Die Gen. Manuel und Thies nahmen in der letzten Inprekorr den historischen Beitrag zur SPD-Geschichte von B. B. "Vom sozialistischen Reformismus zum Sozialliberalismus" aus der IPK/Internationale Juli/August 2002 zum Anlass, um ihre Haltung zur SPD heute zu erläutern. Das ist positiv, denn es ist unseres Wissens seit einem Jahrzehnt das erste Mal, dass von den GenossInnen ihrer Tradition versucht wird, eine zeitgemäße Einschätzung der SPD zu leisten. Allerdings wiederholen Manuel und Thies im Wesentlichen nur die Positionen der Pro-SPD-Mehrheit-Position der GIM aus den 70er/ 80er Jahren und übertragen sie auf heute.
Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist nicht starr. Sie verändert sich und mit ihr die Parteienlandschaft, die Teil dieser Wirklichkeit ist. Wäre dem nicht so, dann müssten wir das zentrale Moment des dialektischen Materialismus revidieren, ja die gesamte Methode von Marx würde in sich zusammenbrechen und wir sollten uns schnell bemühen, Abstand von Marx zu gewinnen und Zuflucht in der Metaphysik1 suchen.
Die methodische Differenz, die wir mit Thies und Manuel haben, offenbart sich dort, wo diese Genossen eine Formel ("eine rein bürgerliche Arbeiterpartei") als für alle Ewigkeit gültige und nützliche Charakterisierung der SPD benutzen. Diese "Formel" soll einen Zwittercharakter beschreiben, der für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich gegeben war: Die Partei wurde von ihren Mitgliedern und von der politischen Öffentlichkeit als ArbeiterInnenpartei bzw. als sozialistische Partei begriffen und behandelt, gleichzeitig basierte ihre Politik auf der Akzeptanz des herrschenden Systems, ihre Politik war real "durch und durch bürgerlich".
In jener Zeit ging es um einen gewissen Gegensatz zwischen Mitgliederbasis und sozialistischem Anspruch auf der einen Seite und der politischen Wirklichkeit auf der anderen. Aber selbst damals -- Anfang des 20. Jahrhunderts (dramatisch zutage getreten mit der Bewilligung der Kriegskredite am 4. August 1914) bis in die 50er Jahre -- gab es eine ständige Veränderung dieser Partei. MarxistInnen konnten sich in ihrer konkreten Analyse nie mit der Wiederholung einer Formel begnügen. So hat Trotzki zwar die seinerzeit noch wirklich bedeutsame ArbeiterInnenbasis als Grundlage für seine Aufforderung zur Einheitsfront angesehen, seine politische Kritik an der "bürgerlichen" SPD war jedoch sehr scharf und ohne jede Zweideutigkeit. An keiner Stelle hat er auch nur ansatzweise den Gedanken verfolgt, man könnte zur Wahl der SPD aufrufen.
Schon in den zwanziger Jahren, und mehr noch danach, schritt die Integration der SPD in das bürgerliche System fort. Einer der sehr weitreichenden Schübe in diesem geschichtlichen Prozess wurde durch Faschismus und Krieg bewirkt. B. B. hat in seinem Beitrag (Inprekorr 369, Juli-August 2002) bedeutsame Momente für eine konkrete Analyse beigetragen (u.a. die Beleuchtung des Verzichts auf die Wiedergründung wesentlicher Teile des sozialdemokratischen Organisationslebens nach dem zweiten Weltkrieg).
Mit anderen Worten: Nur weil die Entstehungsgeschichte der SPD eine andere ist als etwa die der Demokratischen Partei in den USA oder der PeronistInnen in Argentinien, nur weil ein paar Spurenelemente des früheren Zustands an vereinzelten Stellen noch vorhanden sind, ist nicht der Charakter der Partei der gleiche geblieben. Wer nicht bereit ist, zuzugestehen, dass bestimmte Entwicklungen ab einem gewissen Punkt in eine neue Qualität umschlagen, versperrt sich den Zugang zur nüchternen Analyse der Wirklichkeit.
"Der große Grundgedanke der materialistischen Dialektik besteht darin, dass die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge, nicht minder wie ihre Gedankenbilder in unsrem Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt.2 "
Wenn wir den Klassencharakter einer Partei beurteilen, wenn wir sie politisch analysieren, dann gehen wir folgenden Fragen nach: Wer hat das Sagen in der Partei? Wie verstehen die KollegInnen im Betrieb die SPD? Wie versteht die Partei sich selbst? Welche Politik macht sie?
Geht aus der Beantwortung auch nur einer einzigen dieser Fragen hervor, dass die SPD, politisch eine ArbeiterInnenpartei ist? Dass sie es soziologisch schon lange nicht mehr ist, wird heute nur von DogmatikerInnen bestritten. B. B. hat in seinem Beitrag wesentliche Fakten bei der soziologischen Veränderung angeführt, die hier nicht wiederholt werden sollen.
Viel wichtiger ist die Frage: Gibt es eine politische Grundlage, die SPD heute noch als eine ArbeiterInnenpartei zu bezeichnen? Ist es nicht so, dass nicht nur die SPD-Führung, sondern auch der allergrößte Teil der Gesamtpartei es weit von sich weisen würde, sich als eine ArbeiterInnenpartei zu bezeichnen? Nicht nur im Bundestag, sondern bei buchstäblich allen Gelegenheiten wird betont, dass man eine Volkspartei sei und auch also solche gesehen werde (was auch stimmt). Und die reale Politik? Wer kann bestreiten, dass die SPD neoliberale Politik betreibt?
