Naher Osten

Risse in der zionistischen Mythologie und Fragen zur Identität

Die israelische Gesellschaft ist ein komplexes Phänomen. Je nach Blickwinkel wird sie als Beispiel für Effizienz und Zusammenhalt wahrgenommen oder als Festung, in der sich kein Lüftchen regt, als Gefängnis, in dem die Israelis leben und nichts anderes sehen außer der Mauer, an der sie selber ständig weiter bauen.

Cinzia Nachira

Die Lehre, wonach der zionistische Aufbau des Staates Israel ein klarer Entscheid der überwiegenden Mehrheit der Juden in aller Welt gewesen sei, entspricht ganz und gar nicht der Realität. Die Geschichte der jüdischen Kolonialisierung Palästinas verläuft keineswegs gradlinig.

In den letzten Jahren, v. a. seit dem 11. September 2001, hat es die israelische Propaganda hervorragend verstanden, den allgemeinen politischen und kulturellen Rückschritt auszunutzen, um eine alte Staatslüge wieder aufzuwärmen: Die Palästinenser, die Araber und generell die Muslime hassen uns, weil wir Juden sind, und sie wollen uns vernichten; unsere nationale Gemeinschaft ist ständig bedroht und unsere Politik als Staat (um nicht bis in die 20er und 30er Jahre zurückzugehen, sondern mal von der offiziellen Staatsgründung auszugehen) war und ist gerechtfertigt, und zwar von der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung 1947–1949 bis zum einseitigen Mauerbau; Kritik hilft nur jenen, die uns vernichten wollen.

Wir wollen hier nicht alle Ereignisse rund um Palästina aufrollen. Wir möchten uns hier vielmehr auf die offene Spaltung in der israelischen Gesellschaft konzentrieren, um ihre interne Dynamik aufzuzeigen. Eine oft heftig geführte, schmerzhafte und gewaltsame Diskussion hat diese Wunde aufgerissen. Seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wird nämlich das Prinzip der großen Staatslüge in Frage gestellt. Es ist kein Zufall, dass diese Diskussion gerade in dieser Zeit vor den Augen der Welt aufgebrochen ist. Zwischen dem Angriff auf den Libanon im Jahre 1982 und dem Ausbruch der ersten Intifada im Dezember 1987 – Höhepunkt des palästinensischen Befreiungskampfes – sieht sich die israelische Gesellschaft plötzlich ins eigene, unverhüllte Angesicht.

Dies geschah nicht plötzlich und unvorhergesehen. Alle Kriege Israels waren Aggressionskriege. Alle Kriege Israels führten zu neuen Vertreibungen und zu neuer Gewalt an PalästinenserInnen. Warum fingen die Israelis – wenn auch bei weitem nicht die Mehrheit – gerade in diesen Jahren an, sich selber als Aggressoren wahrzunehmen?

Auf diese Frage gibt es keine simple Antwort. Mehrere Faktoren haben dazu geführt.


Der Schock, der die Mythen zum Einsturz brachte


Der Einmarsch in den Libanon war bezeichnend. Im Unterschied zu den anderen Kriegen konnte dieser nicht mit der „Verteidigung“ gerechtfertigt werden. Die in etwas mehr als drei Monaten verübten Massaker und das Aufgebot aller verfügbaren militärischen Mittel, auch der Einsatz unkonventioneller Waffen wie Splitterbomben, die Tausende von LibanesInnen und PalästinenserInnen das Leben kosteten, konnten nicht „gerechtfertigt“ werden. Die Massaker von Sabra und Chatila konnten noch weniger „gerechtfertigt“ werden, sie waren noch weniger verständlich. Dabei wurde in wenig mehr als 48 Stunden – vom 16. bis 18. September 1982 – eine heute immer noch unbekannte Zahl unbewaffneter ZivilistInnen getötet (offizielle und inoffizielle Schätzungen gehen von 3000 bis 5000 Ermordeten aus). Nachdem Yassir Arafat die Evakuierung seiner bewaffneten AnhängerInnen und den Rückzug der internationalen Truppen akzeptiert hatte, waren die ZivilistInnen schutzlos ausgeliefert.

