Pakistan

Arbeiterhilfskampagne nach dem Erdbeben

Farooq Tariq ist Generalsekretär der pakistanischen Arbeitspartei (Labour Party Pakistan — LPP), einer Partei mit Beobachterinnenstatus beim Internationalen Komitee der IV. Internationale. Wir geben hier längere Auszüge seines Berichts in der Debatte des IK über Naturkatastrophen wieder.

Farooq Tariq

Nach dem Erdbeben vom 8. Oktober 2005 konnte die Tragödie allergrößten Umfangs, die sich bereits abzeichnete, durch die großzügige Unterstützung zahlreicher Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, politischer Organisationen und einfacher Menschen in der ganzen Welt abgewendet werden. Dank dieser Hilfe konnten Notunterkünfte beschafft und die Lage der Opfer in den Erdbebenregionen von Kaschmir und der Nordwestprovinz Pakistans erleichtert werden. Es gab keine Epidemien und keine massiv erhöhte Sterblichkeit wegen fehlender Trinkwasserversorgung oder medizinischer Betreuung; dies ist dem Eintreffen 600 kubanischer Ärztinnen und Ärzte zu danken, die in den letzten vier Monaten etwa 600 000 Patientinnen und Patienten versorgt haben. Kuba hat sich in Pakistan immensen Respekt wegen seiner rechtzeitigen medizinischen Hilfe erworben, für die sich sogar [der US-freundliche Staatspräsident] General Musharraf mehrmals bei der kubanischen Regierung bedankt hat.

Die Arbeiterhilfskampagne (Labour Relief Campaign – LRC) und viele ähnliche Organisationen haben eine wichtige Rolle bei der Hilfs- und Wiederaufbauarbeit gespielt. Sie wurde am Tag nach dem Beben gegründet, um die Ressourcen aller zu bündeln, die etwas unternehmen wollen.

In der LRC sind sechs Arbeiterorganisationen zusammengeschlossen: die Liga zur Unterstützung der Arbeiterfrauen (WHL), der Nationale Gewerkschaftsbund (NTUF), die Arbeiterbildungsstiftung (LEF), das Koordinationskomitee der pakistanischen Bauern (PPCC), die Front der progressiven Jugend (PYF) und die Arbeitspartei Pakistans (LPP) mit den ihr nahe stehenden Organisationen. Die LRC war in der Lage, 100 Häuser in der Region Kaschmir zu errichten und die Nothilfe (Ernährung und Medikamente) für mehr als 60 000 Menschen in zwei ausgewählten Zonen (Paniola in Kaschmir und Balakot in der Nordwestprovinz) zu unterstützen. Mehr als 23 Lastwagenladungen Hilfsgüter wurden in die Region transportiert.


Örtliche Komitees


Es waren besonders unsere örtlichen Kontakte und unsere Verbindungen zu den Strukturen in den betroffenen Gebieten, die es uns ermöglichten, eine effiziente Verteilung der Hilfsgüter und die Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse sicher zu stellen. Bereits am 9. Oktober gelang es dem LPP-Vorsitzenden Nisar Shah, der selbst aus dem Kaschmir stammt, aber in Karatschi lebt und arbeitet, Kaschmir zu erreichen. Dort konnte er örtliche Koordinationskomitees bilden, die Entscheidungen zur Verteilung der Hilfsgüter und zum Wiederaufbau treffen konnten. Wir haben diese Initiative als Beispiel aufgegriffen, und sie wurde, gelegentlich nach einigem Zögern der örtlichen Bevölkerung, allgemein akzeptiert. Bis heute spielen die Komitees in der ganzen Operation eine wesentliche Rolle.

In der ersten Phase bestand das Hauptproblem aller Hilfsorganisationen in der Verteilung der gesammelten Hilfsgüter. Viele haben ihre Materialien einfach entlang der Hauptstraßen in den vom Erdbeben betroffenen Tälern abgelegt. Dank unserer örtlichen Strukturen konnten wir unsere Hilfsgüter entsprechend der Bedürfnisse und unter Kontrolle der Bevölkerung verteilen und konnten dabei auch Gebiete berücksichtigen, in die zuvor noch keine Unterstützung gelangt war.

Die LRC hat auch entschieden, sich durch Integration anderer Organisationen auszuweiten. So haben wir eine Koordination, das „Bürgerhilfskomitee“ (Citizens Relief Committee – CRC) gegründet. Dem CRC ist es gelungen, eine große Zahl von Persönlichkeiten zu sammeln und zahlreiche Organisationen einzubeziehen, aber auf einer nicht besonders engen Plattform. Durch Schaffung einer neuen Struktur hat sich die LRC nicht aufgelöst, sondern sie arbeitet mit anderen zusammen.


