Israel/Palästina

Der Überfall Israels auf Gaza aus historischer Sicht

Die israelische Offensive gegen Gaza war keine Kurzschlusshandlung infolge der Raketenangriffe auf den Süden Israels, sondern eine groß angelegte und langfristig vorbereitete Aktion mit präzisen politischen und militärischen Zielen. Und es war alles unternommen worden, damit diese Operation nicht wieder so unglimpflich verlaufen sollte wie der Libanonkrieg im Sommer 2006. Letztlich war sie nur ein weiterer Schritt in der systematischen Bekämpfung der nationalen Rechte des palästinensischen Volkes, die der israelische Staat seit Jahrzehnten betreibt. Insofern müssen die gegenwärtigen Ereignisse in diesem historischen Zusammenhang gesehen werden, und es soll aufgezeigt werden, dass damit nicht nur die tragische Perspektivlosigkeit der zionistischen Staatsidee zum Ausdruck kommt, sondern ebenso, dass der Aufbau eines Pseudostaatsapparats namens „palästinensische Autonomiebehörde“ zum Scheitern verurteilt ist.

Julien Salingue


Das Staatskonzept des Zionismus


Um das gegenwärtige Chaos in dem früheren Mandatsgebiet Palästina zu verstehen, muss man einen Rückblick auf die geschichtliche Entstehung werfen. Letzten Endes rührt die permanente Instabilität in dieser Region aus dem unlösbaren Widerspruch zwischen der zionistischen Idee, einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen, und der Anwesenheit einer angestammten Bevölkerung auf diesem Gebiet, die auf ihren nationalen Rechten beharrt. Dieser grundlegende Widerspruch generiert immer wieder aufs Neue Konflikte, angefangen bei dem großen arabischen Aufstand 1936 gegen die forcierte jüdische Besiedlung, über den Exodus 1947–49 und die sogenannten Friedensabkommen von 1993–94 bis hin zu den laufenden Angriffen auf Gaza.

Es war niemals die Absicht der zionistischen FührerInnen, das Land Palästina zu teilen. Das Hauptziel blieb immer die israelische Souveränität über das gesamte aus dem britischen Mandat hervorgegangene Palästina. Dafür stehen die Worte des israelischen Staatsgründers David Ben Gurion: „Die Hinnahme der Teilung verpflichtet uns nicht zum Verzicht auf das Westjordanland. Niemand kann gezwungen werden, auf seine Vision zu verzichten. Wir werden einen Staat in den heute festgelegten Grenzen akzeptieren, aber die Ansprüche des Zionismus auf die Staatsgrenzen sind Sache der Juden allein, und niemand wird uns von außen reinreden.“ – bis hin zu Ehud Olmert, dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten: „Jeder Hügel von Samaria und jedes Tal von Judäa sind integraler Bestandteil unseres historischen Vaterlandes … Wir fordern entschieden das historische Recht des Volkes von Israel auf das gesamte Territorium von Israel“.

Für dieses Ziel benötigte und benötigt die zionistische Bewegung noch immer die Unterstützung der Großmächte. Aber diese Unterstützung hat auch ihren Preis: Israel muss zumindest den Anschein wahren, ein demokratischer Staat zu sein. Dieser Anspruch, zugleich demokratischer und jüdischer Staat zu sein, musste umgehend weitere Widersprüche hervorbringen. Das von den Führern der zionistischen Bewegung und später vom israelischen Staat propagierte Konzept besagte, dass die Staatsbürger ganz überwiegend, wenn nicht ausschließlich, Juden sein müssen. Daher mussten sie sich zwangsläufig bereits vor der Unabhängigkeit Israels 1948 mit der „Palästinenserfrage“ auseinandersetzen, wohl wissend, dass Palästina kein bevölkerungsfreies Land war und eine jüdische Bevölkerungsmehrheit nicht durch Einwanderung allein geschaffen werden konnte.