Diese Massaker führten in Israel selbst und in der Weltöffentlichkeit zu einem Meinungsumschwung. Bis auf den Grund zerstörte Häuser, mit Leichen v. a. von Frauen, älteren Menschen und Kindern übersäte staubige Landstraßen. Zeugen und Überlebende berichteten später darüber, so z. B. ÄrztInnen internationaler Hilfsorganisationen, die während der schrecklichen 48 Stunden nicht hinein durften, ganz im Gegensatz zur libanesischen Phalange, die einmarschieren durfte, um für die israelische Armee die Drecksarbeit zu verrichten. Diese leuchtete die Umgebung taghell aus, damit die Opfer nicht fliehen konnten, und die Sanitätsdienste nicht hereinkamen. All dies hat dazu geführt, dass in der israelischen Bevölkerung ein eherner Grundsatz ins Wanken geriet: die Idee der „Verteidigungsarmee“.

Zudem hat der Einmarsch im Libanon der israelischen Armee viel mehr Verluste gebracht als die ganze Zeit vor dem Krieg. All dies hat dazu geführt, dass in der israelischen Gesellschaft die Frage gestellt wurde: warum?

Mit den riesigen Demonstrationen in Israel nach Bekanntwerden der Massaker von Sabra und Chatila wurde der Anspruch vom Zusammenhalt der Gesellschaft, der jeder Prüfung standhält, endgültig zerschlagen. Zur Schadensbegrenzung sah sich die israelische Regierung gezwungen, eine interne Untersuchungskommission einzusetzen – die Kahane-Kommission – die nicht nur Ariel Sharon für den Einsatz direkt verantwortlich machte (er war damals General, der die Truppen im Libanon befehligte), er hatte die Massaker vorbereitet und durchgeführt. Die Kahane-Kommission hatte auch die Verantwortung Israels im Bürgerkrieg im Libanon anerkannt.

Diese Demonstrationen haben nicht stattgefunden, weil viele Israelis plötzlich aus einem tiefen Koma erwacht waren. Dazu kam es, weil jahrzehntelang Fragen gestellt worden waren, die unbeantwortet blieben. Die kleinen Oppositionsgruppen, die jahrzehntelang, vor allem aber seit 1967, begannen, sich der Politik ihrer Regierung zu widersetzen, wurden damit für ihre jahrelange Arbeit und die vielen Anfeindungen belohnt. „Wir hatten gewonnen! Es war uns gelungen, eine Antikriegsbewegung in Gang zu setzen, die noch breiter wird. Zum ersten Mal führte Israel einen Krieg ohne Konsens. Die Wanderung durch die Wüste war endgültig zu Ende.“ [1] Es war Schluss mit der heiligen Einigkeit, mit dieser Einstimmigkeit, mit der jede abweichende Meinung, ja sogar jeder Schimmer eines Zweifels erstickt wird. Das, was in diesen Monaten des Jahres 1982 entstanden war, konnte – glücklicherweise – nur sehr schwer erneut unterdrückt werden.


Von Mythen gereinigte Geschichte


Israel wurde stets als eine von der Norm abweichende Form von Kolonialisierung dargestellt. Dabei wurde einerseits der alte Mythos bemüht, wonach im ersten, am 15. Mai 1948 erklärten Krieg gegen Israel die arabischen Länder die Palästinenser vertrieben hätten. Anderseits wurde die Erinnerung an die eigene Geschichte dem Kolonialisierungsprojekt angepasst.

Doch anfangs der 80er Jahre haben nach jahrzehntelanger Manipulation drei Prinzipien ihre mystische Aura verloren: die zionistischen Organisationen in der Zeit vor der Gründung des Staates Israel und ihre Rolle während des Genozids, d. h. in der dramatischsten Zeit in der Geschichte des europäischen Judentums; der Yishuv, d. h. die jüdische Gemeinde in Palästina vor 1948; und die Diaspora. Dank dem neuen Blick auf diese drei Elemente und dank deren Verknüpfung konnte die Geschichte neu gesehen werden.

