Einschätzung der Sozialdemokratie oder Rechthaberei?

Eine Antwort auf den Beitrag von B.B. in der Inprekorr 369 / die internationale 7/2002, S. 19ff ("Vom sozialistischen Reformismus zum Sozialliberalismus. Die Nachkriegs-SPD auf dem Weg in die Große Koalition von 1966")

Manuel Kellner und Thies Gleiss

Der Genosse B.B. schreibt seit einiger Zeit regelmäßig Artikel für "Avanti", "Inpekorr" oder interne Rundschreiben, in denen er sich an einer eigenen politischen Bewertung der Sozialdemokratie versucht und gleichermaßen politische Positionierungen zu dieser Frage in der Geschichte unserer Bewegung referiert. Sein Beitrag in der letzten Inprekorr ist breit angelegt, bleibt aber leider trotzdem oberflächlich.

Auch wenn jede politische Polemik und Debatte, in früheren Zeiten wie auch heute, ihre eigenen Merkwürdigkeiten kannten und kennen, die nur aus den Umständen der Zeit zu erklären und zu genießen oder zu veralbern sind, so glauben wir dennoch, dass eine richtige politische Position zur Sozialdemokratie, wie zu anderen politischen Strömungen der Arbeiterbewegung, zu den wichtigsten Schlüsselfragen jeder linken Organisation und Politik gehört. Auch wenn der Genosse B.B. in seiner Analyse so tut, als ob er nur eine beiläufige Selbstverständlichkeit über den Charakter der SPD verkünde, die schon lange bekannt und unumstritten wäre, so belegt die Existenz seines Beitrages im Grunde schon das Gegenteil. Die "Sozialdemokratie" ist in der linken Debatte niemals "für immer erledigt und geklärt", sondern sie taucht im konkreten Gang der Klassenkämpfe, der politischen Diskussionen diverser oppositioneller Bewegungen und linker Intellektueller immer wieder auf, immer wieder neu und in aktuellen Farben.

In diesem Sinne begrüßen wir den Beitrag in der Inprekorr, teilen aber wesentliche Einschätzungen daraus so wenig, dass wir uns hier kritisch mit ihnen auseinandersetzen und unsere konträre Position darstellen wollen.

Dazu gehört ausdrücklich nicht eine ärgerliche Albernheit von B.B., die in seinem Artikel aber so breiten Raum einnimmt, dass wir sie hier leider erwähnen müssen: die Anhänger der SPD-Position, in deren Tradition sich B.B. sieht, sind allgemein in der Geschichte des revolutionären Marxismus, der Vierten Internationale und noch besonderer deren deutscher Organisation Gruppe Internationale Marxisten nicht außergewöhnlich widerständig gewesen gegen "Rechtsentwicklung", Sozialdemokratisierung und persönliche Demoralisierung, so wie sein Genosse Heiko aus vergangenen GIM-Zeiten behauptet. Das Gegenteil davon ist richtig: die durch eine sterile, wirklichkeitsfremde und sektiererische Analyse der Sozialdemokratie erreichte Immunisierung hat in den betreffenden Kreisen geradezu erstaunlich wenig Langzeitwirkung erzielt. Nicht eine einzige Gruppierung der Arbeiterbewegung, die meinte, sie könne es sich erlauben, auf eine besondere politische Taktik gegenüber der Sozialdemokratie zu verzichten, hat nennenswert lange überlebt, und die tapferen KämpferInnen des "Duisburger Kreises" aus der GIM sind in Wahrheit mehr als die anderen von den Heimholungen der Realität gebeutelt worden.

Wir können aber auch nicht auf alle diskussionswürdigen Aspekte des Beitrags von B.B. eingehen und beschränken uns hier auf das Wesentliche.

