für den in der Arbeiterklasse wachsenden oder wiederbelebten Kampfgeist. Sie blieben jedoch ohne allgemeines Ziel!
Im Mai 1923 setzte das Exekutiv-Komitee der Dritten Internationale nochmals durch, dass die „Linke“ einem Kompromiss zustimmte.
Die Linie der „Einheitsfront“ wurde nochmals bestätigt, und revolutionäre Initiativen wurden verurteilt, solange bis es auch im übrigen Deutschland und in Frankreich eine revolutionäre Bewegung geben werde. In Frankreich und im Ruhrgebiet leistete damals die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) unter (dem später zu den Faschisten übergegangenen) Jugendführer Doriot eine hervorragende revolutionäre Arbeit unter den Soldaten, die sich vielfach mit den deutschen Arbeitern solidarisierten.
Die Vertreter der Internationale traten im Mai 1923 für ein Bündnis der KP mit dem linken Flügel der SPD in Sachsen ein, aber gegen die Beteiligung der Kommunisten an der Landesregierung. Für ganz Deutschland wurde die Losung einer „Arbeiterregierung“ ausgegeben. Das ZK der KP sollte durch Führer der „Linken“ erweitert werden, die sich aber verpflichten mussten, den „Bürgerkrieg“ innerhalb der Partei einzustellen.
Es kann keinen Zweifel geben, dass hier die Kommunistische Internationale mit sehr viel Takt und einem starken Sinn für ihre Verantwortung gehandelt hatte.
Inzwischen verschärfte sich die Krise in Deutschland. Die deutsche Bourgeoisie war diesmal in einer sehr viel kritischeren Lage als 1918/19, weil ihre stabilste Stütze, der sozialdemokratische Apparat, zusammenbrach. Die Führung der SPD war ebenso reaktionär und zynisch wie zur Zeit von Noske – aber zum ersten Mal entstand innerhalb der SPD ein linker Flügel, der nichts mehr mit den alten „Unabhängigen“, den USEPETERN, zu tun hatte. Dieser linke Flügel, der in Opposition zur Parteiführung stand, erkannte die Notwendigkeit einer Einheitsfront der Arbeiterklasse an. In Sachsen war dieser Flügel unter der Führung von Zeigner sehr stark. Im März 1923 löste die SPD im sächsischen Landtag ihre Koalition mit den bürgerlichen Parteien auf, und die neue Regierung Zeigner stützte sich auf die Stimmen der kommunistischen Landtagsfraktion. Das Kräfteverhältnis innerhalb der Arbeiterklasse änderte sich in ganz Deutschland rasch zugunsten der KP. Von den Berliner Metallern erhielten die Vertreter der KP im Deutschen Metallarbeiterverband, dem Vorläufer der IG Metall, 54 000 Stimmen, die SPD nur 22 000. Es gab eine Reihe von Massenorganisationen, die unter kommunistischer Kontrolle standen: Preisüberwachungsausschüsse, Betriebsräte, es entstand eine neue Schicht von revolutionären Obleuten, von Arbeitermilizen.
Die KP-Führung beschloss, am 11. Juni 1923 in Berlin eine Massendemonstration durchzuführen und für den 29. Juli einen „antifaschistischen Tag“. Die preußische Regierung verbot die Demonstration. Daraufhin unterwarf sich die KP-Führung dem Verbot. Die „Linke“ in der KP betrachtete dies als Kapitulation.
Wieder musste die KI intervenieren, und diesmal nahm der neue Generalsekretär der Partei, Stalin, zum ersten Mal Stellung in einer Frage, die Deutschland betraf. Er führte alle außergewöhnlichen Umstände auf, die den Sieg der Bolschewisten in Russland während der Revolution des Jahres 1917 begünstigt hatten, und er schloss mit den Worten: „Die deutschen Kommunisten haben im gegenwärtigen Augenblick nichts desgleichen. Gewiss, sie haben in ihrer Nachbarschaft die Sowjetunion, was wir nicht hatten, aber was können wir ihnen im gegenwärtigen Augenblick bieten? Wenn die Macht heute in Deutschland sozusagen fallen würde und die deutschen Kommunisten sie aufnähmen, würden sie mit Krach durchfallen.“
Er riet dem Politbüro eindringlich, alles zu unterlassen, was irgendwie die kommunistische Aktivität in Deutschland ermuntern könnte, weil sie der Bourgeoisie und den Sozialdemokraten in Deutschland („heute stehen alle Chancen auf ihrer Seite“) den Vorwand zu einem entscheidenden Schlag gegen den Kommunismus hätte liefern können. „Ich bin der Meinung, dass wir die deutschen Kommunisten nicht nur nicht anspornen dürfen, sondern sie vielmehr zurückhalten müssen.“ Stalin übersah allerdings, dass im Gegensatz zu Russland im Jahre 1917 die deutsche Industriearbeiterschaft eine viel größere – ja die entscheidende Rolle im revolutionären Prozess spielen konnte.