Schon während der 1960er Jahre – also vor dem Krieg von 1967 – haben einige, insbesondere europäische, Juden versucht, sich die Erinnerung neu anzueignen und sich das Recht zu erkämpfen, darüber zu reden. Einer der wirkungsvollsten Versuche war zweifellos jener von Hannah Arendt, die mit ihrem Buch Eichmann in Jerusalem, Bericht über die Banalität des Bösen [2] das erste Mal die Rolle der jüdischen Gemeinden Europas und ihr zwiespältiges Verhältnis zu den Nazis reflektiert. Aber das Werk von Arendt hat nicht nur diese Eigenschaft. Ein weiteres großes Verdienst besteht darin, dass sie die Figur des „Ausrottungsbürokraten“ Adolf Eichmann in einen rationalen Rahmen stellt. Damit macht sie deutlich, dass es die Ausnahme nicht gibt. Viel später, im Sommer 2002, haben zwei Filmemacher, Eyal Sivan und Michel Khleifi ausgehend von dieser Schrift von Arendt den Konflikt völlig neu rekonstruiert. [3] Daraus ist ein über vierstündiger Film entstanden, von dem Khleifi sagte, er sei „eine kollektive Therapiesitzung“.

In der ersten Phase des Krieges – von 1947 bis 1949 – wurden die meisten PalästinenserInnen aus ihren Häusern vertrieben (sogar hier schwanken die Schätzungen je nach Quelle, aber die meisten liegen zwischen 800 000 und 1 Mio. Menschen). Diese Phase des Krieges wird jedoch als ein Teil in der langen Abfolge der sogenannten „gerechten Kriege“ gesehen. „Gerechter Krieg“, weil die Kollektivschuld Europas nach der „Entdeckung“ des Genozids an den europäischen Juden zur Folge hat, dass die Teilung Palästinas im November 1947 und die Gründung des jüdischen Staates als „Entschädigung“ gesehen werden. Nur wenige stellten damals die Frage nach der Verantwortung der PalästinenserInnen und der AraberInnen ganz allgemein bei der Planung dieser Ausrottung. Doch die Juden, die in der arabischen Welt lebten, hatten ihrerseits eine ganz andere Geschichte zu erzählen: die Geschichte der Kohabitation.

Es ist kein Zufall, dass „die Entschädigung für Europa“ jenen, die der Hölle des Nazi-Faschismus entkommen waren, einen Ort auf der Welt bot, der nicht den europäischen Imperialismen gehörte, den diese aber während Jahrhunderten mit großem Aufwand sich einzuverleiben suchten. […]


Nicht nur ein Fall für die Archive


Die massive Vertreibung der Palästinenser von 1947–1949, die die Gründung des Staates Israel möglich machte, wurde lange geleugnet. Schließlich wurde sie zu einem „Zwischenfall“, zu einem Grund für unvermeidlichen Krieg. Mit seinem Buch The Origin of Palestinian Refugees Problem, 1947–1949Benny Morris, The birth of the Palestinian refugee problem, 1947-1949, Cambridge University Press, 1988.bricht Benny Morris 1988 das Tabu. Mit fundierten Recherchen in Archiven zeigt er auf, dass es kein „Zwischenfall“ war, sondern eine geplante ethnische Säuberung. Schnell wurde klar, dass es hier um keine rein akademische Diskussion geht. […]

Wie war dies zu erklären? Was war geschehen? Weshalb sind die Palästinenser geflohen und vor allem, weshalb sind sie nicht zurückgekehrt? Im Großen und Ganzen kann man mit Jean-Paul Chagnollaud einig gehen, wenn er schreibt: „In bestimmter Weise ist diese Frage heute kaum mehr von Interesse, denn schlussendlich geht es nicht mehr darum zu wissen, weshalb sie gegangen sind, denn wir wissen heute ganz genau, weshalb sie nicht zurückkommen konnten.“ [5] Das ist tatsächlich der Kern der Sache. Die Tatsache, dass die Flüchtlinge nicht zurückkehren konnten, zeigt, was man mit Yishuv erreichen wollte. […]


Methodologie und Politik


Die Anerkennung ihrer eigenen historischen Verantwortung durch die israelische Seite ist ein Weg, der mit Schwierigkeiten gepflastert ist. Wird er weiterverfolgt, wird es zukünftig gleichviele, wenn nicht noch mehr Probleme geben.

