Valter Pomar
Die Lula-Regierung ist das Ergebnis eines mindestens zwanzigjährigen Prozesses der Kräfteakkumulation der gesamten brasilianischen Linken. Unsere Regierung setzt heute eine Wirtschaftspolitik um, die die Hegemonie des Finanzkapitals, der Lebensmittel- und Agroindustrie und des Exportsektors ungebrochen stützt. Dieser Widerspruch zwischen dem, was Lula zum Präsidenten gemacht hat und dem, was Lula als Präsident macht, erklärt die politisch ambivalente Haltung der Bourgeoisie gegenüber der Regierung: Einerseits applaudieren die Bürgerlichen Palloci [1], andererseits bereiten sie die Lulas Niederlage vor. Die gegenwärtige Regierung ist letzten Endes aus Sicht der Bourgeoisie nicht vertrauenswürdig. Daher ist es sehr unwahrscheinlich, dass Lula die momentane Wirtschaftspolitik beibehält, die seine eigene gesellschaftliche und ideologische sowie seine Wählerbasis untergräbt, und gleichzeitig 2004 und 2006 die Wahlen gewinnen wird.
Die Parteifrage in Zeiten der Lula-RegierungDie kürzlich erfolgte Gründung einer neuen sozialistischen Partei in Brasilien – der Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) – durch DissidentInnen der Arbeiterpartei (PT) und der Vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei (PSTU) hat in der brasilianischen Linken eine heftige Diskussion über die Möglichkeiten und die Richtigkeit des Entscheids, erneut eine Partei aufzubauen, ausgelöst. Wir veröffentlichen verschiedene Standpunkte dazu. Zuerst eine Reportage über die Gründungsversammlung der neuen Partei in Form eines Interviews mit unserer im Dezember letzten Jahres aus der PT ausgeschlossenen Genossin Heloísa Helena (vgl. Inprekorr 386/387, S. 3), Senatorin des Bundesstaates Alagoas und Mitglied der Tendenz Sozialistische Demokratie, die zur Zeit den Vorsitz der PSoL inne hat.Die anderen drei Artikel kritisieren diesen Schritt aus verschiedenen Blickwinkeln. Der erste Artikel stammt von einem führenden Genossen der Strömung Linker Zusammenschluss in der PT, der zweite ist das Editorial einer von Linkskatholiken herausgegebenen Wochenzeitung und der dritte ein Beitrag aus der Monatszeitung der Tendenz Sozialistische Demokratie in der PT, in der die GenossInnen der Vierten Internationale organisiert sind. (inprecor) |
Wenn die Rechte gewinnt, sei es bei den Wahlen oder „von innen heraus“ (indem sie den definitiven Bruch der Regierung mit allen Verpflichtungen gegenüber der Bewegung durchsetzt, aus der diese hervorgegangen ist), würde das die sozialistische Linke vor die Notwendigkeit einer Neuorganisierung stellen, die Jahrzehnte dauern würde.
Eine Niederlage der Lula-Regierung, was auch immer der Grund dafür wäre, würde die Rechte „objektiv“ stärken. Deshalb ist es riskant, Kräfte als „links“ zu betrachten, die auf eine Niederlage oder den Sturz dieser Regierung hinarbeiten, was nicht zu verwechseln ist mit dem selbst öffentlichen Versuch, die Regierung zur Abkehr von der zur Zeit hegemonialen Politik zu zwingen.
Die vor kurzem gegründete Partei Sozialismus und Freiheit (PSoL) gibt vor, eine linke Opposition zur Lula-Regierung aufzubauen. Offensichtlich handelt es sich nicht um eine „konstruktive Opposition“, die von außen Druck machen und einen Kurswechsel erwirken will. Wäre dies die Absicht, gäbe es im Grunde keine Divergenz zwischen der Position der PSoL und der PT-Linken, außer dass der Regierungskurs von außen natürlich freier und ungezwungener kritisiert werden kann.
Die PSoL setzt sich aber eine „destruktive Opposition“ zum Ziel, die so tut, als wäre es möglich, die Lula-Regierung und die Rechte gleichzeitig zu besiegen und dem Land eine linke, sozialistische, wahrhaftig demokratische und volksnahe Regierung anzubieten.
In Wirklichkeit deutet nichts darauf hin, dass es zur Zeit oder in absehbarer Zukunft eine Welle von breit getragenen Kämpfen geben wird, die das Rückgrat für einen neuen sozialistischen, demokratischen, den Interessen der Bevölkerung verpflichteten Pol abgeben könnten, der stark genug wäre, um die PT, die Lula-Regierung und die traditionelle Rechte links zu überholen.
Aus diesem Grund haben sich breite Teile der brasilianischen Linken dafür entschieden, sich mit der Lula-Regierung und ihren Zielen zu konfrontieren. Nur wenn wir diese verändern, stellen wir uns in die Kontinuität des seit Ende der 70er Jahren bestehenden Impulses. Die beiden Alternativen dazu – die Fortsetzung der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik und die Rückkehr der traditionellen Rechten – wären eine Niederlage und würden zu einer wesentlich gravierenderen Zersplitterung der Kräfte führen, als wir sie nach dem Staatsstreich 1964 erlebt haben.