Die triumphierende Anführung eines einzigen Trotzki-Zitats aus dem Jahr 1932 ("Die Sozialdemokratie ist, ungeachtet ihres Arbeiterbestandes, eine vollständig bürgerliche Partei ...") ist natürlich keine Analyse, sondern nur eine, zudem ziemlich unernste, Reklamation angeblicher Orthodoxie. Mit ein wenig Fleiß könnte der Genosse B.B. eine Unzahl von Zitaten anführen, in denen Trotzki oder auch Lenin oder sonst wer die Sozialdemokratie (seit 1914) eine "vollständig bürgerliche Partei" nennen. Unabsehbar viele Zitate können aber auch zusammengetragen werden, in denen sozialdemokratische Parteien (nach 1914) ebenso umstandslos "Arbeiterparteien" genannt werden. Im so genannten "Übergangsprogramm" von 1938 (immerhin Gründungsdokument unserer IV. Internationale) steht zum Beispiel: "Das spanische Proletariat hat seit April 1931 eine Reihe heroischer Versuche unternommen, die Macht in seine Hände zu nehmen und die Geschicke der Gesellschaft zu bestimmen. Jedoch haben seine eigenen Parteien (Sozialdemokraten, Stalinisten, Anarchisten und die POUM), jede auf ihre Weise, die Rolle eines Hemmschuhs gespielt und damit den Triumph Francos vorbereitet." Wie das? Die Sozialdemokratie eine "eigene Partei des Proletariats"? Aber sie ist doch "ungeachtet ihres Arbeiterbestandes vollständig bürgerlich"?

In bestimmten Zusammenhängen werden die sozialdemokratischen Parteien "rein bürgerlich" genannt und in anderen Zusammenhängen werden sie "Arbeiter- "Parteien oder "proletarisch" genannt. Auf die Spur führt vielleicht die Formel von den "labor lieutenants of capital", die Lenin von dem US-amerikanischen Sozialisten Daniel DeLeon übernahm; so nannten sie die sozialdemokratischen Führer, eben nicht einfach bürgerliche Politiker, sondern bürgerliche Arbeiterführer (Offiziere des Kapitals in der Arbeiterbewegung, könnte man vielleicht sagen). Bei diesem Ansatz geht es nicht darum, bis zu welchem Grad die Sozialdemokratie verbürgerlicht ist (dass sie politisch vollständig verbürgerlicht ist, unterliegt keinem Zweifel), sondern um die besondere Rolle, die sie für den Erhalt des bürgerlichen Systems spielen kann, eben weil sie aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen ist und noch immer entsprechende Wurzeln in der Gesellschaft hat (Mitgliedschaft, Wählerschaft, Verbindung mit der Gewerkschaftsbürokratie etc.). Um zu verstehen, was das bedeutet, führt ein Trotzki-Zitat wie das von B.B. angeführte geradezu in die Irre. Es stammt außerdem aus einer Zeit, in der die AnhängerInnen Trotzkis gerade begannen, in derart charakterisierten sozialdemokratischen Parteien eine "entristische" Taktik zu verfolgen. Die empirische Tatsache eines "Arbeiterbestandes" (egal wie überwiegend er in Mitgliederbasis und Wählerschaft ist) ist ein rein soziologischer Tatbestand und besagt als solcher überhaupt nichts. Eine Partei kann zu 90% aus Arbeiterinnen und Arbeitern bestehen oder zu 90% von Arbeiterinnen und Arbeitern gewählt werden, ohne unter die einschlägige Kategorie zu fallen. Eine populistische Partei mit "antiimperialistischem" Profil in einem Drittweltland zum Beispiel kann eine überwiegend proletarische Basis haben, ohne dass sie den gleichen Charakter hätte wie eine sozialdemokratische Massenpartei.

Worum es in solchen Diskussionen in der revolutionär-marxistischen Linken immer geht, ist eigentlich die Frage, wie man sich taktisch gegenüber solchen Parteien verhalten soll. Die dialektisch angelegte Formel von der "bürgerlichen Arbeiterpartei" zielt über soziologische Tatbestände hinaus darauf ab, den Zusammenhang bürgerlicher Arbeiterpolitik mit einem gewissen (widersprüchlichen, verschwommenen, unklaren) Stand des Klassenbewusstseins der entsprechenden proletarischen Basis hervorzuheben. Das hat zur Konsequenz, dass gegenüber solchen Parteien zumindest im Prinzip das taktische Arsenal der Einheitsfrontpolitik in Anwendung gebracht werden muss, gestützt auf den Anknüpfungspunkt, den dieses Bewusstsein bietet, das die Sozialdemokratie für sich ausbeutet, um der herrschenden Klasse auf spezifische Weise dienlich sein zu können (sich an die Spitze von Bewegungen setzen, um ihnen die Spitze zu brechen, Unmut aufgreifen, um ihn in die Bahnen des Bestehenden zu lenken, sich auf das Interesse der eigenen lohnabhängigen Basis berufen, um das Interesse des "eigenen" bürgerlichen Nationalstaats zur Geltung zu bringen, usw.). Auch eine kleine Gruppe, die wenig mehr als Propaganda machen kann, wird dies zumindest bei ihrer Argumentationsweise mit berücksichtigen.