Die Sozialdemokratie ist nach Manuel und Thies "ein Produkt aus im wesentlichen vier Faktoren": "der Rückständigkeit des Arbeiterbewußtseins", "Errungenschaften" die "in den Köpfen der ArbeiterInnen mit der Sozialdemokratie [...] verbunden sind", dem Verrat der SPD-FunktionärInnen und der "Nichtexistenz einer glaubwürdigen linken Alternative". Konkrete Untersuchungen dieser vier Punkte legten Gen. Manuel und Thies nicht vor. Sie ersparten sich auch eine Analyse der Entwicklung von Programm, Organisation, der Beziehungen zur ArbeiterInnenklasse, ihrer sozialer Zusammensetzung, des Bewusstseins der Mitgliedschaft, von Politik und Geschichte der SPD. So bleiben ihre Behauptungen ohne jeden Beleg, außer der Berufung auf die "lebendige Erfahrung, die wir in Köln machen."
Die beiden Genossen Manuel und Thies sprechen von einer "besonderen Rolle, die sie [die SPD] für den Erhalt des bürgerlichen Systems spielen kann, eben weil sie aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen ist und noch immer entsprechende Wurzeln in der Gesellschaft hat (Mitgliedschaft, Wählerschaft, Verbindung mit der Gewerkschaftsbürokratie etc.)". Leider wird gerade das nicht mit einer empirischen Analyse untermauert, wo denn genau diese Wurzeln heute noch in welchem Ausmaß vorhanden sind. B.B. hatte gerade in seinem Beitrag Material geliefert und analysiert. Dagegen stellen Manuel und Thies nur alte Beschwörungen: "Die dialektische Formel von der ‚bürgerlichen Arbeiterpartei‘ zielt über soziologische Tatbestände hinaus darauf ab, den Zusammenhang bürgerlicher Arbeiterpolitik mit einem gewissen (widersprüchlichen, verschwommenen, unklaren) Stand des Klassenbewusstseins der entsprechenden proletarischen Basis hervorzuheben". Das soll dialektisch klingen, ist aber durch nichts untermauert. Im Grunde läuft der "ArbeiterInnen"charakter auf die Behauptung hinaus, dass es eine proletarische Basis gibt. Worin sie konkret besteht, wird nicht mal ansatzweise versucht zu verdeutlichen.
Greifen wir aber zunächst die zentralen Kategorien von Manuel und Thies auf:
Zur politischen Begründung führen Manuel und Thies an: Die SPD ist Produkt der "politischen Rückständigkeit des Arbeiterbewusstseins." Wir dagegen meinen: Die nicht-sozialistische Politik der SPD mit der Rückständigkeit der ArbeiterInnenklasse zu begründen, ist nichts anders als Tautologie. Was bedeutet denn die "politische Rückständigkeit der Arbeiterbewusstseins"? "Hinter dem Bewusstsein der Klassen stehen die Klassen selbst, ihre zahlenmäßige Stärke, ihre Rolle im wirtschaftlichen Leben. Hinter den Klassen steht ein spezifisches Produktionssystem, das wiederum durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte bestimmt ist"3 . Warum dann nicht erklären, fragen wir in Anlehnung an Trotzki, dass die nicht-sozialistische Politik der SPD durch den niedrigen Stand der Technologie bestimmt ist?
In Wirklichkeit geht es um die Frage der Verantwortung für die nicht-sozialistische Politik der SPD. Und die liegt nicht bei der ArbeiterInnenklasse, bei ihrem niedrigen Stand des Klassenbewusstseins, sondern bei der Partei selbst und ganz speziell bei den jeweiligen SPD-Führungen. Ursprünglich aus dem fortgeschrittensten Teil des Proletariats herausgehoben, kamen sie in einer Gesellschaft, die in Klassen aufgeteilt ist, immer mehr unter den Einfluss fremder Klassen d.h. erst der Klein- und schließlich der Großbourgeoisie.
Zudem ist die ArbeiterInnenklasse in Schichten gegliedert und weist, je nach historischem Stand, verschiedenste Bewußtseinsschichtungen auf. War etwa die SPD 1913 das Produkt fortgeschrittenen ArbeiterInnenbewusstseins, aber 1914 Produkt seiner Rückständigkeit? War die SPD 1918/19 und ihre Politik gegen die Revolution auch ein Produkt der "politischen Rückständigkeit des ArbeiterInnenbewusstseins"?
Wenn die Genossen die "Rückständigkeit des Arbeiterbewußtseins" und die "Errungenschaften" in den Köpfen der ArbeiterInnen (die angeblich mit der Sozialdemokratie verbunden sein sollen), hervorheben, dann deuten sie eigentlich nur auf die marxistische ABC-Weisheit hin, wonach das Bewusstsein der ArbeiterInnenmasse widersprüchlich ist. Der "Doppelcharakter" des ArbeiterInnenmassenbewusstseins ist aber noch lange kein Beweis für den Doppelcharakter der SPD. Indem sie vom Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse auf den Charakter der SPD schließen, landen sie ungewollt bei der klassischen These der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratie, die immer schon zu ihrer Entschuldigung wusste, dass sie und die Sozialdemokratie ja nur das Bewusstsein und den Willen der ArbeiterInnenklasse ausdrücke. Sie, die GewerkschaftsbürokratInnen, wollten und würden ja anders, wenn nur die ArbeiterInnen wollten und ein entsprechendes politisches Bewusstsein hätten. Und da das der ArbeiterInnenklasse ja abgehe, müssen sie alle leider, leider in ihrem klassenversöhnlerischen Trott weitermachen wie bisher.
Die "partiellen Errungenschaften" 4 im Kapitalismus werden nach Manuel und Thies "in den Köpfen der ArbeiterInnen mit der Sozialdemokratie, Massengewerkschaften und Betriebsräten verbunden". Dies stimmt heute sicherlich noch in Bezug auf die Gewerkschaften, in Bezug auf die Betriebsräte schon etwas weniger (je nach Betrieb unter Umständen auch mehr als für die einschlägige Gewerkschaft), aber für die SPD stimmt es gerade nicht mehr, und zwar nicht erst seit gestern. Die realen Erfahrungen sind, dass die SPD z.B. den Systembruch in der Rentenversicherung eingeleitet hat. Die angekündigten Gesetze im Rahmen des Hartz-Konzeptes werden die SPD gerade für die aktiven GewerkschafterInnen, für klassenkämpferische KollegInnen zu einem noch offeneren Gegner machen. Die SPD wird mittlerweile mit dem Führen von zwei Kriegen verbunden. Wie das mit dem nächsten Golfkrieg wird, werden wir noch sehen. Zu unterstellen, die KollegInnen verbinden irgendwelche Verbesserungen heute noch mit der real existierenden SPD, ist nur vor dem Hintergrund eines gut gepflegten Schematismus nachvollziehbar.