Versagen des Staates


Das Erdbeben hat den volksfeindlichen Charakter des pakistanischen Staates beleuchtet. Er war überhaupt nicht vorbereitet, auf eine solche Katastrophe zu reagieren. Die Militärregierung gibt jedes Jahr mehr als 40% des Haushalts für das Militär aus, aber sie verfügt nur über 19 Hubschrauber für 22 000 Quadratkilometer Bergland und Unglücksregion. Und als die indische Regierung angeboten hat, Hubschrauber zur Verfügung zu stellen, hat sie sich geweigert, dies anzunehmen, um das feindliche Verhältnis zu Indien aufrecht zu erhalten. Das Ausmaß der Katastrophe scheint auch Folge menschlicher Politik zu sein. Der Staat war in keiner Weise vorbereitet. Viele Bereiche wurden erst sehr spät versorgt, und diese Unfähigkeit hatte viele Opfer zur Folge.

Eines der wichtigsten der von der LRC aufgegriffenen Themen war es, die Rolle des Staats bei der Reaktion auf die Katastrophe und seine Rolle in der Zeit danach zu beleuchten. Daneben hat die LRC auf zwei Gebieten gearbeitet: zum einen das Bereitstellen von Soforthilfe und die Organisation des Wiederaufbaus in den betroffenen Gebieten, zum anderen das Entwerfen längerfristiger politischer Lösungen.

Der Bezirk von Paniola ist eines der wichtigsten Gebiete des Kaschmir, von dem er mit einer Bevölkerungszahl von 487 000 einen großen Teil bedeckt. Seine Hauptstadt ist Rawalakot. Das Gebiet um Rawalakot gehört zu den am schwersten vom Beben am 8. Oktober betroffenen. Selbst wenn die Verluste an Menschenleben geringer als an anderen Gebieten waren, wurde die Bevölkerung doch vollständig ruiniert. Insgesamt 43 000 Häuser wurden unbewohnbar und mehr als 200 000 Menschen obdachlos.


Medienkampagne


Um die Aufmerksamkeit auf die Probleme der vom Beben betroffenen Menschen zu lenken und das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der mit dem Wiederaufbau und der Hilfe für die Opfer befassten Organe zu schärfen, haben wir eine Medienkampagne gestartet. Wir wollen damit auch die Regierung zwingen, Verantwortung für die Hauptprobleme zu übernehmen, denen die betroffene Bevölkerung ausgesetzt war. Tägliche Presseerklärungen wurden in Kaschmir veröffentlicht und berichteten über den aktuellen Stand der Probleme. Nach anfänglichem Zögern begannen die nationalen Medien unsere Informationen Ernst zu nehmen und uns ihre Spalten zu öffnen. Diese Kampagne erlaubte uns, Information für die untragbare Situation der Erdbebenopfer zu wecken, und dafür auch eine Behandlung in den Massenmedien zu erreichen.

Wir waren die erste Organisation, die auf die Tatsache hingewiesen hat, dass Zelte unter den klimatischen Verhältnissen des Winters in dieser Region völlig nutzlos sind. Um die absehbare, aber völlig vermeidbare menschliche Katastrophe abzuwenden, haben wir gefordert, dass die erforderlichen Maßnahmen zum Bau von Notunterkünften eingeleitet werden. Denn es war absehbar, dass kostbare Ressourcen und Zeit für Beschaffung und Transport von Zelte, die weder gegen die Kälte noch gegen die Unbilden des Wetters schützen konnten, vergeudet sein würden.

Ein anderes Problem, das wir betont haben, war die ungerechtfertigte Preissteigerung, die die Bemühungen zum Wiederaufbau behinderte. Wir haben eine tägliche Übersicht zu dieser Frage veröffentlicht und die mafiösen Händler kritisiert, die aus der Situation Profit geschlagen haben.

Die Erdbebenopfer, die in Nothütten leben, davon die Hälfte in Höhen, in denen die Temperaturen im Winter unter minus 10° fallen, hatten medizinische Hilfe besonders nötig. Da Gesundheit in diesen Gebieten noch nie von Bedeutung für den Staat war, waren die staatlichen Apparate völlig überfordert, auch nur die dringendsten Bedürfnisse der dortigen Bevölkerung zu befriedigen. Die LRC hat daher von Oktober bis Ende November an verschiedenen Orten medizinische Stationen betrieben. Sieben Medizinerinnen und Mediziner und zwei Krankenschwestern und -pfleger konnten insgesamt 1002 Personen in zehn Stationen versorgen.


Soforthilfe und Wiederaufbau


Die Soforthilfeaktivitäten der LRC begannen am 11. Oktober mit der Verteilung von Zelten, Decken und Nahrungsmitteln. In den betroffenen Gebieten trafen die ersten Hilfskonvois ein. Aber auch der Wiederaufbau wurde sofort begonnen. 50 Häuser konnten in vier Dörfern gebaut und 50 stabile Notunterkünfte in acht weiteren Dörfern entsprechend der örtlichen Bedürfnisse und der Möglichkeiten der LRC, die bei ihrer Arbeit insbesondere von der Hilfsaktion Pakistan und der 1975 gegründeten radikalfeministischen pakistanischen NRO Shirkat Ghah unterstützt wurde, errichtet werden. Für die Zuteilung von Hilfsgütern sowie von errichteten Wohnungen und Notunterkünften hat die LRC Verteilungskriterien definiert und kontrolliert, dass die etwas erhalten, die nicht über die Mittel verfügen sich selbst zu helfen. Witwen und Waisen wurden bevorzugt berücksichtigt.

