Alex Callinicos
Die Geschicke der radikalen Linken divergieren seit einigen Jahren sehr stark. Das wichtigste Negativbeispiel lieferte Italiens Partito della Rifondazione Comunista. Jene Partei, die Genua und Florenz so sehr geprägt hatte, bog nach 2004 nach rechts ab und trat in die Mitte-Links-Regierung von Romano Prodi ein, die für kurze Zeit, zwischen 2006 und 2008, im Amt war. PRC-Abgeordnete und Senatoren stimmten für Prodis neoliberales Wirtschaftsprogramm und für die Beteiligung italienischer Truppen an der Besetzung Afghanistans und an der UN-„Friedensmission“ im Libanon. Dafür wurden sie bei den Parlamentswahlen im April 2008 mit dem Verlust aller Mandate bestraft.
Auch anderswo hat die radikale Linke Rückschläge erlitten. Die erste schottische Sozialistische Partei, und danach Respect, spalteten sich, und als die rivalisierenden Fragmente dann gegeneinander kandidierten, erzielten sie, wie vorauszusehen war, ganz mickrige Ergebnisse. [1] Die dänische Rot-Grüne Allianz verlor zwei ihrer sechs Sitze bei den Parlamentswahlen im November 2007.
Glücklicherweise gibt es auch positivere Entwicklungen. Die spannendste war die Initiative der französischen Ligue Communiste Révolutionnaire zur Gründung einer Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA). DIE LINK in Deutschland – ein Ergebnis des Zusammenkommens dissidenter Sozialdemokraten in den westlichen Bundesländern mit der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), Erbin der alten herrschenden Partei der DDR – hatte ihren Gründungskongress im Juni 2007. Es gelingt ihr nach wie vor, Teile der SPD-Wählerbasis für sich zu gewinnen.
Und sogar in Italien, wo der Zusammenbruch der radikalen Linken die katastrophalsten Ausmaße annahm, ist der Trend nicht durchgängig negativ. Als Reaktion auf das Wahldebakel bewegte sich die PRC auf ihrem Bundeskongress im Juli 2008 nach links. Bertinotti und seine Verbündeten wurden von einer Koalition linker Strömungen, angeführt von Paolo Ferrero, geschlagen. Die Delegierten, die auf gut besuchten Versammlungen mit insgesamt 40 000 TeilnehmerInnen mandatiert wurden, verabschiedeten ein Schlussdokument, das „einen Linksruck“ fordert und das Ende der „organischen Zusammenarbeit [mit der Mitte-Links-gerichteten Demokratischen Partei] bei der Regierung des Landes“ verkündet.
Es ist dennoch der Fall, dass das noch vor wenigen Jahren vorherrschende Gefühl, Teil einer breiten, vorpreschenden Bewegung zu sein, einem Gefühl des Auseinandergehens gewichen ist. Warum diese Veränderung? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die treibenden Kräfte hinter dem Aufstieg vor allem der europäischen radikalen Linken verstehen. Wir können zwei Hauptkoordinaten ausmachen. Erstens die Entstehung eines Massenwiderstandes gegen Neoliberalismus und Krieg, beginnend mit den Streiks im Öffentlichen Dienst in Frankreich im Jahr 1995 und durch Seattle neu beflügelt. Zweitens die Erfahrungen mit dem Sozialliberalismus: sozialdemokratische Regierungen, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auf einer Welle der allgemeinen Ablehnung des Neoliberalismus überall in Europa ins Amt gewählt wurden und dann selbst die neoliberale Politik fortsetzten – und mancherorts sogar weiter gingen, als es ihre Vorgänger wagten, wie New Labour unter Tony Blair in Großbritannien und die rot-grüne Koalition unter Schröder in Deutschland.
Die Rechtsentwicklung der Mainstream-Sozialdemokratie schuf neuen Raum zu ihrer Linken. Gleichzeitig erzeugte der Neuaufschwung der Kämpfe einen Druck, diesen Raum zu füllen. Verschiedene politische Gebilde mit sehr unterschiedlicher Vergangenheit und Traditionen nahmen es auf sich, diesen Raum einzunehmen. In der Regel taten sie dies nicht auf der Grundlage eines explizit revolutionären Programms. In manchen Fällen handelte es sich um eine taktische Wendung von Organisationen der radikalen Linken, um neue Verbündete und eine größere Zuhörerschaft zu gewinnen. Aber in vielen Fällen waren die Anführer der neuen Formationen selbst Reformisten, die das Ziel verfolgten, eine „authentischere“ Sozialdemokratie neu zu beleben, nachdem diese in ihren Augen von Blair, Schröder und Co. korrumpiert worden war.