Wenn klassenbewusste KollegInnen -- sie sind für SozialistInnen die wichtigste Bezugsgruppe -- heute eher Schröder als Stoiber wählen (und nicht die PDS oder gar revolutionäre KandidatInnen), dann wählen sie Schröder als das kleinere Übel, so wie ihre KlassenkollegInnen in den USA Al Gore als das kleinere Übel gegenüber Bush gewählt haben.
Als dritten Faktor in dem angeblich heute noch existierenden "Doppelcharakter der SPD" sehen Manuel und Thies die "bewusste und verräterische Politik von bestochenen und gekauften Funktionären, Wasserträgern der herrschenden Klasse und eben Unteroffizieren des Kapitals in den Betrieben, Parlamenten, Stadträten und Selbstverwaltungsstrukturen;"
Hier kann der Gegensatz unserer Auffassungen nicht größer sein. Nach unsrem Verständnis ist der Begriff "Korruption" und erst recht der Begriff "Verrat" vollkommen fehl am Platz. Schröder und die anderen SpitzenfunktionärInnen der Partei üben keinen Verrat aus. Sie begreifen sich nicht als Abgesandte der ArbeiterInnenklasse, als Delegierte einer ArbeiterInnenpartei, als Beauftragte zur Verteidigung von ArbeiterInneninteressen. Sie sagen nicht nur, dass dieses das beste aller Systeme ist, sie sind auch -- wie die SPD als Ganzes -- zutiefst davon überzeugt. Sie sind auch von der Notwendigkeit des weltweiten Einsatzes der Bundeswehr genauso überzeugt wie von der Unabwendbarkeit neoliberaler Reformen (genannt "Modernisierung"). Für sie gilt gerade nicht die Vorstellung: Eine andere Welt ist möglich. Im Gegenteil: Sie sagen schon vor der Wahl, dass die Sparpolitik weitergehen muss usw., nur warten sie mit der konkreten Ankündigung der einzelnen Schweinereien bis nach der Wahl.
Keine klassenbewusste Kollegin erwartet von der SPD eine Gesundheitsreform zugunsten der Lohnabhängigen und auf Kosten des Kapitals (etwa der Pharmaindustrie). Kein klassenbewusster Kollege erwartet ein gesetzliches Verbot von Überstunden oder eine Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, sondern weiß, dass unter Schröder II die Absenkung des Arbeitslosengeldes und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen, die massive Ausdehnung der Leiharbeit und andere Angriffe auf der Tagesordnung stehen. Und unter Stoiber? Der hätte eben auch noch den Kündigungsschutz für die Nicht-LeiharbeiterInnen verschlechtert, wäre also ein "noch größeres Übel". Welche Bedeutung hat aber die Kategorie des kleineren Übels bei der Beantwortung der Frage nach dem Klassencharakter einer Partei?
Laut Manuel und Thies gibt es keine "glaubwürdige Alternative" links von der SPD, "die in der Lage ist, die Sozialdemokratie abzulösen und entscheidend zur Radikalisierung des Bewusstseins der Arbeiterklasse beizutragen. Wie ‚bürgerlich‘ die Sozialdemokratie ist, hängt vom dialektischen Zusammenspiel dieser Faktoren ab".
Soll dies etwa heißen: Weil die ArbeiterInnenklasse in Deutschland mal eine reformistische ArbeiterInnenpartei hatte, muss sie immer eine haben, und wenn es links von der SPD keine ArbeiterInnenmassenpartei gibt, dann ist es eben die SPD? Dies ist schlicht unernst und verweist auf unsre Eingangsbetrachtung. Als revolutionäre MarxistInnen vertreten wir den Standpunkt, dass sich Klassenbewusstsein sehr wohl bis zur Unkenntlichkeit zersetzen kann, dass es sich in einem sehr widersprüchlichen Prozess in der BRD seit Ende der 60er Jahre langsam wieder herausbildet, aber von vielen Rückschlägen begleitet ist, und dass für diese Rückschläge vor allem die Gewerkschaftsbürokratie verantwortlich ist, die als Führung einer Organisation mit tatsächlichem Doppelcharakter die Gegenwehr der Klasse gegen die neoliberalen Angriffe blockiert. Aber ganz bestimmt ist die SPD nicht beteiligt an der Neuherausbildung von Klassenbewusstsein. Dies müsste mensch uns erst einmal konkret nachweisen. Ob auf lokaler Ebene, auf Landes- oder Bundesebene: Die SPD ist ein Repräsentant des herrschenden Systems. Ihr Unterschied zur CDU reduziert sich mehr und mehr darauf, eine minimal andere Variante bürgerlicher Politik zu betreiben und die Lohnabhängigen als Wähler etwas anders anzusprechen als die CDU, was aber nur auf der Ebene der Rhetorik eine Rolle spielt. Die reale Politik setzt nicht an ArbeiterInneninteressen an. Deswegen führt der Begriff "Verrat" vollkommen in die Irre.