Von der ethnischen Säuberung hin zur Einpferchung


Zwischen 1947 und 1949 wurden ca. 800 000 Palästinenser und damit 80 % der Bevölkerung des Territoriums, auf dem Israel seine Unabhängigkeit proklamierte, vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht. Dies waren keine „Kollateralschäden“ des Krieges von 1948, sondern die Folgen einer minutiösen Planung, dem Daleth-Plan, der nur ein Ziel hatte: so viel Land und so wenig AraberInnen wie möglich unter israelischer Hoheit. Geburtshelfer des jüdischen Staates war eine ethnische Säuberung, an deren Ende sich weniger als ein Drittel der Bevölkerung 78 % der Fläche des palästinensischen Staatsgebiets angeeignet hat.

Der Krieg von 1967 war der zweite Schritt zur Übernahme der Kontrolle Palästinas durch Israel. Israel eroberte u. a. das Westjordanland und den Gazastreifen. Der militärische Sieg wurde schneller und leichter errungen als 1947-49, aber es gab einen bedeutsamen Unterschied: Die meisten PalästinenserInnen sind nicht außer Landes gegangen. Insofern schuf der militärische Erfolg ein politisches Problem: Außer den PalästinenserInnen von 1948 lebten nunmehr die aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen auf israelischem Gebiet. Damit geriet der Anspruch Israels, zugleich jüdischer und demokratischer Staat zu sein, in ernste Gefahr.

Um diesen Widerspruch aufzulösen unterbreitete General Jigal Allon von der Arbeitspartei dem Ministerpräsidenten Levi Eschkol gleich im Juli 1967 einen Alternativvorschlag zur Vertreibung, um die internationale Unterstützung Israels nicht zu gefährden. Der Allon-Plan sah vor, auf die Staatshoheit in den dichtest bevölkerten palästinensischen Gebieten zu verzichten und zugleich eine komplette Kontrolle über das Jordantal, das Westufer des Toten Meeres und Jerusalem herzustellen und deren Verwaltungsgrenzen zugleich erheblich auszudehnen. Somit sollte ein mit begrenzten Hoheitsrechten ausgestattetes Palästinensergebiet auf nicht zusammenhängendem Gebiet (Enklaven) geschaffen werden.

Selbst wenn der Allon-Plan niemals von Israel offiziell abgesegnet wurde, bestimmte er doch in groben Zügen die Politik des zionistischen Staates nach 1967. Mit der Schaffung von Kolonien, dem Bau von Straßen zur exklusiven Nutzung der Siedler und der Zerstückelung des Westjordanlands wurden die Absichten Allons konkret umgesetzt. Die Osloer Verträge und die Teilung des Westjordanlands in die Zonen A, B und C sind unmittelbar davon beeinflusst. Selbst General Sharon, ein wütender Verfechter der Vertreibung, kam schließlich nicht umhin, den Allon-Plan mutatis mutandis umzusetzen. Dies steckt auch hinter dem „einseitigen Rückzug“ aus Gaza 2005, der alles andere als eine „Geste des Friedens“, sondern lediglich eine pragmatische Entscheidung dafür war, ein übervölkertes Palästinensergebiet preiszugeben und abzuriegeln. Auch der Mauerbau, der korrekt als Verzicht auf eine Annexion des gesamten Westjordanlandes verstanden wurde, war letztlich der Abschluss des Allon-Plans und der Zerstückelung Palästinas.


Oslo oder die Kapitulation der palästinensischen Autonomiebehörde


Die Osloer Verträge bergen keinen historischen Kompromiss sondern waren eine bloße Anpassung des zionistischen Konzepts an die Realitäten vor Ort: durch die Intifada von 1987 war die unerträgliche Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten an die Öffentlichkeit gedrungen und dadurch die Legitimität des israelischen Staates und die Stabilität des Nahen Ostens in Frage gestellt worden. Die neue Weltordnung, die Bush senior seinerzeit vorschwebte, basierte notwendigerweise auf einer – und sei es provisorischen – Befriedung der Region und damit einer israelisch-palästinensischen Einigung. Die pragmatischsten unter den Israelis waren bereit, mit der PLO-Führung [1], die politisch und finanziell abgewirtschaftet hatte, zu verhandeln oder vielmehr ihnen Verträge aufzuoktroyieren, die im Wesentlichen Wirtschafts- und Sicherheitsfragen betrafen: Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Ländern und Bestellung der neu gegründeten palästinensischen Autonomiebehörde (PA) als innerer Ordnungsfaktor in den Städten.