Die Entstehung dieser radikalen Linken war eine sehr positive Entwicklung und von enormer Tragweite. Sie bot die Gelegenheit für eine Neuformierung der Linken auf einer wesentlich prinzipienfesteren Basis als die, die die sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien noch in ihrer Blütezeit boten. Dieser positive Schritt brachte allerdings spezifische Probleme mit sich. Die Politik hat ihre eigenen Gesetzesmäßigkeiten, die alle in den Sog ihrer Unwägbarkeiten und Abhängigkeiten zieht, die sich auf dieses Feld begeben.
Nach einer Anfangszeit der Vorwärtsbewegung, etwa zwischen 1998 und 2005, stellte sich den verschiedenen radikalen Formationen die Frage „Wie weiter?“ in einer mittlerweile weniger günstigen Umgebung – beispielsweise, weil die Welle der Massenproteste gegen den Irakkrieg zurückging. Die Bewegung um eine andere Welt sah sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert, auf die sie keine effektive Antwort finden konnte und sich seitdem stark im Abschwung befindet.
Die Antworten der radikalen linken Formationen wurden natürlich durch die in ihnen vorherrschenden politischen Kräfte geprägt. Diese entpuppten sich im Fall zweier Schlüsselfiguren – Fausto Bertinotti in Italien und George Galloway in England – als ein nach rechts driftender Reformismus.
Auf den Niedergang der Sozialforen, die sich nach Genoa in ganz Italien verbreitet hatten und die Mobilisierung für Florenz und die Antikriegsproteste sehr wesentlich vorangetrieben hatten, reagierte Bertinotti mit einer erneuten Wendung hin zum Linkszentrum – mit den katastrophalen Konsequenzen, die wir bereits erwähnten.
Im Fall Galloways und seiner Umgebung addierten sich der Niedergang der Antikriegsbewegung nach ihrem Höhepunkt im Jahr 2003 und der Pessimismus bezüglich der Fähigkeit der Arbeiterbewegung, die Angriffe von New Labour und der Bosse effektiv abzuwehren, zu der Schlussfolgerung, dass Respect nur dann eine Zukunft habe, wenn es Bündnisse mit muslimischen Würdenträgern vor Ort einginge, die Wählerstimmen einfahren könnten. Dieses Kalkül – und die Spaltung, die es verursachte – waren aber selbst von einer Wiederannäherung Galloways an New Labour überlagert. Diese drückte sich zunächst in seiner Unterstützung für Ken Livingstones erfolglose Kampagne zur Wiederwahl als Londoner Oberbürgermeister im Mai 2008 aus und dann in seinem Beistand für die schwer belagerte Regierung Gordon Browns während der Nachwahlen in Glasgow im Juli desselben Jahres, als ein Kandidat des Blair-Lagers durch eine massive Wählerabwanderung zur Schottischen Nationalpartei geschlagen wurde.
Debatte mit Alex CallinicosIm Herbst 2008 erschien in der von der britischen „Socialist Workers Party“ (SWP) herausgegebenen, vierteljährlich erscheinenden und international vertriebenen Theoriezeitschrift International Socialism ein langer Artikel von Alex Callinicos über unterschiedliche Entwicklungen der radikalen Linken in Westeuropa. [2] Alex Callinicos ist Professor für Europäische Studien am King’s College in London und Mitglied des Zentralkomitees der SWP und gilt als der führende Kopf der „International Socialist Tendency“ (IST). [3] Fünf Jahre vorher, Anfang 2003, hatte er in einem von der australischen Democratic Socialist Party herausgegebenen Heft einen ähnlichen Überblick über die „Europe’s new lefts“ (die neuen Linken in Europa) gegeben. [4] Dieser Beitrag diskutiert vor dem Hintergrund von realen Rückschlägen und realen Schritten nach vorn in verschiedenen Ländern, also unterschiedlichen Erfahrungen das Verhältnis der radikalen zur reformistischen Linken, die Rolle von revolutionären MarxistInnen in breiteren antikapitalistischen Formationen und die politisch-organisatorischen Schlussfolgerungen aus der Analyse der Entwicklungen in der (west-) europäischen Arbeiterbewegung und Linken, des Reformismus und des Phänomens „Antikapitalismus“ (für einen Bruch mit den bestehenden Verhältnissen, aber Unklarheiten bzw. Meinungsverschiedenheiten über das Wie). Die Analyse und Positionsbestimmung von Alex Callinicos hat eine Debatte ausgelöst, die international geführt worden ist und