Sicher gelingt es der SPD hin und wieder, Proteste zu kanalisieren. Auch das ist kein Markenzeichen von Klassenpolitik oder einer reformistischen Partei. Wenn Protestbewegungen wieder abflachen, die Menschen sich anschließend integrieren und sich irgend welchen Parteien anschließen, dann ist das das normale Geschehen in dieser Gesellschaft, und zwar immer dann, wenn der konkrete Verlauf der Klassenkämpfe rückläufig ist. Sich dann der weniger bornierten, der offeneren und weniger völkischen Partei SPD anzuschließen, ist für diese Menschen dann das Näherliegende als zur CDU zu gehen. Aber hat die SPD in den letzten Jahren von sich aus antikapitalistische Proteste, und sei es nur ganz begrenzte Ein-Punkt-Bewegungen, wirklich gefördert? Sie war doch als Partei schon seit Jahrzehnten nicht mehr Teil dieser Protest- oder Widerstandsbewegungen, sondern nur noch Konkursverwalter ihrer rückflutenden oder demoralisierten Teile. Aufgrund der Laufbahn so mancher SPD-Funktionäre -- aus der Protestbewegung kommend -- können sie diese Aufgabe des "Heimholens" von protestbereiten Kräften sicherlich besser bewerkstelligen als die CDU oder die FDP. Sagt dies etwas aus über die Politik der SPD, über ihre Bereitschaft, an ihrer eigenen Politik (oder gar an dem System) etwas zu ändern und auf ArbeiterInneninteressen einzugehen? Dass einzelne Ortsverbände sich noch ein kleines Refugium für ihre Diskussionen bewahren können (wie Manuel und Thies dies für Köln zu sehen glauben) sagt leider gar nichts über den Charakter der SPD und ihre Politik aus.
Wenn wir die Gen. Manuel und Thies richtig verstehen, führen sie letztendlich ihre These der "bürgerlichen Arbeiterpartei" auf die Funktion der SPD für die ArbeiterInnenklasse zurück. Sie schreiben: "Die dialektisch angelegte Formel von der "bürgerlichen Arbeiterpartei" zielt über soziologische Tatbestände hinaus darauf ab, den Zusammenhang bürgerlicher Arbeiterpolitik mit einem gewissen (widersprüchlichen, verschwommenen, unklaren) Stand des Klassenbewusstseins der entsprechenden proletarischen Basis hervorzuheben". Solange die SPD diese Funktion habe, sei sie eine "bürgerliche Arbeiterpartei". Allerdings hatten im 19. Jahrhundert vor der Sozialdemokratie die liberalen Parteien diese Funktion inne. Deshalb bezeichnete Engels in Britannien die Liberale Partei als "bürgerliche Arbeiterpartei". Es gibt auch Beispiele, dass sich sozialdemokratische Richtungen (Parteien) in liberale Parteien verwandelten. Von den russischen SozialdemokratInnen spaltete sich die Richtung Peter Struves ab, die die Konstitutionellen Demokraten als Partei der liberalen Bourgeoisie begründete. Von den italienischen SozialistInnen spaltete sich die Partei Bissolatis ab, der 1911 die Eroberung des türkischen Libyens durch Italien unterstützte. Die einen wie die anderen wurden von den revolutionären MarxistInnen als bürgerliche Strömungen (Parteien) außerhalb der ArbeiterInnenbewegung angesehen. Wir behaupten nichts anderes, als dass die SPD in den 50er Jahren von einer sozialistisch-reformistischen zu einer sozialliberalen Partei wurde. In den 90er Jahren wandelte sie sich dann von einer sozialliberalen Partei zu einer neoliberalen Partei.
Die Genossen Manuel und Thies ziehen aus ihrer Charakterisierung der SPD als "bürgerliche Arbeiterpartei" eine weitere zentrale Schlussfolgerung für heute. "Das hat zur Konsequenz, dass gegenüber solchen Parteien zumindest im Prinzip das taktische Arsenal der Einheitsfrontpolitik in Anwendung gebracht werden muss,..." Aha! Sollen wir also wie in den 70er und 80er Jahren "im Prinzip" für die Bildung einer SPD-Regierung und zur kritischen Wahlunterstützung der SPD aufrufen?! Neu ist die "Anwendung" des "taktischen Arsenals" nicht. Vor der Bundestagswahl 1998 schrieb Gen. Manuel im Mai ‚97 in dieser Zeitschrift: "Die Mehrheit der Bevölkerung ist heute selbstverständlich nicht für eine sozialistische Umwälzung. Eine demokratisch-sozialistische Kraft darf und muß der Mehrheitsmeinung Konzessionen machen, allerdings ohne den Herrschenden Konzessionen zu machen. Sie muß immer bereit sein, auch für bescheidene Verbesserungen zu stimmen, und auch für eine SPD-Regierung zu stimmen, damit Kohl gestürzt wird". Gen. Manuel rief damit unvorsichtigerweise zur Einsetzung einer kapitalistischen, imperialistischen (SPD)-Regierung auf, um eine andere kapitalistisch-imperialistische (CDU)-Regierung abzusägen. War die so "kritisch unterstützte" SPD-Regierung nicht diejenige, die Deutschland in zwei Kriege führte? Die PDS trug mit der Ratgeberpose am Krankenbett der imperialistischen BRD-Regierung (Erfurter Erklärung) zu ihrer eigenen Demoralisierung und der der sozialistischen Linken bei.
In ihrem Artikel wagen es die Genossen Manuel und Thies nicht, offen für die kritische Wahlunterstützung der SPD und für eine SPD-Regierung aufzurufen. Sie wagen es nicht einmal "das taktische Arsenal der Einheitsfrontpolitik" auszubreiten. Davor scheuen sie heute zurück. Aber eine kritische Wahlunterstützung der SPD ist nur eine Konsequenz der Logik ihrer SPD-Position. Wie wir wissen, will sich die isl in der Zukunft mit dem Thema Sozialdemokratie beschäftigen und eine Einschätzung der SPD erarbeiten. Wir befürchten, dass diese Position in Richtung der von Manuel/Thies d.h. in Richtung der alten Pro-SPD-Mehrheits-Position der GIM gehen wird.