Die Sozialdemokratie hat in diesem Sinne einen Doppelcharakter. Sie ist ein Produkt aus im wesentlichen vier Faktoren: Erstens der politischen Rückständigkeit des Arbeiterbewusstseins (die nach der verheerenden Niederlage durch den Faschismus, dessen Mission im Rahmen der bürgerlichen Herrschaftsstrategie gerade darin bestand, die KPD und SPD zu zerschlagen, und in unmittelbarer Nachbarschaft des stalinistischen Zerrbildes des Sozialismus im Nachkriegsdeutschland besonders ausgeprägt ist); zweitens der realen Existenz von partiellen Errungenschaften, die das konkrete Leben der gesamten Klasse verbessern und die tatsächlich und noch mehr in den Köpfen der ArbeiterInnen mit der Sozialdemokratie, Massengewerkschaften und Betriebsräten verbunden sind; drittens der bewussten verräterischen Politik von bestochenen und gekauften Funktionären, Wasserträgern der herrschenden Klasse und eben Unteroffizieren des Kapitals in den Betrieben, Parlamenten, Stadtteilen und Selbstverwaltungsstrukturen; und schließlich viertens der Existenz oder Nichtexistenz einer glaubwürdigen linken Alternative, die in der Lage ist, die Sozialdemokratie abzulösen und entscheidend zur Radikalisierung des Bewusstsein der Arbeiterklasse beizutragen. Wie "bürgerlich" oder wie "proletarisch" die Sozialdemokratie ist, hängt vom dialektischen Zusammenspiel dieser Faktoren ab. Geschriebene Programme, personelle Zusammensetzung der sozialdemokratischen Partei im engeren Sinne und persönliche Führerbiographien sind nur Ausdruck dieses Zusammenspiels.

Seit der Debatte in der GIM ist ziemlich viel Wasser den Rhein und auch die Ruhr hinunter geflossen, und der Integrationsprozess der SPD, die schon seit langem so bürgerlich ist, dass es eigentlich bürgerlicher nicht mehr geht, oder, um mit Rosa Luxemburg zu sprechen, ein Leichnam, der seit 1914 zum Himmel stinkt und dennoch auch heutzutage jährlich stinkiger wird, dieser Integrationsprozess der SPD in die bürgerliche Gesellschaft ist also doch noch weitergegangen. B.B. beruhigt sich seit Jahren selbst darüber mit seinen terminologischen Turnübungen: "vom sozialistischen Reformismus zum Sozialliberalismus". Das besagt überhaupt nichts und klärt noch weniger. "Sozialistischer Reformismus" ist nichts anderes als vollständig bürgerliche sozialdemokratische Politik, bloß dass sie noch mit einer proletarischen Basis rechnen muss, deren Bewusstsein insofern sozialistisch ist, als es das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus beinhaltet. Was B.B. "Sozialliberalismus" nennt, egal ob auf der Basis des Godesberger Programms oder auf der Basis der Großen Koalition und dann der sozialliberalen Koalition, ist auch bürgerliche Politik einer Sozialdemokratie, mit dem Unterschied, dass das Bewusstsein der Basis, mit der sie rechnen muss, das sozialistische Ziel nicht mehr einschließt. Es beschränkt sich darauf, eine politische Vertretung der abhängig Beschäftigten haben zu wollen, die im Rahmen des Systems und im Rahmen der wirklichen und vorgeblichen Sachzwänge dieses Systems die Interessen der abhängig Beschäftigten zur Geltung bringt oder zumindest mehr berücksichtigt als die "normalen" bürgerlichen Parteien. Das versuchte Ernest Mandel als "politisches Klassenbewusstsein" auf den Begriff zu bringen, im Gegensatz zu einem sozialistischen Klassenbewusstsein einerseits und einem nur-gewerkschaftlichen und politisch rein bürgerlichen Bewusstsein andererseits.