Obwohl nun die Demonstration in Berlin per Telegramm ab gesagt wurde, kamen in Versammlungen 250 000 Menschen zusammen, und die Passivität der KP-Führung wurde scharf kritisiert. Diesmal spornten die Massen die Führung an!
Die revolutionäre Temperatur stieg fieberhaft an. Betriebe wurden besetzt. Über 100 000 Metall- und Bergarbeiter traten in Oberschlesien den Streik. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte streikten mehr als 120 000 Landarbeiter in Ostpreußen. Die Arbeiter der Staatsdruckerei traten in den Ausstand. Da es deshalb keine Banknoten mehr gab, wurde der gesamte Zahlungsverkehr gelähmt. In Berlin rief ein in den Betrieben entstandener „Ausschuss der 15“ zum Generalstreik auf, der fast geschlossen befolgt wurde.
Dieser Fünfzehner-Ausschuss der revolutionären Berliner Betriebsräte war ein Jahr zuvor, am 27. August 1922, gebildet worden. Er hatte gegen den Willen der Gewerkschaftsführung eine Berliner Betriebsrätevollversammlung am 30. August 1922 durchgeführt, ließ sich aber niemals zu gewerkschaftsfeindlichen Äußerungen provozieren. 6 000 Mitglieder von Betriebsräten waren zu dieser Vollversammlung erschienen!
Für den 10. August 1923 lud die Berliner Gewerkschaftsführung alle Parteien ein: Sozialdemokraten, Unabhängige, Kommunisten, um herauszufinden, ob die Gewerkschaften die sich spontan ausbreitenden Streiks unterstützen sollten. Hätten die Gewerkschaften diese Streikbewegung offiziell unterstützt, wäre der Sturz der bürgerlichen Regierung und die Bildung einer Arbeiterregierung (die Karl Legien schon nach dem Kapp-Putsch vorgeschlagen hatte) so gut wie sicher gewesen.
Viele Gewerkschaftsführer waren für die offizielle Ausrufung des Streiks, aber der Sozialdemokrat Otto Wels sah das „Haupt der Anarchie“ hinter dieser Streikbewegung sich erheben. Die Cuno-Regierung witterte sofort die Gefahr und machte der Arbeiterklasse einige Versprechungen. Jedenfalls wurde der Vorschlag der KP, den Streik gewerkschaftlich offiziell zu machen, verworfen. Trotzdem ging die Streikbewegung weiter und breitete sich sogar im Lande aus. Aber am 12. August bildete Stresemann zusammen mit den Sozialdemokraten eine neue Regierung, der Streik starb langsam ab, die Sozialdemokratie hatte wieder einmal die Bourgeoisie gerettet.
Am 23. August 1923 bemerkte das Politbüro der KP endlich, dass es in Deutschland eine außerordentliche revolutionäre Chance gab (die aber zu diesem Zeitpunkt – nach dem Eintritt der SPD in die Reichsregierung -wahrscheinlich schon vorbei war!). Heinz Brandler, der nach Moskau gefahren war, um erneut Maßnahmen gegen die eigene Parteilinke zu fordern, war dort völlig überrascht worden von einer leidenschaftlichen Diskussion über die Notwendigkeit eines „deutschen Oktober“.
Brandler wurde nahegelegt, sich auf einen revolutionären Aufstand vorzubereiten, obwohl gerade er die „Linke“ – die das allerdings in einer äußert konfusen und unernsten Weise gefordert hatte – stets bekämpft hatte.
Brandler weigerte sich jedoch strikt, einen Termin für den Aufstand festzulegen. Er erhielt die Zusage, dass ihm eine Reihe erfahrener sowjetischer Militärs zur Verfügung gestellt würden, was auch geschah. Die neue deutsche Stresemann-Regierung mit der SPD als Koalitionspartner versuchte inzwischen, die wirtschaftliche Lage in den Griff zu bekommen. Sie stimmte einer gleitenden Lohnskala zu, was die gewaltigen Profitspannen verringerte, aber die Inflation ging vorläufig weiter ...