Wen wählen? Wir haben einen "kritischen" Aufruf zur SPD-Wahl früher abgelehnt und lehnten ihn auch im Jahr 2002 ab. Ein Wahlaufruf ist für uns "im Prinzip" nur für eine Partei möglich, die sozialistische Ziele verfolgt. Die SPD ist heute eine sozialliberale, bürgerliche Partei. Ein Aufruf für die Sozialdemokratie wäre, wie kritisch auch immer, eine Stimme für den Klassenfeind und für eine Politik, die sich gegen die ArbeiterInnenklasse richtet. Damit würden die revolutionären MarxistInnen ihre politische Selbständigkeit aufgeben.
Die PDS hat im Unterschied zur SPD noch einen "Doppelcharakter". Einerseits ist sie zunehmend in den bürgerlichen Staatsapparat integriert, andererseits besitzt sie (noch) ein abgeschwächtes sozialistisches Programm. Theoretisch könnten wir das sozialistische Ziel der PDS kritisch unterstützen. Aber wir sehen einen Wahlaufruf nicht nur "im Prinzip". Die PDS hat in den letzten Jahren eine konkrete Entwicklung gemacht, die sehr negativ war. V. a. ihre Regierungsbeteiligungen und die dort betriebene neoliberale Politik, innerparteiliche Bürokratisierung, Zerfall des linken "Flügels" -- wer heute allgemein zur Wahl der PDS aufruft, unterstützt unbeabsichtigt auch diese Entwicklung. Deshalb hat der RSB zur kritischen Wahlunterstützung von revolutionären KandidatInnen aufgerufen.
Etwas völlig anderes als die Frage wen wählen? ist die Frage wer soll regieren?. Wen wählen? fragt nach dem Charakter einer Partei. Wer soll regieren? fragt nach dem Charakter der Regierung. Die Regierung der BRD ist imperialistisch. Wir leben nicht in (vor)revolutionären Zeiten, in denen eine ArbeiterInnenregierung entstehen könnte, die sich auf eine Massenbewegung und deren Vertretungsorgane stützt. Deshalb ist unter "normalen" kapitalistischen Verhältnissen ein Aufruf zur Wahl einer Regierung, und sei es von SPD-Grünen- PDS, immer der Aufruf zu einer kapitalistischen Regierung. Einen solchen Aufruf lehnen wir grundsätzlich ab.
Für Manuel und Thies hat sich an der SPD seit fast hundert Jahren nichts Grundlegendes geändert. Für sie ist die SPD "schon seit langem so bürgerlich", "dass es eigentlich bürgerlicher nicht mehr geht, oder um mit Rosa Luxemburg zu sprechen, ein Leichnam, der seit 1914 zum Himmel stinkt und dennoch auch heutzutage jährlich stinkiger wird." Na ja, um in ihrem Beispiel zu bleiben -- nur schlägt für die beiden Genossen der Verwesungsprozess wie im Heiligenschrein nie von der Quantität in die Qualität um, denn oh Wunder, trotz aller Fäulnis bewahrte sich die Sozialdemokratie von 1914 bis 2002 "einen Doppelcharakter." Egal, ob die SPD 1914 den Kriegskrediten zustimmte, 1918 auf ArbeiterInnen schießen ließ, 1923 die deutsche Oktoberrevolution niederhielt, 1933 vor dem Faschismus kapitulierte, 1945 die Wiedergründung ihrer Klassenkulturorganisationen unterließ, 1959 ein nicht-sozialistisches Programm annahm, 1968 den Notstandsgesetzen zustimmte, 1999 den Balkankrieg führte und 2001 den Afghanistankrieg -- immer bleibt sie für die beiden Genossen eine "bürgerliche Arbeiterpartei".
Die SPD durchlief in ihrer Geschichte die verschiedensten Phasen, in denen sie ihren Charakter änderte. Von ihren beiden Vorläufern war der lassalleanische ADAV reformistisch- sozialistisch, die SDAP Bebels schwankte zwischen Reformismus und Marxismus. Bei ihrer Vereinigung 1875 war die neue SAPD allenfalls zentristisch. Erst in der Illegalität unter den SozialistInnengesetzen 1878-1890 und mit Annahme des Erfurter Programms 1891 wurde die SPD im Großen und Ganzen eine revolutionäre, marxistische ArbeiterInnenpartei. Auf die russische Revolution von 1905 reagierte die SPD (und die Gewerkschaften) mit einer Rechtsentwicklung. Die Sozialdemokratie Bebel-Kautskys wandelte sich wieder in eine zentristische Partei mit starkem reformistischen Flügel zurück, die 1914 vor dem Imperialismus kapitulierte. Die SPD Eberts war reformistisch-sozialistisch und bewahrte ihren Charakter in immer schwächerer Ausprägung bis nach dem zweiten Weltkrieg. Das heißt: Nur in der Phase von 1914 bis 1959 hatte die SPD von Programm und Klassenbasis her einen "Doppelcharakter": Dem sozialistischen Endziel stand der bürgerliche Weg der Reformstrategie entgegen, den proletarischen Klassenorganisationen die Integration in den bürgerlichen Staatsapparat.
Nach 1945 verzichtete die Sozialdemokratie auf die Neugründung ihrer ArbeiterInnenkulturorganisationen, schaffte 1959 ihr reformistisch-sozialistisches Programm ab und nahm ein sozialliberales Programm an. Aber ihre Entwicklung blieb nicht stehen. Auch Manuel und Thies werden nicht bestreiten, dass die SPD im Jahre 2002 im wesentlichen neoliberale Positionen vertritt, auch wenn es in ihrem Apparat weiterhin einen sozialliberalen Flügel gibt.
Unter veränderten politischen Bedingungen, bei einer fortgeschrittenen Legitimationskrise des Neoliberalismus ist unter Umständen denkbar, dass die SPD-Führung mehrheitlich zu einem sozialliberalen Kurs wie in den 70er oder 80er Jahren zurückkehrt. Doch würde dies die SPD wieder zu einer ArbeiterInnenpartei oder zu einer reformistischen Partei machen? Wir meinen nein!