Es ist nicht leicht, die dunklen, manchmal unsagbaren Seiten seiner eigenen Geschichte zu bilanzieren. Dies zeigt die komplexe Diskussion in Europa über unsere koloniale Vergangenheit – und Gegenwart. Die Entdeckung des Anderen ist immer für viele Neuland und im Allgemeinen schwer zu verdauen.

Die Israelis hatten und haben zwei Probleme. Einerseits ist es eine historische, geographische und kulturelle Tatsache, dass ihr Staat nur möglich war und ist, weil einem anderen Volk alle seine Rechte geraubt wurden. Anderseits ist es ebenso klar, dass das zionistische Projekt seit seinen Anfängen nur zum Preis der Selbstghettoisierung der israelischen Bevölkerung und der permanenten Unterdrückung der Palästinenser umgesetzt werden kann. Deshalb ist die Wiederherstellung der historischen Wahrheit weder ein Zuckerschlecken noch ein Luxus, auf den verzichtet werden könnte. Es geht um die Wahrheit über das komplexe zionistische koloniale Projekt und über die Mittel, die die zionistische Führung eingesetzt hat, um es umzusetzen. […]

Der Historiker Benny Morris stellte sich in einem Interview mit der großen israelischen Tageszeitung „Ha’aretz“ im Jahr 2004 auf die Seite der extremen Rechten und sagte, der größte Fehler Ben Gurions sei es gewesen, „keine große Vertreibung durchgeführt und nicht das ganze Land – die ganze Erde Israels bis zum Jordan – gereinigt zu haben“. [6] Aber der von Morris oben aufgezeigte Weg konnte weder beendet noch verboten werden.


Der Einfluss der Intifada


In dieser Diskussion haben natürlich die PalästinenserInnen eine große Rolle gespielt. Die erste Intifada, die am 9. Dezember 1987 im Gazastreifen begann, hat die Karten der zwanzigjährigen Besetzung völlig neu gemischt. Es gibt viele Gründe, weshalb die erste Intifada zum wichtigsten Moment des palästinensischen Kampfes wurde. Sie hatte mit Sicherheit mehr Einfluss auf die Weltöffentlichkeit als auf die öffentliche Meinung in Israel. Aber die Intifada vermochte letztere enorm zu verwirren. Die Israelis merkten plötzlich, dass die PalästinenserInnen „anders“ waren, als sie sie sich vorgestellt hatten. Doch was die Berichte in Israel verschwiegen, war, dass„die Intifada am 9. Dezember 1987 nicht wie ein Donner aus heiterem Himmel hereinbrach. Sie ist das Ergebnis eines langen Reifeprozesses. Sie ist der Ausbruch eines Ressentiments, das sich während 20 Jahren Besetzung und Repression angestaut hatte. Besetzung und Repression gingen von einem Unterdrückerstaat aus, der bereits 19 Jahre vor der Besetzung von 1967 nur mit der widerrechtlichen Aneignung des Großteils des palästinensischen Territoriums überhaupt gegründet werden konnte. Aus dieser historischen Perspektive gesehen markiert die Intifada auch den Moment, an dem eine neue Generation zur Aktion übergeht: die 3. Generation seit dem palästinensischen Exodus von 1948. Sie löste jene von 1967 ab, deren Symbol die Fedajin waren.“ [7]

Vor allem die israelische Linke war von der ersten Intifada enttäuscht. Sie verstand nicht, dass die PalästinenserInnen „ihre Anstrengungen“ nicht honorierten, was sie in eine Identitätskrise stürzte. „Nachdem es der linke Zionist gewagt hatte, die Existenz des Palästinensers anzuerkennen – auf die Gefahr hin, sich mit Mitgliedern seines eigenen Stammes zu überwerfen – wozu er übrigens über 40 Jahre gebraucht hat, versteht er nicht, dass dieser auch Rechte einfordert. Der Palästinenser muss ihm vertrauen, eines Tages wird er eine Lösung finden. Dies umso mehr, als ja jeder weiß, dass ihm seine Lage als Besatzer nicht behagt und er schon immer für die Trennung eingetreten war. Wenn der Besetzte, der Enteignete, der Flüchtling weiter hartnäckig für seine Rechte kämpft, beweist dies nur einmal mehr, dass er am Frieden gar nicht interessiert ist und dass er deshalb die Repression verdient, unter der er leidet! […]“ [8]