Die PA bemühte sich unter der Führung von Jassir Arafat, ihren Verpflichtungen so gut wie möglich nachzukommen, aber die anhaltende Kolonisierung und Repression und die fruchtlosen Verhandlungen über Jerusalem und die Flüchtlingsfrage einerseits und das autoritäre Gebaren und die mitunter mafiöse Vetternwirtschaft der Palästinenserführung andererseits führten 2000 zwangsläufig zu einer neuerlichen Palästinenserrevolte. Arafat versuchte mit seiner Gefolgschaft den Aufstand einzudämmen, indem er die autonom organisierten Strukturen aushöhlte und die Militarisierung des Kampfes vorantrieb, um das Terrain nicht der Hamas zu überlassen, seine Position gegenüber Israel zu stärken und Zugeständnisse über die von den USA und Israel gewährten Almosen hinaus zu erhalten. Dies veranlasste Ariel Sharon, die PA zu zerschlagen und Arafat zu isolieren, wobei er sich gleichzeitig bereit zeigte, mit anderen palästinensischen Führern, die wie Mahmud Abbas [alias Abu Mazen] gegen die Intifada eingestellt waren, Gespräche zu führen.

Israel und die USA zwangen die PA zu Reformen, um diejenigen Palästinenserführer zu isolieren, die mit der Geschichte des Befreiungskampfes am engsten verbunden waren. Außerdem erzwangen sie für 2005 und 2006 Wahlen, die eine neue und noch willfährigere Führung hervorbringen sollten. Das Resultat ist bekannt: eine regelrechte Intifada auf Wahlebene mit dem Sieg der Hamas, die als „prinzipielle Alternative“ auftreten konnte, indem sie materielle Unterstützung für die Bevölkerung (Krankenhäuser, Schulen, Geldzuwendungen) mit heftiger Kritik an den bisherigen Verhandlungen und der Fortsetzung des Widerstands gegen Israel verband. Das Wahlergebnis drückte indirekt die Ablehnung von Kollaboration und Kapitulation durch die Bevölkerung aus und war zugleich eine schallende Ohrfeige für all diejenigen, die den PalästinenserInnen eine autoritäre und den israelischen Interessen verbundene Herrschaft aufdrücken zu können hofften.


Vom Boykott zum Putsch


Bereits kurz nach den Wahlen setzte ein wirtschaftlicher, politischer und diplomatischer Boykott ein, der die internationale Isolierung der PalästinenserInnen erheblich verstärkte und ihre Lebensbedingungen verschlimmerte. Organisiert wurde er gemeinsam von der EU, den USA, Israel und der Mehrzahl der arabischen Regierungen. Im Sommer 2006 kam noch verschärfend eine israelische Offensive gegen den Gazastreifen als Hochburg der Hamas hinzu. Das Ziel war es, die Hamas zu isolieren und ihr die Verantwortung für die Verschlechterung der Bedingungen zuzuschieben, um so die Bevölkerung gegen sie aufzuwiegeln. Dieses Ansinnen scheiterte, weil die Popularität der Hamas dadurch eher zunahm.