Die Einschätzung der SPD hat grundsätzliche Bedeutung und ist weit mehr als ein belangloser intellektueller Streit um Definitionen:
Wer an die SPD mit einer Schablone herangeht, sie als ArbeiterInnenpartei begreift und auf sie den Begriff "reformistisch" anwendet, wird alle Entwicklungen links der SPD grundsätzlich als linksreformistisch oder "in der Entwicklung offen" bezeichnen. So war die unkritische Euphorie in Sachen Grüne oder PDS nur die logische Folge dieses selbst zu verantwortenden Schematismus. Die Möglichkeiten einer Arbeit von RevolutionärInnen in der PDS und die dortigen Entwicklungsmöglichkeiten eines "linken Flügels" mussten maßlos übertrieben werden. Diese Fehlorientierung hat mit dem 22. September ’02 völligen Schiffbruch erlitten. Dagegen wurde in der avanti seit Jahren darauf hingewiesen, dass für uns die Entwicklung der PDS zu keinem Zeitpunkt "offen" war, dass dort eine revolutionäre Alternative keine realistische Chance hatte. Die PDS war und ist (zumindest vorläufig noch) eine reformistische Partei. Mit der Wahlniederlage vom 22. September scheint sich aber ihre Rechtsentwicklung zu beschleunigen.
Wer die SPD zu einer "bürgerlichen Arbeiterpartei" bzw. zu einer "reformistischen Partei" hochstilisiert und gleichzeitig ihren ArbeiterInnencharakter mit den Verbindungen zu "den Gewerkschaften" zu belegen sucht, der/die wird unweigerlich die Unterstützung der Gewerkschaftsbürokratie für die SPD idealisieren. Mit anderen Worten: Die scharfe Kritik, die RevolutionärInnen an der Gewerkschaftsbürokratie gerade hier und heute in der BRD leisten müssen, wird dann nicht mehr entwickelt werden, wenn mensch der "Gewerkschaftsführung" all zu oft eine guten Willen unterstellt, den wir bei nüchterner Analyse wirklich nicht erkennen können. Uns fällt dies bei einschlägigen Artikeln in der SoZ immer wieder auf.
Wenn große Teile der Spitzen in der Gewerkschaftsbürokratie der SPD zuarbeiten, dann hat dies etwas mit den eigenen politischen Überzeugungen dieser BürokratInnen wie auch mit der Absicherung ihrer politisch und materiell privilegierten Stellung zu tun. Aber die Gewerkschaftsbürokratie (auch in ihrer Gänze genommen) ist nicht Ausdruck der "tagtäglichen Einheitsfront" der ArbeiterInnenklasse. Das sind nur die Gewerkschaften als Ganzes. In den USA unterstützt die Gewerkschaftsführung die DemokratInnen. Sind deswegen die DemokratInnen eine "bürgerliche Arbeiterpartei"? Oder sind sie es nur deswegen nicht, weil sie anders entstanden sind? Diese Frage kann ernsthaft nur von MetaphysikerInnen bejaht werden.
In der tagtäglichen Auseinandersetzung mit den BürokratInnen erleben wir, dass das offene Eintreten für die SPD (v. a. zum Zweck der Wahlhilfe) heute zwar immer noch zur Routine gehört, aber doch viel weniger offensiv auf Gewerkschaftsversammlungen eingebracht wird als dies noch in den 70er Jahren der Fall war, eben weil dies inzwischen zu oft auf lautstarken Protest oder zumindest Unmut unter den KollegInnen trifft. Die gewerkschaftlich aktiven KollegInnen schlucken die Wahlkampfpropaganda, aber Wellen der Begeisterung löst das schon lange nicht mehr aus.
Die Gen. Manuel und Thies schaffen es, das GIM-Mehrheits-Dogma der Herausbildung und Abspaltung eines linken, sozialistischen Flügels von der SPD rund 16 Jahre nach seinem unbemerkten Hinscheiden wiederzubeleben. Dabei scheiterte dieses Dogma der Pro-SPD-Mehrheitsposition der GIM nicht allein an einer falschen Theoriebildung, sondern an den politischen Klassenverhältnissen der BRD. Ende der 70er Jahre spaltete sich nicht, wie von der Pro-SPD-Mehrheitsposition erwartet, ein linker, sozialistischer Flügel von der SPD ab -- sondern links von der Sozialdemokratie entstand die Grünen-Partei. Und nach der kapitalistischen Wiedervereinigung bildete sich Anfang der 90er Jahre auch kein linker Flügel in der SPD, aus der eine neue sozialistische Partei wie Phoenix aus der Asche emporstieg, sondern es trat die PDS auf die Bühne. Beide Parteiengründungen haben die These von der Herausbildung eines linken Flügels in der SPD praktisch widerlegt. Und diese Widerlegung bekam die deutlichste Unterstützung von denjenigen GenossInnen der VSP, die in die PDS gegangen sind ... um dort einen "linken Flügel" zu stärken. Sie hätten nämlich in die sozialdemokratische Partei gehen müssen, wenn sie an ihre eigene These vom linken Flügel in der SPD geglaubt hätten! Noch nicht einmal in der PDS sehen wir heute einen linken Flügel, der den Namen verdient. Dort gibt es kleine Kreise und Zirkel, politisch vom Reformismus bis zum Stalinismus reichend, präsent innerhalb ihrer Partei, aber kaum im Klassenkampf. Diese Kreise verfügen über Unterstützung in der Jungen Welt, haben aber weder ein eigenes Zeitungsprojekt, mit dem sie in Kämpfe und Bewegungen eingreifen können, noch eine eigene "Organisation". Der linke, sozialistische "Flügel" in der SPD dagegen ist winzig. Er heißt Peter von Oertzen, zusätzlich die entristische Funken-Gruppe und natürlich nicht zu vergessen -- Manuel und Thies weisen uns darauf hin -- es gibt ihn ja in Köln!?