Die Aktivitäten der LRC zeigten große Wirkung. Vor allem weil der Bau von Häusern und stabilen Notunterkünften anstelle von Zeltlagern den anderen Hilfsorganisationen zu verstehen half, dass Zelte dem Klima in den betroffenen Gebieten nicht angemessen sind und rein gar nichts zur Lösung der Krise beitragen können. Die Tatsache, dass die örtlichen Gemeinschaften in unsere Aktivitäten einbezogen waren und selbst einen Teil der Lasten zur Bewältigung der Krise übernehmen konnten, spielte eine wichtige Rolle. 19 lokale Komitees wurden zu diesem Zweck in verschiedenen Orten gebildet.

Der wichtigste Unterschied zwischen den Aktivitäten der anderen Organisationen und unseren ist dasmethodologische Vorgehen. Wir haben uns die Mittel gegeben um zu garantieren, dass die Hilfe bei denen ankommt, die sie am nötigsten haben, während die von anderen bereitgestellte Hilfe allzu oft für die am leichtesten zugänglichen Gebiete reserviert war oder sogar einfach entlang der Hauptstraßen verteilt wurde. Sowohl unser Beispiel als auch die von uns gelenkte Medienkampagne haben es erlaubt, diese Situation zu ändern.


Erfolge und Schwierigkeiten


Die örtlichen Gemeinschaften haben sich an unserem Wiederaufbauprojekt beteiligt, was erlaubt hat, die Bauten in Rekordzeit zu errichten. Sie haben einfache Arbeiten und den Materialtransport dort übernommen, wo Lastwagen nicht hingelangen konnten. Ebenso haben sie das für die Häuser erforderliche Holz besorgt. Die regelmäßig abgehaltenen örtlichen Versammlungen erlaubten es, die auftretenden Probleme anzugehen und gemeinsam zu lösen.

Wir mussten uns bei der Realisierung unserer Projekte auch mit Schwierigkeiten auseinandersetzen. Das größte bestand darin, die örtlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Aus ihrer Sicht hatten alle Schäden erlitten und erwarteten unsere Hilfe. Nach unseren Kriterien haben wir – angesichts unserer begrenzten Möglichkeiten – die am meisten bedürftigen Familien und die mit einer Frau als Familienoberhaupt unterstützt. Sicher waren andere, die wir nicht auswählen konnten, enttäuscht, aber es gelang uns diese Probleme durch Verhandlungen auszuräumen. Ein anderes Problem war die ständige Erhöhung der Preise für Baumaterialien, der Mangel an Zement usw. Schließlich mussten wir uns, um unser Bauprojekt in einer so kurzen Zeit zu realisieren, mit dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auseinandersetzen.

Eine Auswirkung der LRC-Kampagne war die völlige Ausschaltung der religiös-fundamentalistischen Kräfte in den Gebieten, in denen wir tätig waren. Diese Kräfte konnten sich hingegen in den Erdbebengebieten etablieren, wo es keine Alternative seitens fortschrittlicher Kräfte gab. Aber wenn die örtlichen Gemeinschaften sahen, dass eine Alternative zu der von den Fundamentalisten bereitgestellten Hilfe existierte, haben sie lieber mit uns gearbeitet, wie im Gebiet von Paniola oder im Kaschmir. Vier Monate nach dem Erdbeben gab es in den Gebieten, in denen wir eingreifen konnten, weder Lager noch Vertretungen der religiös-fundamentalistischen Kräfte. Und selbst die großen bürgerlichen Parteien in diesem Gebiet müssen mit uns rechnen und wir wurden mehrfach für unsere Effizienz gelobt:

Zusammenfassend können wir feststellen, dass die Initiative ein Erfolg war:

  1. Es gelang uns, eine Basis zu schaffen, die es uns erlaubt, unsere Arbeit fortzusetzen, vor allem durch die Bildung der 19 Dorfkomitees.

  2. Das Gebiet von Rawalakot war ignoriert worden, weil die Verluste an Menschenleben dort geringer als in anderen Gebieten waren und sich die staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen sich auf die Gebiete mit hoher Sterblichkeit konzentrierten.

  3. Bei unseren Aktivitäten konnten die aktiven Mitglieder der örtlichen Gemeinschaften in die Hilfs- und Wiederaufbauarbeiten eingebunden werden.

  4. Schließlich konnten wir die besonders verarmten Familien herausfinden, die ohne solche Hilfe nicht in der Lage gewesen wären, ihre Behausungen wiederaufzubauen.

Übers.: Björn Mertens


 
   
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Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 416/417 (Juli/August 2006).