Die Entstehung der PSoL ist ein Zeichen dafür, dass diese Zersplitterung bereits begonnen hat; paradoxerweise scheint die neue Partei das Organisationsmodell der PT zu übernehmen. Klar! Wer vorgibt, hier und heute in diesem Land im Klassenkampf zu zählen, braucht eine Massenbasis, die Präsenz im Parlament und muss sich an Wahlen beteiligen. Im Gegensatz zur PT, die „klein“ entstanden ist, aber von einer kräftigen Welle politischer Kämpfe getragen wurde, entsteht die PSoL aber in einer Phase schwach entwickelter Kämpfe. Ebenso misst sie im Gegensatz zur PT, die in den ersten Jahren wenig Gewicht auf den institutionellen Kampf gelegt hatte, ihren ParlamentarierInnen eine große Bedeutung bei und hat bereits heute eine Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen und begibt sich damit karikaturhaft in dieselbe tragische Abhängigkeit, in die sich die PT mit die Lula-Kandidatur selbst manövriert hat.
Der sich über zwei Jahrzehnte dahinziehende Prozess, der das politische und gesellschaftliche Projekt der PT zutiefst verändert hat, prägt mit anderen Worten die PSoL schon bei ihrer Gründung. Dasselbe würde für alle Sektoren gelten, die jetzt mit der Erfahrung der PT und der Regierung brechen wollten, es sei denn, sie sind bereit, selbst um den Preis eines verminderten politischen Eingreifens in der gegenwärtigen Phase langfristig Energie in den Aufbau einer anderen strategischen Alternative zu investieren.
Der Wandel, den die PT in den letzten zehn Jahren in ihren Positionen vollzogen hat, ist die „beschleunigte“ Version der 90er Jahre einer Entwicklung, die sich in der europäischen Sozialdemokratie über ein Jahrhundert ihres Bestehens hinweg vollzogen hat: von der Revolution zur Reform, vom Sozialismus zum Kapitalismus, vom sozialdemokratischen Kapitalismus zum neoliberalen Kapitalismus (über den so genannten „Dritten Weg“ oder ein Mitte-Links-Programm).
Unser gegenwärtiges Problem lässt sich nicht auf die politischen Ziele der PT und / oder der Lula-Regierung reduzieren. Das Problem ist, wie in der brasilianischen Arbeiterklasse die demokratische, sozialistische und von weiten Teilen der Bevölkerung getragenen Dynamik wieder aufgenommen werden kann, die diese seit dem Ende der 70er Jahre und die 80er Jahre hindurch geleitet hat.
Weite Teile der sozialen Bewegungen in Brasilien, angefangen bei den Gewerkschaften, stehen heute unter der Hegemonie des gemäßigten Teils der PT und des Gewerkschaftsdachverbands CUT. Ein anderer Teil steht unter dem Einfluss von AktivistInnen, die der Partei gegenüber so kritisch eingestellt sind, dass sie agieren, als wären die „sozialen Bewegungen“ in der Lage, das Problem der Machteroberung und des Aufbaus des Sozialismus zu lösen.
Ist es möglich, das Land zu ändern, ohne die Machtfrage, die Frage des Staates zu stellen? Ist es möglich, die Machtprobleme ohne Kämpfe und politische Parteien zu lösen? Wie kann unter den gegebenen politischen Bedingungen verhindert werden, dass eine Linkspartei von der bürgerlichen Ordnung vereinnahmt wird? Oder dass sie auf die Rolle einer „ewigen Minderheit“ reduziert bleibt, wie das für die meisten sozialistischen oder revolutionären Parteien der Fall ist?
Diese Fragen werden nicht beantwortet, indem wir die Ungeduld zu einem theoretischen Argument erheben, und auch nicht, indem wir vergessen, dass unser Feind die Rechte ist. Es braucht eine politische und gesellschaftliche Kraft, die eine alternative Strategie und ein alternatives Programm verwirklichen kann. Eine solche Kraft wird nicht aus der Niederlage unserer Regierung hervorgehen. Denn eine allfällige Niederlage der Lula-Regierung wird in der brasilianischen Politik zu einem gravierenden Einbruch der Kräfte des Sozialismus und der Freiheit führen. Aus all diesen Gründen werden wir uns bei vollem Respekt des Entscheids derer, die lieber einem anderen Weg folgen, so gut wie möglich weiter dafür einsetzen, die Regierung und die PT zu einem Kurswechsel zu bewegen.
Valter Pomar, dritter nationaler Vizepräsident der Arbeiterpartei (PT), ist Mitglied der Strömung Linker Zusammenschluss in der PT. Der aus einem Bruch der historischen PT-Führung Anfang der 90er Jahre hervorgegangene Linke Zusammenschluss ist nach der Sozialistischen Demokratie die zweitstärkste Strömung sozialistischer Linker in der PT. Beide Tendenzen haben ihre Zusammenarbeit kürzlich intensiviert und halten gemeinsame programmatische Seminare ab. Übernommen aus Inprecor América Latina, elektronische Publikation der Vierten Internationale für Lateinamerika und die Karibik <inprecor.americalatina@uol.com.br>. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 396/397 (November/Dezember 2004).