Die Entwicklung vom sozialistischen Reformismus zum Sozialliberalismus nennen die Gen. Manuel und Thies bei B. B. "terminologische Turnübungen". Dabei vergessen die beiden eine Kleinigkeit: Unsere "terminologische Turnübungen" sind kein Schema, das wir im Nachhinein über die Geschichte stülpen. Unsere Einschätzung der SPD ermöglichte uns, deren Entwicklung zum Neoliberalismus vorherzusehen, zumindest nicht überrascht zu sein. So hieß es Ende ‚94 in der Avanti zur Tutzinger Tagung der SPD unter dem Untertitel "Änderung im Anspruch": "Die Tutzinger Tagung leitet nur begrenzt eine Rechtswende der SPD ein. Denn diese Rechtswende ist im Wesentlichen bereits erfolgt. Die SPD vollzieht nur in Worten nach, was sie seit Jahren tut. Mit der Regierung Schmidt war die SPD von der Brandtschen Reformpolitik zur Konterreform übergegangen. Seit Anfang der 90er Jahre ist diese Politik der Gegenreform vertieft worden. In den Betrieben tragen die SPD-Betriebsräte und die sozialdemokratische Gewerkschaftsbürokratie die ‚Verschlankung‚ mit. In Land, Städten und Gemeinden macht die SPD bereits den Vorreiter bei der ‚schlanken Verwaltung‚, dem Abbau von sozialen Einrichtungen und Dienstleistungen. Diesen Taten will Scharping jetzt die politischen Ansprüche der SPD anpassen. Ähnliches hat die SPD schon einmal vor 35 Jahren versucht. Damals warf sie ihren sog. sozialistischen Ballast ab und ging vom sozialistischen Reformismus zum Sozialliberalismus über. Heute will die SPD ihren sozialen Anspruch ganz hinter sich lassen. Übrig bleibt der Liberalismus des Marktes mit allen Konsequenzen."
Wir haben die Entwicklung der SPD zum Neoliberalismus zu einer Zeit vorausgesagt, als sich fast die gesamte sozialistische Linke noch jahrelang die Finger wund schrieb über die angebliche Linksentwicklung der SPD unter Oskar Lafontaine. Wir haben ebenso voraussagen können, dass sich Lafontaine gegen Schröder nicht durchsetzen wird, als leider fast alle Linken das Gegenteil erwarteten. Die Ereignisse haben unsere Einschätzung der SPD bestätigt. Wir sind gerne bereit, unsere Prognosen oder Erwartungen der SPD-Entwicklung von 1994/95 mit anderen zu vergleichen, etwa mit denen aus der SOZ.
"Vom sozialistischen Reformismus zum Sozialliberalismus" -- "Das besagt überhaupt nichts und klärt noch weniger", meinen Manuel und Thies. Über Charakterisierungen können wir uns natürlich trefflich streiten. Vielleicht finden andere bessere als wir. Doch unsere "Formel" beschreibt nicht nur die Entwicklung in der SPD, sondern auch ihre Bedeutung für die Änderungen im Klassenbewußtsein der ArbeiterInnen und in der politischen Lage der BRD. Die sozialistisch-reformistische Massenpartei SPD, wie gemäßigt sie auch immer war, organisierte nach dem 2. Weltkrieg Hunderttausende Lohnabhängige mit einem sozialistischen Klassenbewusstsein. Die sozialliberale Massenpartei SPD organisierte in den 80er Jahren keine Lohnabhängigen mit sozialistischem Klassenbewußtsein. Das sagt alles.
Die geringe Bedeutung der revolutionären MarxistInnen in der BRD heute ist in dieser Entwicklung angelegt. Bei jedem Kampf gegen Entlassungen und Lohnkürzungen zeigt der mangelnde Widerstand in fast jedem Mittel- und Großbetrieb, dass es diese Arbeiterschicht mit sozialistischem Klassenbewusstsein, auch wenn es nur reformistisch-sozialistisch war, nicht mehr gibt. Nach 1945 gab es in fast jedem Großbetrieb noch Hunderte solcher sozialdemokratischen Sozialistinnen. Mit denen konnten sich damals die revolutionären MarxistInnen über den richtigen Weg zum Sozialismus streiten. Heute müssen wir mühsam erklären, dass der Sozialismus überhaupt ein Ziel ist bzw. sein sollte und erreichen dabei nur wenige Lohnabhängige. Wenn es Aufgabe der revolutionär marxistischen Organisation ist, das revolutionäre Bewusstsein von außen in die ArbeiterInnenklasse hineinzutragen, dann trägt die SPD heute im Unterschied von vor 55 Jahren kein sozialistisch-reformistisches, sondern neoliberales Bewusstsein in die ArbeiterInnenklasse hinein. "Das besagt überhaupt nichts"??? Diese bedeutenden Veränderungen im ArbeiterInnenklassenbewusstsein kann das leere Schema von der "bürgerlichen Arbeiterpartei" nicht erfassen.
Ist die SPD Ausdruck der "Klasse für sich"? Wenn ja, muss sich dies im Programm und in der realen Politik der Partei niederschlagen. Lesen wir dazu noch mal Trotzki: "Die realen Interessen der Klasse lassen sich nicht anders formulieren als in Gestalt eines Programms; das Programm lässt sich nicht anders verteidigen als durch die Schaffung einer Partei. Die Klasse an sich ist nur Ausbeutungsmaterial. Die selbständige Rolle des Proletariats beginnt dort, wo es aus einer sozialen Klasse an sich zu einer politischen Klasse für sich wird. Das vollzieht sich nicht anders als durch Vermittlung einer Partei."