auch im deutschsprachigen Raum Beachtung verdient. In der darauf folgenden Ausgabe von International Socialism erschienen zwei Antworten: Die erste stammt von François Sabado [5], Mitglied im Büro der IV. Internationale und damals in der Leitung der französischen LCR, die zweite von Panos Garganos [6], dem leitenden Redakteur der Zeitung Ergatiki Allilengiï (Arbeitersolidarität) und Mitglied der Leitung der griechischen Organisation, der „Sosialistiko Ergatiko Komma“ (SEK, Sozialistische Arbeiterpartei), der bedeutendsten Organisation der IST nach der SWP. [7] Alan Thornett [8], Mitglied des Internationalen Komitees der IV. Internationale, der Leitung der britischen Sektion und im „National Council“ von Respect, veröffentlichte auf der Webseite „International Viewpoint“ eine Kritik an Alex Callinicos’ Darstellung und Analyse der Spaltung von Respect im Herbst 2007. [9] Alex Callinicos hat in International Socialism vom Frühjahr 2009 mit einem längeren Artikel über „revolutionäre Wege“ auf die Beiträge von François Sabado und Panos Garganos geantwortet. [10] In der letzten Ausgabe von Critique communiste, der theoretischen Zeitschrift der LCR (die mit der Auflösung der LCR zugunsten der NPA eingestellt worden ist), erschien eine Übersetzung einer von Alex Callinicos selber gekürzten Fassung seines ursprünglichen Artikels ins Französische [11], zusammen mit der Antwort, in der François Sabado auf die NPA eingeht [12]. Wir veröffentlichen hier eine Übersetzung dieser gekürzten Fassung des ersten Artikels von Alex Callinicos sowie eine Übersetzung der Kritik von Alan Thornett. Eine Übersetzung des Beitrags von François Sabado folgt in der nächsten Ausgabe von Inprekorr. Wir bedanken uns bei Alex Callinicos für die Genehmigung zur Veröffentlichung seines Texts und bei dem Genossen des Netzwerk marx21, der die Übersetzung aus dem Englischen angefertigt hat. |
Andernorts hat das politische Spiel – bisher – günstigere Ergebnisse erbracht. Inmitten des allgemeinen Wirrwars auf der französischen Linken ergriff die Mehrheit der LCR-Führung die Initiative, indem sie Olivier Besancenot zur ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen im April 2007 antreten ließ und dann seinen relativen Wahlerfolg nutzte, um die NPA zu starten.
DIE LINKE ist eine wesentlich stärker reformistisch geprägte Organisation, als sich die LCR das jemals hätte vorstellen können. Dennoch beherbergt sie zwei Tendenzen, die miteinander wetteifern – den zahlenmäßig bedeutenden und im Apparat stark vertretenen rechten Flügel, der sich im wesentlichen aus der Exführung der PDS rekrutiert, und den eher linksreformistischen Flügel um Ex-SPD-Funktionäre, die sich um die Figur von Oskar Lafontaine gruppieren und das Projekt des Wiederaufbaus der deutschen Sozialdemokratie auf einer linkeren Basis verfolgen.
Die jüngsten Fortschritte DER LINKEN und der LCR machen deutlich, dass die Ausgangsbedingungen für einen anfänglichen Erfolg der radikalen Linken nach wie vor vorhanden sind. Aber die Erfahrungen der PRC und von Respect zeigen die Gefahren auf, denen solche Gebilde ausgesetzt sind. Wie sollte mit diesen Gefahren am besten umgegangen werden? Die Antwort der LCR ist besonders interessant, denn sie stellt den bewussten Versuch dar, nicht dem Negativbeispiel der linkszentristischen Regierungen Italiens, aber auch Frankreichs und Brasiliens, zu folgen.
Der Vorsatz, eine solche Situation zu vermeiden, in der die radikale Linke in eine sozialliberale Koalition integrierbar wäre, prägte die Haltung der LCR-Mehrheit angesichts des Vorhabens, die Basisinitiativen der Nein-Kampagne zur EU-Verfassung im Jahr 2005 als Startrampe für einen „antiliberalen“ Einheitskandidaten zu den Präsidentschaftswahlen von 2007 zu verwenden. Die Skepsis, die die LCR bezüglich der Chancen einer gemeinsamen antiliberalen Kandidatur an den Tag legte, verleitete sie zu einer negativen und streckenweise ultimatistischen Haltung den Kollektiven gegenüber, womit sie sich zeitweise isolierte. Das Verhalten José Bovés während der Präsidentschaftskampagne gab ihr im Nachhinein aber zumindest teilweise Recht.