Daher griffen Israel und seine Verbündeten zu Plan B, nämlich die Hamas militärisch zu stürzen. In Washington wurde vom State Department, der CIA, dem israelischen Geheimdienst und der Umstürzlerfraktion der PA um den Fatah-Abgeordneten Mohammad Dahlan (und damit der indirekten Unterstützung durch Präsident Abbas) ein Plan ausgearbeitet. Vorgesehen war, einige Hundert Gefolgsleute von Dahlan in Ägypten und Jordanien auszubilden und zu bewaffnen, um sie dann in den Gazastreifen zu schleusen, wo sie auf die bereits vorhandenen Milizen Dahlans treffen und sie mit Waffen ausstatten sollen. Gemeinsam sollten sie dann die Hamas stürzen und den „Freunden“ Israels und der USA wieder zur Macht verhelfen. Die Hamas, die den Braten gerochen hatte, entschloss sich, dem Plan zuvorzukommen, schlug die Putschisten in knapp zwei Tagen nieder und zwang sie in die Flucht.

Seither ist das Palästinenserterritorium politisch zweigeteilt: die Hamas festigte ihre Macht im Gazastreifen, der umringt und von der Welt abgeschnitten war. Dabei gebrauchte sie auch repressive Maßnahmen (Verhaftungen, Verbot von Zeitungen …) gegenüber anderen politischen Kräften und weigerte sich, selbst Organisationen, die am Widerstand (gegen Israel) festhielten, an der Macht zu beteiligen. Im Westjordanland nominierte Abbas Salam Fayyad, einen ehemaligen Spitzenfunktionär des IWF und der Weltbank, als Ministerpräsidenten. Im Gegenzug zu der Wiederaufnahme der internationalen Subventionen betrieben sie eine Politik, die die Normalisierung der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Beziehungen zu Israel mit der Repression gegen die Hamas, der Entwaffnung der Widerstandskämpfer und der Säuberung in den Reihen der Sicherheitsapparate verband.

Trotz der Wiederaufnahme der internationalen Subventionen waren Abbas und Fayyad nicht in der Lage, die israelischen „Friedenspläne“ der gesamten Bevölkerung – namentlich in Gaza – aufzuerlegen. Darüber hinaus rückte ein Stichtag näher, der wohl in Vergessenheit geraten war: Das Präsidentschaftsmandat von Abu Mazen endete am 9. Januar 2009 und nach den gesetzlichen Bestimmungen wird der Präsident des Palästinensischen Legislativrats PLC [2] automatisch Präsident der PA, sofern keine Neuwahlen stattfinden. Und der Präsident des PLC ist niemand anderer als Abd al Aziz Duwaik, Mitglied der Hamas, die sich folglich darauf berufen kann, die einzige legitime Vertretung des palästinensischen Volkes zu sein.


Die Offensive gegen Gaza


Trotz der Bereitwilligkeit der Hamas, die während des Waffenstillstands keine Raketenangriffe durchführte und militärische Aktionen anderer Organisationen auch durch Festnahmen zu unterbinden suchte, hielt Israel daran fest, die Schlagkraft der Widerstandsbewegung zu brechen, und beschloss daher eine militärische Offensive mit präzisen Zielen und Timing.

Das Datum war nicht zufällig gewählt: ein dreiwöchiges Machtvakuum in den USA (was Israel freie Hand ließ), Urlaubszeit für zahlreiche westliche JournalistInnen (die den Gazastreifen verlassen hatten und nicht zurückkehren konnten), Wahlkampf in Israel (das Gespann Livni–Barak will zeigen, dass es dem Hardliner Netanyahu nicht nachsteht) und Ende des Mandats für Abu Mazen. Insofern war die Jahreswende das ideale Zeitfenster für Israel zuzuschlagen.

Aber niemand konnte ernsthaft davon ausgehen, dass sich der zionistische Staat die politische und militärische Zerstörung der Hamas erhoffte. Es ging ihnen vielmehr darum, die Hamas zu schwächen und sie zu hindern, die Machtposition von Abu Mazen nach Ende seines Mandats anzutasten. Zudem sollte ein „Waffenstillstand“ nach israelischen Bedingungen neu verhandelt werden, was nach Einschätzung von immer mehr BeobachterInnen beinhaltet, dass internationale Truppen unter ägyptischem Kommando entsandt werden sollen, um „Ruhe“ in Gaza zu gewährleisten, d. h. die Hamas „unschädlich“ zu machen.