Um zu verstehen, was sich in der SPD in den letzten 25 Jahren geändert hat und in welchen Etappen und welche Bedeutung das für Revolutionäre heute hat, muss von diesen grundsätzlichen Klassenbeziehungen zur SPD ausgegangen werden. Andernfalls gelangt man schnell zu Verschwörungs- und Verratstheorien und sektiererischen Reklamationen im Stile von "die SPD ist so, weil ich sie so bezeichne".

Alleine schon der Konflikt, der sich mit den Schlagworten "New Labour" (oder "Blairismus") contra "Old Labour" seit einigen Jahren vor unseren Augen abspielt, zeigt, dass der Loslösungsprozess der Sozialdemokratie von ihren historischen Wurzeln noch immer nicht ganz abgeschlossen ist. Sonst hätten die entsprechenden Konflikte und Prozesse keinen Sinn. Und es steht etwas dabei auf dem Spiel. Weitere Lockerungen der Verbindung mit der Gewerkschaftsbürokratie, noch weniger erkennbare Unterschiede zur Politik der Konservativen und Liberalen usw. könnten bis zum Punkt führen, an dem sozialdemokratische Parteien ihre spezifische Funktion für die Verteidigung bürgerlicher Herrschaft und bürgerlicher Verhältnisse im Rahmen bürgerlich-parlamentarischer Demokratien verlieren. Niemand kann voraussehen, ob die auf diesem Weg auftauchenden Widersprüche und Zerreißproben nicht zu Krisen führen, zu Linksabspaltungen oder zum Übertritt sozialdemokratischer Gewerkschaftsaktiver in parteipolitisch linke Neugründungen, und sei es in bescheidenem Umfang von einigen Tausend oder Zehntausend Aktiven. Niemand wird behaupten, dass von einer normalen bürgerlich-konservativen oder bürgerlich-liberalen Partei so etwas zu erwarten ist.

Ebenso wenig wäre umgekehrt vorstellbar, was als Sterbeglöcklein der Kohl-Regierung geläutet hatte: eine Demonstration Hunderttausender Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter mit dem Hauptinhalt "Kohl muss weg" und der -- freilich trügerischen -- Hoffnung auf einen wirklichen Politikwechsel. Typisch ist jedoch, dass sogar diese SPD-Führung einige soziale Reformen (bzw. Rücknahmen von Konterreformen) versprechen und sogar durchführen musste, und dass die Schröder-Regierung das "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" installierte. Sie zeigte damit, dass die SPD noch immer für die integrative Variante bürgerlicher Politik steht, die der Einbindung der Gewerkschaften. Inzwischen haben sich wegen der extremen Anpassung an den Neoliberalismus erste Haarrisse im Apparat gezeigt, als ein Teil der Gewerkschaftsbürokratie den mangelnden Politikwechsel beklagte, Zusammenarbeit mit Attac ankündigte und andeutete, man könne zu den Bundestagswahlen nicht mehr so für die SPD trommeln wie früher. Bezeichnender Weise reagierte die Schröder-Führung darauf, brachte ein paar kosmetische Korrekturen an ihrer Wahlplattform an und erreichte, dass die genannten Gewerkschaftsführer wieder zurückruderten und die übliche Wahlkampfhilfe nun doch leisten (wohl vergeblich). Geblieben ist die Mobilisierung am 14.9., wo fünf Jugendverbände von DGB-Gewerkschaften zusammen mit Attac mobilisieren "dürfen", nicht gegen Stoiber und für Schröder, sondern gegen Sozialabbau und Privatisierungsorgien, für eine andere, sozialere Politik usw. Alle diese Vorgänge zeigen, dass die SPD ihre Besonderheiten im Vergleich mit Unionsparteien und FDP eben doch noch nicht los ist.