Jetzt aber bereitete sich die KP ernsthaft auf den Aufstand vor. Nur geschah dies in einem bereits relativ beruhigten sozialen Klima und ohne, dass die Partei die Massen in Bewegung setzte. Sie fürchtete sich nämlich davor, der Armee einen Vorwand zum Eingreifen zu liefern.
Diesmal verhielten sich übrigens sowohl die „Rechten“ wie auch die „Linken“ in der Partei gleichermaßen vorsichtig.
Anfang Oktober 1923 forderte der sächsische sozialdemokratische Ministerpräsident Zeigner die Kommunisten dazu auf, in seine Regierung einzutreten. Heinz Brandler, der sich damals in Moskau aufhielt, war diesmal gegen eine Regierungsbeteiligung, weil dies (im Augenblick, in dem ein Aufstand vorbereitet wurde) die Massen verwirren würde. Aber Sinowjew verlangte von ihm im Namen des Exekutivkomitees der KI, in die Regierung einzutreten, weil der entscheidende Augenblick in vier oder sechs Wochen eintreten werde und man deshalb alle wichtigen Posten besetzen müsse, wenn Zeigner sich bereit zeigen sollte zu kämpfen.
Man solle auch sofort 50 000 bis 60 000 Menschen bewaffnen und den Chef der Reichswehr in Sachsen, General Müller, ins Leere laufen lassen
Am 10. Oktober 1923 traten die Kommunisten in die Länderregierungen von Sachsen und Thüringen ein, aber weder war damit eine Mobilisierung der Arbeiterklasse verbunden noch auch ihre Bewaffnung. Genau dieser Eintritt der KPD in die Länderregierungen diente aber jetzt der deutschen Bourgeoisie, einschließlich den sozialdemokratischen Ministern in der Berliner Reichsregierung, als Vorwand für bewaffnetes Eingreifen gegen einen völlig legalen Regierungseintritt der im Landtag vertretenen KP von Sachsen und Thüringen.
Am 14. Oktober 1923 beauftragte der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert General Müller, die Ordnung in Sachsen wieder herzustellen und die Regierung von Sozialdemokraten und Kommunisten abzusetzen! Auch viele Sozialdemokraten empfanden dies als unerhörte Herausforderung.
Am 21. Oktober 1923 forderte eine Konferenz der Gewerkschaft der Hafenarbeiter in Hamburg die Ausrufung eines Generalstreiks, um die Intervention der Reichswehr gegen die sächsische Regierung zu verhindern. Kommunisten waren dagegen. Sie wollten keinen vorzeitigen Kampf auslösen und warteten auf das Signal zum Aufstand.
Am selben 21. Oktober 1923 tagte in Chemnitz die „Konferenz der sächsischen Arbeiterorganisationen“. Ihre Tagesordnung war auf einer früheren Sitzung, die vor den katastrophalen Folgen des Einmarschs französischer und belgischer Truppen ins Ruhrgebiet stattgefunden hatte, beschlossen worden. Es sollten ausschließlich soziale Fragen behandelt werden: Löhne, Preise, Unterstützung der Arbeitslosen usw.
Wegen des Einmarschs der Reichswehr in Sachsen und Thüringen hatte die „permanente Kommission der Konferenz“ auf Antrag ihrer kommunistischen Mitglieder die Einberufung auf Sonntag, den 21. Oktober vorverlegt.
Anwesend auf dieser Konferenz waren in Chemnitz 140 Betriebsräte, 120 Delegierte der Gewerkschaften, 79 Vertreter von Kontrollausschüssen (etwa vergleichbar gesetzlich nicht verankerten Mitbestimmungsgremien), 26 höhere Angestellte von Konsumvereinen, 15 Funktionäre antifaschistischer Aktionsausschüsse und 26 leitende Angestellten der Gewerkschaftsbürokratie. Keineswegs war diese Konferenz repräsentativ für die gesamte Arbeiterschaft.
Bei Beginn der Tagung beantragte nun eine Delegation des ZK der KPD, die Frage des Einmarschs der Reichswehr vorrangig zu behandeln und als Gegenmaßnahme den Generalstreik in ganz Deutschland zu proklamieren.