Hinter den vorgeschobenen Gründen (die Raketenangriffe hatten seit September 2000 noch keine 20 Menschenleben gefordert) schimmert das eigentliche Ziel der zionistischen Führung durch: Wenn man das palästinensische Volk schon nicht loswerden kann, dann kann es nur in Bantustans ertragen werden und unter der Voraussetzung, dass diese Enklaven nicht von antiisraelischen Kräften kontrolliert werden. Die jüngste Offensive war insofern ein blutiger „Erzwingungsschlag“ auf Hamas und die palästinensische Bevölkerung nach dem Motto „Kapituliert, oder ihr werdet die Hölle kennen lernen!“

Die Offensive gegen Gaza steht demnach in der Kontinuität der israelischen Politik der letzten 60 Jahre: Dem palästinensischen Volk und seinen Führern soll gezeigt werden, dass es nur in eingezäunten Reservaten zu ertragen ist und darüber hinaus nichts zu erhoffen hat. Und dass einzig Israel die Spielregeln bestimmt, über die Regierung befindet, unbotmäßige Kräfte eliminiert oder bedroht, die Sicherheitskräfte nach Gutdünken be- oder entwaffnet und die Pforten zu den Enklaven öffnet oder schließt.


Rekurs auf die Grundwidersprüche


Der Gazastreifen wird ganz vornehmlich von Flüchtlingsfamilien bevölkert, die 1947–49 von ihrem Land vertrieben wurden. Dieses kleine Fleckchen Erde, Wiege der ersten Intifada und Bastion des bewaffneten Widerstands, spiegelt die eigentliche Natur des jüdischen Staates in Palästina und die immanenten Widersprüche des dahinterstehenden Konzepts wider: Vertreibung, Repression und Internierung sind substantiell mit der Errichtung und dem Überleben des Staates Israel verbunden und können andererseits ein Volk und dessen Erwartungen nicht einfach unter den Tisch kehren. Operationen wie der jüngste Angriff auf den Gazastreifen sind bloß notwendiger Ausdruck dieser Flucht Israels nach vorn angesichts dieser Widersprüche: Israel ist entstanden aus der Verneinung der Rechte des palästinensischen Volkes und kann seither nur überleben, indem es sie weiter und jeden Tag mehr negiert. Die Zukunft des Staates basiert somit auf Zeitbomben, die früher oder später explodieren werden.

      
Mehr dazu
Resolution des 16. Weltkongresses der IV. Internationale: Zur israelischen Offensive gegen Gaza und zur Solidarität mit dem Kampf des palästinensischen Volks, Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010)
Julien Salingue: Überlegungen zur israelischen Besatzung, zur Palästinenserbehörde und zur Zukunft der Nationalbewegung, Inprekorr Nr. 1/2011 (Januar/Februar 2011)
Cinzia Nachira: Risse in der zionistischen Mythologie und Fragen zur Identität, Inprekorr Nr. 418/419 (September/Oktober 2006)
Nicolas Qualander: Neuer palästinensischer Nationalismus?, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Christian Picquet: Krisenabstimmung, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Interview mit Mohammad Jaradat (BADIL): Zwischen Hamas-Sieg und dem Diktat Israels und des Westens, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Jakob Taut: Über den Charakter des Zionismus und der palästinensischen Befreiungsbewegung, Inprekorr Nr. 342 (April 2000)
Position der IV. Inter­nationale zur Palästina-Frage, Inprekorr Nr. 29 (1. März 1974)
 