Und zur SPD schrieb Trotzki schon in den zwanziger Jahren, also noch lange vor weiteren gravierenden Veränderungen in dieser Partei: "Seit dem imperialistischen Krieg läuft die Arbeit dieser Partei darauf hinaus, die Idee einer selbständigen Politik im Bewusstsein des Proletariats auszulöschen, ihm den Glauben an die Ewigkeit des Kapitalismus einzuflößen und es Mal um Mal vor der verfallenden Bourgeoisie auf die Knie zu zwingen. Die Sozialdemokratie lehrt den Arbeiter, Lakai zu sein."
Inzwischen ist der Kapitalismus sehr viel stabiler geworden, der positive Bezug gerade auch der SPD auf dieses System ebenso. Wo ist da der politische Klassencharakter, wenn er schon soziologisch keine wirkliche Rolle spielt?
Wenn es Manuel und Thies bei der Charakterisierung einer Partei nur auf den (scheinbar) ewigen Klassencharakter ankommt, nicht auf ihre reale, konkrete Politik, dann muss ihnen die SPD auch weiterhin für wählbar gelten. Für diese Genossen ist es dann nur eine taktische Frage, ob mensch zur Wahl der SPD aufruft (bzw. sich im linken Milieu traut, dazu aufzurufen). Lassen wir zum Abschluss noch mal Trotzki sprechen: "Die Sozialdemokratie ist ungeachtet ihres Arbeiterbestandes eine vollständig bürgerliche Partei, unter ‚normalen‘ Bedingungen vom Standpunkt der bürgerlichen Ziele aus sehr geschickt geführt, doch unter den Bedingungen der sozialen Krise zu nichts tauglich. Den bürgerlichen Charakter der sozialdemokratischen Partei sind die Führer selbst einzugestehen genötigt, wenn auch gegen ihren Willen [heute würdcn wir sagen, sie legen sogar großen Wert darauf]. Die Sozialdemokratie hat Stimmen und Mandate deshalb verloren, weil der Kapitalismus in der Krise sein wahres Antlitz enthüllte. Die Krise hat die Partei des "Sozialismus" nicht gestärkt, sondern im Gegenteil geschwächt, so wie sie Handelsumsätze, Bankenkassen, Hoovers und Fords Selbstvertrauen, die Einkünfte des Fürsten von Monaco usw. geschwächt hat. Kann es einen unwiderlegbareren Beweis des bürgerlichen Charakters der Partei geben?" (Was nun).
Die beiden Kritiker werfen B. B. bei seinem Zitat Trotzkis eine "unernste Reklamation angeblicher Orthodoxie" vor. Wir wollen uns mit Manuel und Thies nicht über die Auslegung von Trotzki- Zitaten streiten. Jedoch berief sich B. B in seiner SPD-Analyse nicht auf Trotzkis, sondern auf Georg Junclas’ Formel von der "sozial-liberalen Volkspartei". B. B. betonte, dass Trotzkis Charakterisierung der SPD von 1932 (die SPD ist eine bürgerliche Partei, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt und von ihr gestützt wird) nach dem zweiten Weltkrieg mit dem Wegbrechen der sozialdemokratischen Klassenorgansiationen nicht mehr zutreffend wurde. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was Manuel/ Thies hineininterpretieren. Neben der späteren programmatischen Revision war der Verzicht auf die Neugründung der "Stütze" ArbeiterInnenkulturorganisationen mitentscheidend für den Verlust des Doppelcharakters der SPD. Anstatt darauf konkret einzugehen, versuchen die beiden Trotzkis Charakteristik der SPD als vollständig bürgerlicher Partei zu relativieren -- mit einem Zitat aus dem Übergangsprogramm von 1938 über die Sozialdemokraten Spaniens! Die Verharmlosung des bürgerlichen Charakters der SPD war schon immer das besondere Markenzeichen der GIM-Mehrheits-Formel von der "bürgerlichen Arbeiterpartei". Und was soll es heißen, wenn Gen. Manuel und Thies schreiben: "Alleine schon der Konflikt, der sich mit den Schlagworten "New Labour" (oder "Blairismus") contra "Old Labour" seit einigen Jahren vor unseren Augen abspielt, zeigt, dass der Loslösungsprozess der Sozialdemokratie von ihren historischen Wurzeln noch immer nicht ganz abgeschlossen ist". Die Degeneration der Labour Party ist eine andere als die der SPD. Sie fand mit der Abschaffung der "clause four" im Jahre 1996 ihren Ausdruck, als entsprechende Auseinandersetzungen in der SPD schon Jahrzehnte zurück lagen. Weder die eine noch die andere Entwicklung konkret untersuchend, übertragen die Gen. Manuel und Thies unbesehen die Entwicklung der Labour Party auf "die" "Sozialdemokratie" der ganzen Welt. Die Konflikte in Großbritannien sagen aber rein gar nichts über den Charakter der SPD aus -- es sei denn die Metaphysik schlägt auch auf der Ebene der internationalen Verbindungen zu. Im Gegenteil: Gerade der Prozess in Großbritannien (wir könnten von uns aus hinzufügen: in den Niederlanden, in Dänemark, Schweden usw.) zeigt, dass die gleichen objektiven Prozesse am Werk sind, nämlich die allmähliche und kontinuierliche Veränderung dieser Parteien, die als Regierungsparteien in dieses System integriert sind (und sich dabei zwangsläufig immer weiter anpassen) und dabei irgendwann eine ähnliche neue Stufe erreicht haben oder erreichen werden.
Daniel Berger / Heiko Freund |
2 F. Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie MEW 21, S. 293
3 Trotzki, Leo, Klasse, Partei, Führung. Warum wurde das spanische Proletariat besiegt (Fragen marxistischer Theorie), 20.8.40, in: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, 1931-39, Frankfurt/M. 1976, S. 343.
4 Damit bezeichnete Ernest Mandel die Verbesserungen im Lebensstandard und in den demokratischen Rechten, die über den "Stand Null" zur Zeit des kommunistischen Manifests hinausgehen.