Daraufhin erklärte der linke Sozialdemokrat Graupe, Minister in der Koalitionsregierung SPD/KPD von Sachsen, er werde an der Spitze der sozialdemokratischen Delegierten sofort den Sitzungsaal verlassen, wenn von der festgelegten Tagesordnung – den sozialen Fragen also – abgewichen würde und man die Frage des Generalstreiks gegen den Reichswehreinmarsch behandeln werde.
Ohne die linke SPD wollte das ZK der KPD unter Führung von Heinrich Brandler die Verantwortung für die Ausrufung eines Generalstreiks nicht übernehmen. Dazu kam aber auch, dass die Losung „Generalstreik“ für die seit August durch die KP mit Hilfe der SU geschaffene Militärpolitische Organisation (MPO) das Stichwort für die Auslösung des bewaffneten Aufstandes war. Auch die „linke“ Opposition der KPD unter Ruth Fischer stimmte diesmal Brandler bei.
Nach einer längeren Debatte wurde schließlich von der KPD-Führung folgendes beschlossen:
In irgendeiner Stadt wird ein „spontaner“ Aufstand angekurbelt. Löst dieser Aufstand echte spontane Massenbewegungen in den großen Industriebetrieben aus, kommt es zu bewaffneten Aufständen in verschiedenen Teilen des Reiches, dann wäre dies ein sicheres Anzeichen für das Vorhandensein einer akuten revolutionären Situation. Dann könnte das ZK der KPD, ohne sich von den Massen zu isolieren, den Generalstreik in ganz Deutschland proklamieren und damit den bewaffneten Aufstand mit dem Ziel der Machtergreifung entfesseln,
Sollte aber die lokale bewaffnete Aktion nicht zünden und das Fass der aufgespeicherten Volksempörung nicht zur Explosion bringen, dann würde damit der Beweis geliefert, dass die subjektiven Voraussetzungen für die Entscheidungsschlacht eben noch nicht gegeben wären. Der lokale Aufstand würde dann eben als spontane Aktion erklärt, für die das ZK der KPD keine Verantwortung habe, und es hätte die Folgen hierfür nicht zu tragen.
Auf der Konferenz der sächsischen Arbeiterorganisationen war Brandlers Vorschlag, den Generalstreik auszurufen und bewaffneten Widerstand gegen den Einmarsch der von Berlin entsandten Militärs zu leisten, auf eisige Stille gestoßen. Nach der Drohung des sozialdemokratischen Ministers Graupe, mit seinen Genossen die Konferenz zu verlassen, wenn dieses Thema auch nur diskutiert würde, wurde die Resolution von Brandler still beerdigt.
Brandler, der nicht selbst die Verantwortung für den Aufstand tragen wollte, der den Aufstand von Delegierten entscheiden lassen wollte, die zum ersten Mal mit diesem Problem konfrontiert worden sind und deren soziale Zusammensetzung keineswegs repräsentativ war für die Arbeiterklasse insgesamt, musste vor allem darum scheitern, weil ohne eine vorausgegangene Mobilisierung der Massen niemand das Gefühl hatte, dass es diesmal ernst war und es tatsächlich Chancen gab zu siegen!
Nur durch ein Missverständnis wurde in Hamburg dann doch noch der berühmt-berüchtigte „Aufstand“ ausgelöst: Die Hamburger Kommunisten haben sich heroisch geschlagen, aber während sie eine Polizeistation nach der anderen besetzten, nachdem Hans Kippenberger, der hervorragende militärische Organisator und politische Leiter des Aufstandes, mitten in der Nacht geweckt worden war, um sich in dieses Abenteuer zu stürzen, gingen die Arbeiter, die von all dem nichts wussten, ruhig zur Arbeit. Hans Kippenberger, der später, während der Stalin‘schen Säuberungen „liquidiert“ wurde (er ist inzwischen rehabilitiert), hat einen genauen Bericht über den Hamburger Aufstand verfasst, der in der Sammlung von A. Neuberg (Pseudonym von Erich Wollenberg) Der bewaffnete Aufstand (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1971) veröffentlicht worden ist.