Klar wären die Archive auch ohne den Widerstand der Palästinenser geöffnet worden. Aber die Gedankenarbeit in der israelischen Gesellschaft hätte ohne diesen Anstoß auskommen müssen; es wäre bei einer akademischen Diskussion geblieben. Das Gegenteil ist eingetreten. Der palästinensische Widerstand – vor allem der tägliche Widerstand an den Hunderten von Check­points, gegen Monate dauernde Ausgehsperren, gegen geschlossene Schulen von den Krippen bis zu den Universitäten – hat trotz seiner Grenzen die israelische Gesellschaft gezwungen, ihre eigene Brutalität zu überdenken. Mit der Teilnahme praktisch der gesamten Bevölkerung an der Intifada hat sich in kurzer Zeit gezeigt, was seit Jahren versteckt war, was fast ausgelöscht wurde: der Andere. […]


Die Spaltung muss vertieft werden


Die sturen VerteidigerInnen der Politik Israels sehen bei jenen Juden der Diaspora, die nicht länger an einem Paradox festhalten wollen, eine Art Rückkehr „dieses berühmten jüdischen Selbsthasses, der das ewige Argument der Dummköpfe gegen jene ist, die – sei es noch so wenig – vom Weg des Stammes abweichen.“ [9] Doch viele von jenen, die heute innerhalb und außerhalb des israelischen Staates in Opposition zur Politik Israels stehen, tun dies „als Juden“, denn sie bewahren im Gedächtnis, was ihnen als kollektives geschichtliches Erbe auf den Schultern lastet. […]

      
Mehr dazu
Resolution des 16. Weltkongresses der IV. Internationale: Zur israelischen Offensive gegen Gaza und zur Solidarität mit dem Kampf des palästinensischen Volks, Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010)
Julien Salingue: Der Überfall Israels auf Gaza aus historischer Sicht, Inprekorr Nr. 448/449 (März/April 2009)
Jakob Taut: Über den Charakter des Zionismus und der palästinensischen Befreiungsbewegung, Inprekorr Nr. 342 (April 2000)
Position der IV. Inter­nationale zur Palästina-Frage, Inprekorr Nr. 29 (1. März 1974)
 

Mit dem Rückwärtsgang der israelischen Gesellschaft wurde der Andere beinahe vollständig entmenschlicht. Er wurde auf eine Bedrohung reduziert, die, wenn sie nicht ausgeschaltet wird, uns ausschaltet. Oder wie Enzo Traverso über die Erinnerung schreibt: „Auschwitz ist nicht Guantánamo: wenn diese unangefochtene Tatsache ständig wiederholt wird, wirft dies Fragen auf. Man bekommt den Eindruck, dass die Erinnerung an die Befreiung aus dem Konzentrationslager Auschwitz von einigen dazu benutzt wird, um zu sagen, dass Guantánamo im Grund genommen nicht so schlimm ist. Auschwitz und Guantánamo sollen nicht gleichgesetzt werden. Es sollte vielmehr die Frage gestellt werden, ob wir nach Auschwitz Guantánamo und Abu-Ghraib dulden dürfen (…).“ [10]

Die westliche Linke war, und ist es teilweise immer noch, zwischen der notwendigen Kritik an jeder Form von Rassismus und vor allem an jedem Anzeichen von Antisemitismus und der Unterstützung der Forderungen nach nationalen, zivilgesellschaftlichen und menschlichen Rechten des palästinensischen Volkes hin und her gerissen. Die Diskussion in Israel, die zum Glück noch nicht erstickt werden konnte, ist im Ausland im Allgemeinen wenig bekannt.

