Frankreich

Vereinigen, um gemeinsam etwas Neues aufzubauen

Interview mit Olivier Besancenot

 Gibt es in der Geschichte der französischen oder internationalen Arbeiterbewegung ein Beispiel für den Aufbau einer Neuen Antikapitalistischen Partei (NAP), wie sie auf dem Kongress der LCR projektiert worden ist?

Wir haben nicht den Anspruch, das Rad neu zu erfinden. Aber in der Tat ist dieses Projekt in gewisser Hinsicht beispiellos. Es passiert nicht oft, dass eine politische Organisation, die nicht nur nicht abgewirtschaftet hat, sondern durchaus Erfolge verzeichnet, ihre eigene Auflösung anstrebt. Es geht natürlich nicht darum, die Gewinne und Verluste unserer Geschichte als politische Strömung zu bilanzieren. Wir wollen vielmehr eine neue Seite aufschlagen – zusammen mit Anderen. Mit vielen Anderen. Es geht auch nicht um eine bloße Fusion mit anderen politischen Strömungen, obwohl wir uns selbstverständlich nicht der Diskussion mit allen, die an diesem Projekt interessiert sein könnten, verwehren wollen. Letztlich gründet unser Projekt auf der Analyse der geänderten Verhältnisse, die sich namentlich aus dem Ausmaß der Krise der Arbeiterbewegung ergeben. Und auf der Annahme, dass es sowohl dringlich als auch realistisch ist, neue Wege zu beschreiten. Dringlich deswegen, weil einerseits die Unternehmer in der vollen Offensive sind und andererseits die etablierte Linke ein völliges Vakuum hinterlassen hat. Und realistisch deswegen, weil trotz der vorläufigen Erfolge der Unternehmer und der Rechten die betroffenen Bevölkerungsschichten weiterhin eine beachtliche Widerstandsfähigkeit unter Beweis stellen und auch eine gewisse Aufbruchsstimmung herrscht.

 Die NAP beabsichtigt, Strömungen der radikalen Linken verschiedener Provenienz zu integrieren. Setzt diese Integration voraus, dass das theoretische Erbe ausdrücklich diskutiert wird, oder ist es möglich, dass nur die gemeinsame Praxis und die Übereinstimmung in den konkreten Kämpfen ausschlaggebend sind?

Es ist sicherlich interessant, über die Verschiedenheit der ideologischen und historischen Bezüge zu diskutieren, und diese Debatte wird wohl noch lange andauern. Aber dies darf nicht der Ausgangspunkt sein, zumal es vorrangig darum geht, diejenigen zusammenzubringen, die gerade nicht auf eine langjährige Parteizugehörigkeit zurückblicken können und sich keiner dieser Traditionen zurechnen. Einer der Hauptgründe – wenn auch nicht der einzige –, weswegen die bisherigen Versuche gescheitert sind, die unterschiedlichen antikapitalistischen Strömungen zu vereinigen, liegt darin, dass die Initiative nur von oben ausging und daher zwangsläufig alte Differenzen zum Tragen kamen. Diesmal wollen wir anders vorgehen, nämlich auf der Grundlage einer gemeinsamen Praxis, heute bereits gemeinsam geführter Kämpfe und Aktionen der Gegenwehr, die uns täglich einen. In dieser Praxis zeichnen sich bereits die Umrisse ab, wie eine radikale und revolutionäre Änderung der Gesellschaft aussehen könnte.

 Wie wird sich die NAP gegenüber den bestehenden politischen Institutionen verhalten? Sieht sie beispielsweise ihre Aufgabe darin, auf kommunaler oder regionaler Ebene mit zu verwalten, sei es durch Bündnisse mit anderen linken Parteien oder als unabhängige Kraft?

Die Beteiligung an den Institutionen und der Verwaltung ist keine Grundsatzfrage. Die Sozialliberalen und ihre Verbündeten machen uns gern zum Vorwurf, dass wir unsere Hände nicht durch die Übernahme politischer Verantwortung schmutzig machen wollen. Dies trifft so nicht zu. Es ist nicht unser Anliegen, tatenlos und ohnmächtig zuzusehen, sondern unser Ziel ist sehr wohl, politische Maßnahmen, die wir verteidigen, auch mit umzusetzen. Aber wir wollen dabei nicht als Feigenblatt für die neoliberale Politik der „Linken“ fungieren. Und genau darin liegt der springende Punkt, der uns von vielen „antineoliberalen“ Strömungen unterscheidet. Unser Anliegen ist nicht, in einer Koalition (mit der PS) mitzuwirken, die, wenn sie auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene an der Macht ist, jeden Tag in der Woche eine Politik umsetzen würde, gegen die wir dann am Wochenende auf die Straße gehen müssten. Die Grünen und die PCF haben dies vor einigen Jahren in der Regierung Jospin versucht. Die Resultate sind bekannt: sie sind damit gescheitert und haben obendrein das politische Engagement als solches diskreditiert. Eine Umverteilung der Reichtümer zugunsten der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, die diese Reichtümer erst durch ihre Arbeit schafft, durchzusetzen, führt zwangsläufig zu einer Konfrontation mit der kleinen Minderheit, die sich heute dieser Reichtümer bemächtigt. Insofern müssen die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft entsprechend vorhanden sein und nicht nur in den Institutionen.

 
   
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 Wird die NAP eine revolutionäre Partei sein so wie die LCR und,wenn ja, welcher Sinn kommt diesem Wort unter den heutigen Bedingungen zu?

Revolutionär und „revolutionär wie die LCR“? Sicherlich nicht! Andernfalls würde man weitermachen wie bisher – und auch die LCR beibehalten – bloß besser halt. Natürlich bedarf es einer gemeinsamen Basis: das Eintreten für radikale Vorschläge, die Opposition zum kapitalistischen System, das entschiedene Engagement in den Mobilisierungen, die politische Unabhängigkeit gegenüber der PS. Diese gemeinsame Basis wird sich nicht a priori auf alle taktischen und strategischen Fragen erstrecken. Einige Fragen werden offen bleiben. Aber wir glauben, dass es Zehntausende von Menschen gibt, die bereit sind, eine Partei für die Kämpfe und Mobilisierungen aufzubauen. Eine Linke, die nicht locker lässt angesichts der Angriffe auf der Rechten und der Nachgiebigkeit auf der Linken. Eine neue politische Vertretung für die arbeitende Bevölkerung, die Jugend und die Opfer jedweder Unterdrückung. Eine Linke, die sich nicht damit begnügt,die Schäden der kapitalistischen Globalisierung zu begrenzen, sondern für immer mit dem System Schluss machen und die Gesellschaft radikal ändern will. Und – um es genau zu sagen – eine andere Gesellschaft will. Diesen Zehntausenden, die wie wir bereit sind, die Gesellschaft zu revolutionieren, wollen wir nicht unsere Vergangenheit aufdrücken, weder die Geschichte des Trotzkismus im Allgemeinen noch die der LCR im Besonderen. Wir wollen sie vielmehr vereinigen, um gemeinsam etwas Neues aufzubauen.

Olivier Besancenot ist einer der Sprecher der LCR und Mitglied ihrer Leitung. Als Präsidentschaftskandidat der LCR hat er 2002 und 2007 1,2 Mio. (4,5%) bzw. 1,5 Mio. (4,2%) der Stimmen erhalten.
Das Interview wurde auf dem 17. Kongress der LCR im Januar 2008 für die Schweizer Zweimonatszeitung Solidarités (Nr. 122 v. 6.2.08) von Razmig Keucheyan durchgeführt.

Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 438/439 (Mai/Juni ).