In der Diskussion, die hinterher in der KI über den verfehlten deutschen Oktober geführt wurde, erklärte Leo Trotzki: Wenn die KP eine scharfe Wendung vollzogen hätte, wenn sie die fünf oder sechs Monate, die ihr die Geschichte einräumte, dazu verwendet hätte, direkt, politisch organisatorisch, technisch die Machtergreifung vorzubereiten, hätte der Ausgang des Kampfes ganz anders sein können. Erst im Oktober aber hat die Partei sich umorientiert. Es blieb ihr zu wenig Zeit, um ihren Elan zu entwickeln. Ihre Vorbereitungen gewannen einen fieberhaften Charakter, die Massen konnten nicht folgen. Der Mangel an Selbstsicherheit übertrug sich auch auf das Proletariat, das im entscheidenden Augenblick sich weigerte zu kämpfen. Die Partei hat es versäumt, zu Beginn der neuen Phase (Mai–Juni 1923) sich vom Automatismus ihrer vorherigen Politik zu befreien, in der sie sich für alle Ewigkeit eingerichtet zu haben schien. Sie hat es versäumt, in ihrer Agitation klar die Organisation, die Technik, das Problem der Machtergreifung zu stellen.
Erich Wollenberg, der während der Münchener Räterepublik Kommandeur der Infanterie der Armeegruppe Dachau war und unter dem Namen „Walter“ einen im Mai 1923 im Zusammenhang mit einem Generalstreik im Ruhrgebiet spontan ausgebrochenen bewaffneten Aufstand in Bochum leitete, schreibt: (in: Der bewaffnete Aufstand, S. 34): „Eine der Ursachen der Niederlagen der deutschen Revolution 1923 lag darin, dass die Kommunistische Partei Deutschlands viel zu spät den Kurs nahm auf die unmittelbare Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes. Das Nahen einer unmittelbar revolutionären Situation in Deutschland hätte, wäre eine bolschewistische Führung unserer Partei vorhanden gewesen, diese zweifelsohne schon im Augenblick der Besetzung des Ruhrgebietes und des Rheinlands durch die französischen Truppen, oder unmittelbar nach ihr, voraussehen können.
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Eben von diesem Moment ab setzte die einschneidende wirtschaftliche und die durch sie hervorgerufene politische Krise in Deutschland ein. Eben damals bereits wurde in mehreren Bezirken Deutschlands (Sachsen, Halle, Merseburg u.a.) auf Initiative der Arbeiter selbst mit der Organisierung der proletarischen Kampfhundertschaften begonnen. Demgegenüber nahm das ZK der Kommunistischen Partei den Kurs auf die Bewaffnung der Arbeiter, auf den bewaffneten Aufstand, erst während des dreitägigen Generalstreiks Anfang August, der die (deutschnationale) Regierung Cunos hinwegfegte, man hatte sich beträchtlich viel Zeit entgehen lassen...
Unsere Kommunistische Partei, richtiger ihre Führung, hat die Bedeutung der Besetzung des Ruhrgebietes und des Rheinlandes durch Frankreich nicht rechtzeitig erkannt, sie hat die Bedeutung der im Zusammenhang damit für die deutsche Wirtschaft eingetretenen Verluste von 80 Prozent der Eisen- und Stahlerzeugung und 71 Prozent der Kohle sowie die Bedeutung der Politik des ‚passiven Widerstands‘ der deutschen Regierung gegen die Besatzungsmächte nicht erfasst. Infolgedessen vermochte sie das Nahen der Wirtschaftskrise im Lande, die in ihrem Gefolge die revolutionäre Krise auslöste, nicht rechtzeitig vorauszusehen.“
Die Lehren der Erfahrung von 1921, von 1923, aus der Räterepublik in Bayern, der November-Revolution 1918/19 – aber insbesondere auch aus der katastrophalen kampflosen Niederlage von 1933 – dürfen nicht vergessen werden.
Sie bezeugen einerseits eine Kampftradition der deutschen Arbeiterklasse, die hinter dem revolutionären Elan anderer Länder nicht zurücksteht. Nur wenn wir die Erinnerung an diese wachhalten, können wir hoffen, dass sie in ähnlich kritischen Situationen zu neuem Leben auferstehen wird.
Sie bezeugen aber auch die Bedeutung einer revolutionären Führung, die aufgrund einer sorgfältigen Einschätzung der Kräfteverhältnisse sich weder zu forschen Abenteuern hinreißen lässt, noch auch davor zurückschreckt, sich auf einen Kampf einzulassen, wenn dieser nicht die Gewissheit, aber die Chance zum Sieg bietet.
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 362/363 (Dezember 2001). | Startseite | Impressum | Datenschutz