Dies zeigt sich besonders deutlich bei jenen Juden – Israeli oder nicht – die in einer Zeit, als keinerlei „Zweifel“ erlaubt waren, d. h. als die internationale Unterstützung für Israel fast einstimmig war, sehr klar und unzweideutig Stellung bezogen hatten: „Der lange Zug des Schreckens und des Elends, von dem die Geschichte der Menschheit geprägt ist und zu dem u.a. Treblinka und Auschwitz gehören, führt nicht zu den militärischen oder zivilen Kibbuzim [vom Autor hervorgehoben], sondern zu den Konzentrationslagern, wo das palästinensische Volk vegetiert und krepiert, das von den Israelis und einigen Verbündeten aus dem arabischen Lager ausgeraubt und geleugnet wird. In einem Wort: Gewisse Juden erklären sich mit den PalästinenserInnen solidarisch nicht trotz, sondern wegen [vom Autor hervorgehoben] ihrer Herkunft und wegen einer gewissen Logik, die sie dahinter sehen: eine Logik, die sie definitionsgemäß ins Lager der Unterdrückten führt.“ [11]

„Aufgrund ihrer Herkunft“… Diese Worte Liebmans sind heute eine ernste Warnung an jene, die diese Herkunft um jeden Preis leugnen und ihre Bedeutung auslöschen wollen. Im Gegenteil: Zum Erbe stehen heißt, die lebendige Geschichte von vielen von uns – Juden und Nichtjuden – aus den Museen herausholen, wo sie eingeschlossen werden soll.

Cinzia Nachira, Redakteurin der Zeitschrift Guerre & Pace, ist Mitglied des nationalen politischen Komitees der Partei Rifondazione Communista (PRC) und vertritt dort die Strömung Sinistra critica, der die Mitglieder der IV. Internationale Italiens angehören. Die vollständige Fassung dieses Artikels ist in der Sondernummer „Israel-Palästina“ von Inprecor erschienen (Nr. 517, Mai 2006; www.inprecor.org). Übersetzung und Überarbeitung: Redaktion Die Bresche, www.bresche-online.ch. Die Bearbeitung für die Inprekorr umfasst neben der Feminisierung der Personenbezeichnungen die Anpassung an die neue deutsche Orthographie.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 418/419 (September/Oktober 2006). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Michel Warshawski, Sur la frontière, Editions Stock, Paris, 2002, S. 134 (Übers. d. Red.). Das Buch ist in deutscher Sprache mit dem Titel An der Grenze, Edition Nautilus, 2004 erschienen.

[2] Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen, München 1996 (1964). (Orig.: Eichmann in Jerusalem. A Report On The Banality Of Evil. New York, The Viking Press, 1963).

[3] Film von Michel Khleifi und Eyal Sivan, Route 181 – Fragmente einer Reise in Palästina-Israel, 2003.

[4] Benny Morris, The birth of the Palestinian refugee problem, 1947-1949, Cambridge University Press, 1988.

[5] Jean-Paul Chagnollaud, Palestine: l’enjeu démographique, in: Révue d ’études palestiniennes, n° 7, printemps 1983. Zit. in : Gilbert Achcar, L ’Orient incendescent. Le Moyen-Orient au miroir marxiste, Editions Page deux, 2003, S. 267.

[6] Interview von Ari Shavit mit Benny Morris in der israelischen Tageszeitung Ha’aretz vom 8. Januar 2004. Eine vollständige französische Übersetzung dieses schrecklichen Interviews findet sich auf der Website der Association France Palestine Solidarité, unter http://www.france-palestine.org/article170.html

[7] Gilbert Achcar, La dynamique de l’Intifada, in: L’Orient incandescent (…), a. a. O., S. 226.

[8] Michel Warshawski, Sur la frontière, a. a. O., S. 194.

[9] Pierre Vidal-Naquet, Pour un ami disparu – Hommage à Marcel Liebman, in: Les juifs, la mémoire et le présent, Point, Paris, 1995, S. 496. Zit. in: Gilbert Achcar, Le dilemme israélien. Un débat entre juifs de gauche (Briefe von Marcel Liebman und Ralph Miliband), Editions Page deux und Fondation Marcel Liebman, Lausanne, 2006, S. 10-11.

[10] Enzo Traverso, Le passé, modes d’emploi. Histoire, mémoire, politique. Editions La Fabrique, Paris, 2005, S. 80-81.

[11] Marcel Liebman, Israël à 25 ans, in : Mai, n° 29, mai-juin 1973, S. 43. Zit. in: Gilbert Achcar, Le dilemme israélien (…), a. a. O., S. 11.