Seit dem Wahlsieg scheint ein bedeutender Flügel der Hamas-Führung gewillt, seine „Kooperativität“ unter Beweis zu stellen und seine Durchsetzungskraft auf den Gebieten, an denen die PA gescheitert ist: die Palästinensergebiete zu kontrollieren und die Einhaltung des Waffenstillstands trotz fortdauernder Belagerung und Kolonisierung zu erzwingen. Diejenigen, die sich in ihren Träumen als Führer der künftigen palästinensischen Bantustans wähnten, haben sich umsonst bemüht: Israel wird die Macht nicht mit einer Bewegung oder Einzelpersonen teilen, die auch nur im Ansatz den Kampf gegen die koloniale Unterdrückung fortsetzen möchten. Die Verlautbarungen von Abu Mazen zu Beginn der Offensive sind hierfür bezeichnend. Darin hat er die Verantwortung der Hamas für die israelische Offensive auf Gaza hervorgehoben, so wie weiland der Hariri-Clan in Libanon, der die Hisbollah beschuldigt hatte, für den Krieg der Israelis 2006 verantwortlich zu sein. Die PA und Fatah waren bemüht, die Solidaritätskundgebungen im Westjordanland mit Gaza im Zaum zu halten und zu kanalisieren, wobei sie nicht davor zurückschreckten, die Demonstranten am Vordringen zu den Stellungen der israelischen Armee zu hindern und zahlreiche Verhaftungen vorzunehmen. Damit haben sie ihre Autorität noch ein Stück weiter untergraben.

Der PA sollte nach den Osloer Verträgen die Funktion zukommen, den Widerstand der palästinensischen Bevölkerung zu neutralisieren und zugleich den Anschein einer Autonomie zu wahren, von der aus sie als legitimer Verhandlungsführer auftreten konnte. Die Gründung der PA war ein untauglicher Versuch der zionistischen Bewegung, den Widerspruch zwischen der Existenz des jüdischen Staates und der Anwesenheit der Palästinenser aufzulösen. Wer – wie die Hamas – geglaubt hat, die PA von Innen heraus umfunktionieren zu können, ist inzwischen eines Besseren belehrt: Das Problem liegt nicht so sehr in den Einzelpersonen und ihrer Skrupellosigkeit oder Kollaborationsbereitschaft als vielmehr in der Pseudoautonomie, die nur eine Fortdauer der Besatzung mit anderen Mitteln ist. Inzwischen werden in Palästina etliche Stimmen laut, die das Gebot der Stunde erkennen, nämlich den Widerstand neu aufzubauen (Schaffung kämpferischer Einheitsstrukturen von Unten, vereinigtes Kampfkommando, von der PA unabhängige Gewerkschaften, Landwirtschaftskooperativen, Dorfkomitees …) statt vor die Alternative gestellt zu werden, entweder liquidiert zu werden, wenn auf den Rechten der PalästinenserInnen weiter beharrt wird, oder einen sterilen Kampf um die Kontrolle eines Pseudostaatsapparats zu führen, der sich für ein Abkommen hergibt, das die Schaffung von Enklaven zementiert, und der letztlich nur die Drecksarbeit für die israelische Armee übernimmt.

Saint-Denis, 6. Januar 2009
Julien Salingue, Mitglied der IV. Internationale und der NPA in Frankreich, unterrichtet und promoviert an der politologischen Fakultät in Paris.
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 448/449 (März/April 2009). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Die PLO wurde 1964 von den arabischen Regimes und namentlich von Ägypten unter Nasser gegründet und wird seit 1969 von der Fatah kontrolliert. In ihr sind vorwiegend Vertreter aller palästinensischen Fraktionen mit Ausnahme der islamistischen Bewegungen (Hamas und Dschihad) zusammengeschlossen. Nachdem sie lange als legitime Führung der palästinensischen Nationalbewegung gegolten hatte, hat sie mit der Gründung der PA 1993-94 viel von ihrer Autorität eingebüßt.

[2] Der Palästinensische Legislativrat (PLC) ist durch die Osloer Verträge entstanden. Er stellt die parlamentarische Vertretung in den besetzten Gebieten (Gaza und Westjordanland) dar und ist mit äußerst begrenzten Vollmachten angesichts der weitreichenden präsidialen Befugnisse ausgestattet. Erstmals wurde er 1996 gewählt (88 Abgeordnete, davon 64 Mitglieder oder Sympathisanten der Fatah) und nochmals 2006 (132 Abgeordnete, darunter 74 Mitglieder der Hamas und 45 der Fatah).