Es hat auch in der "Nach-Godesberg-Geschichte" keine Grabesruhe in Deutschland gegeben. Die Jugendrevolte der späten 60er Jahre hat die Gesellschaft erschüttert und mit ihr die erste bürgerliche Notfallregierung "Große Koalition" von 1966. Die SPD hat mit erstaunlich geringen kollektiven Anstrengungen die Rebellion zurück ins Reich "der Demokraten" geholt. 300.000 neue Mitglieder für die "völlig verbürgerlichte SPD" hat diese Kanalisierung der Protestbewegung gebracht, wie viele waren es neben Möllemann noch bei der CDU? Und den hat später auch noch die FDP geholt. Die Anti-AKW-Bewegung und die verschiedenen Etappen der Anti-Aufrüstungsbewegung wurde von der SPD kanalisiert, nicht von einer anderen bürgerlichen Partei. Im Gegenteil: die scheinbar klassenunspezifische Ökologiefrage hat selbstverständlich auch in den anderen bürgerlichen Parteien mächtig hineingewirkt. Nur bewegte sie dort fast durchweg kleine Grüppchen der Parteirechten, während der gleiche Hintergrund bei der SPD für ein ganzes Jahrzehnt zu einer starken Parteilinken führte. Die achtziger Jahre wurden speziell in Deutschland durch eine neue Linkspartei, die Grünen geprägt. Wer hat sie gezähmt mit den Börner´schen Dachlatten und der Lafontain´schen Liebelei? Die SPD, die wiederum heute, wo die Grünen komplett domestiziert wurden, mehr als Zweidrittel ihrer Mitgliedschaft ausgetauscht hat und deren alte Führungsclique über sich selbst die Nase rümpft, mit Argusaugen und Heimholungsauftrag auf das nächste Projekt, die PDS losgeht. Hätten diesen Aufgaben von einer beliebig anderen bürgerlichen Partei erledigt werden können?

Die Realität der SPD ist dabei sicherlich heute eine andere als noch Mitte der 70er Jahre. Eine politisch aktive Mitgliedschaft an der Basis, in den Ortsverbänden, die auf Parteiversammlungen kommt und am Leben einer Partei teilnimmt, die sie gewissermaßen als politischen Arm der Gewerkschaften oder als politische Interessenvertretung der Lohnabhängigen und überhaupt der "kleinen Leute" im Gegensatz zum Kapital oder zu "den Reichen" ansieht, ist nun wirklich eine Ausnahme geworden -- obwohl es das immer noch mehr gibt, als viele Schnelleinschätzer vom Schlage des Genossen B.B. es glauben mögen. Dafür spricht etwa die lebendige Erfahrung, die wir in Köln machen. Noch immer gibt es außerdem am Rande der "schröderisierten" Partei der Mitte, so im Kölner Juso-Milieu, Diskussionen und Widerstände, die es in der CDU oder in der FDP mit vergleichbaren (vor allem sozialen) Inhalten nicht geben könnte. Wir haben auch mitbekommen, dass der Durchmarsch der Schröderianer ein Kampf war, vor allem im proletarischen Bereich der verbliebenen Großbetriebe, wie hier bei Ford in Köln. Diesen Kampf haben die schröderistischen New-Labour- und Neue-Mitte-Fritzen so gut wie gewonnen -- aber eben nicht ganz vollständig. Niemand weiß, ob es nicht, nach verlorener Bundestagswahl etwa, ein neues Aufleben von "Old Labour" im Verbund mit vergleichsweise neuen, durch "Attac" zu linkeren reformistischen Ideen angeregten Kräften kommen könnte.

Und der "Genosse der Bosse", Gerhard Schröder, war er nicht ebenso wie Helmut Schmidt nur für kurze Zeit der Darling des Kapitals? Wirft die bürgerliche Klasse diesen Herren nicht permanent vor, die falsche Partei an den Hacken zu haben? Alle diese und vergleichbare Prozesse, die real sind, wo gerungen wird, wo Köpfe rollen, wo in Betrieben, Stadtvierteln und Verwaltungen Leute den Platz anderer einnehmen und andere Sitten einführen usw., haben im Schema von B.B. keinen Platz, weil in diesem Schema alle Katzen grau sind.

Wir erinnern nur daran: Linksentwicklungen und Politisierung des Arbeitermassenbewusstseins sind in Verhältnissen, wie denen in Deutschland, immer nur entstanden, wenn die Sozialdemokratie in Regierungsverantwortung war, was eben am besagten Doppelcharakter der Partei liegt. Solange sie ihn nicht losgeworden ist, spricht vieles dafür, dass das auch in Zukunft so sein wird. Wem solche Linksdifferenzierungen etwas wert sind, wer nicht an das Herabfallen einer "neuen SAP" vom Himmel glaubt, der sollte mit Theorien, denen gemäß alle bürgerlichen Parteien, alle bürgerlichen Herrschaftsstrategien und alle Personalien der Bourgeoisie gleich seien, sehr vorsichtig sein.

Auf diesen Beitrag erschien eine Entgegnung in Inprekorr 372.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 370 (September 2002).