Genau um diese Gefahr zu bannen, besteht die LCR darauf, dass die neue Partei antikapitalistisch sein muss, und nicht nur gegen den Neoliberalismus. Sie solle „eine Partei für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft“ sein, allerdings noch keine revolutionäre Partei im Sinne der klassischen marxistischen Tradition. Jene Tradition, auf die Erfahrungen der russischen Oktoberrevolution von 1917 und die ersten Jahre der Kommunistischen Internationale (1919–1924) aufbauend, geht davon aus, dass die sozialistische Revolution eine ganz spezifische Form annimmt: Massenstreiks, die Entstehung einer Doppelherrschaft basierend auf den Institutionen der Arbeiterdemokratie gegen den bestehenden kapitalistischen Staat, einen bewaffneten Aufstand, der die Vorherrschaft der Arbeiterräte sichert, als Lösung dieser Krise, und – als roten Faden im ganzen Geschehen – die Herausbildung einer revolutionären Massenpartei mit mehrheitlicher Unterstützung durch die Arbeiterklasse.
Die LCR ist der Meinung, dass sich die NPA zu einem solchen Verständnis von der Revolution nicht verpflichten müsse, sondern lediglich die Notwendigkeit „eines Bruchs mit dem Kapitalismus“ anerkennen sollte. Diese Vorstellung klingt zunächst vage, ihre politische Signifikanz liegt aber darin, was sie ausschließt. Denn die LCR argumentiert, vollkommen zu Recht, dass es nicht ausreicht, den Neoliberalismus bloß als Maßnahmenpaket abzulehnen, vielmehr muss der Kapitalismus als System bekämpft werden. Wenn man diese Unterscheidung nicht trifft, läuft man Gefahr, sich an Mitte-Links-Regierungen zu beteiligen, in der Hoffnung (meistens eine Illusion), damit eine mildere Politik umzusetzen.
Vieles spricht für das Konzept der LCR in Bezug auf die NPA. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen sehr deutlich, dass es in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern unmöglich ist, eine revolutionäre Massenpartei aufzubauen, ohne die Vorherrschaft der Sozialdemokratie in der organisierten Arbeiterbewegung zu brechen. Zur Zeit der russischen Revolution konnten viele europäische kommunistische Parteien erste Schritte in diese Richtung tun, indem sie sozialdemokratische Parteien spalteten und eine bedeutende Anzahl von zuvor reformistischen ArbeiterInnen direkt für das revolutionäre Programm der Kommunistischen Internationale gewannen. Der Oktober 1917 hatte eine enorme Anziehungskraft auf alle in der ganzen Welt, die die Bosse und den Imperialismus bekämpfen wollten.
Wegen den Erfahrung mit dem Stalinismus ist heute tragischerweise genau das Gegenteil der Fall. Der Sozialliberalismus stößt zwar immer mehr arbeitende Menschen ab, aber ihre unmittelbare Reaktion darauf ist die Suche nach einer genuineren Ausgabe des Reformismus, die ihnen ihre gestandenen Parteien einst versprochen hatten. Wenn die neuen Organisationen der radikalen Linken für diese Flüchtlinge aus der Sozialdemokratie bewohnbar sein sollen, dann darf deren Programmatik eine solche Debatte zwischen Reform und Revolution nicht für beendet erklären, indem von revolutionären MarxistInnen entwickelte strategische Konzepte einfach aufgenommen werden.
Das Navigieren zwischen der Skylla des Opportunismus und der Charybdis des Sektierertums ist nie einfach. Zum einen lässt sich nicht immer eine klare Linie zwischen Antiliberalismus und Antikapitalismus ziehen. Wenn der Antikapitalismus mit den Worten der LCR „unvollständige strategische Umrisse“ meint, also das Wie des zu erzielenden „Bruchs mit dem Kapitalismus“ offen lässt, bleibt viel Raum für Debatten darüber, welche konkreten Schritte notwendig sind. Es gibt durchaus respektable linksreformistische Strategien für einen Bruch mit dem Kapitalismus, denen das Recht wohl zustehen würde, in diesen Debatten Gehör zu finden. Aber zwischen ihren Strategien und anderen Vorschlägen, den Neoliberalismus und nicht den Kapitalismus selbst zu treffen, verlaufen die Grenzen fließend.
Und während die LCR vollkommen Recht hat, jegliche Beteiligung an einer Mitte-Links-Regierung aus Prinzip abzulehnen, kann sie nicht garantieren, dass alle, die sich von der NPA angezogen fühlen, diese Haltung teilen werden. Viele werden sich vielmehr Besancenot in der Regierung wünschen. In einer Umfrage im August 2008 sprachen sich 18 Prozent dafür aus, dass die Sozialistische Partei zu einer Übereinkunft mit ihm gelangen sollte. [13]
Das Grundproblem ist, dass es eben der Bruch im Reformismus ist, der der radikalen Linken eine neue Öffnung geboten hat. Die Frage, die sich stellt, ist daher: Wie kann sie weiterhin Menschen mit reformistischem Hintergrund anziehen und zugleich alle Varianten des Verrat des Reformismus – in konzentrierter Form von Bertinottis Laufbahn nachgezeichnet – vermeiden? Die LCR scheint in einer Art programmatischem Vorhängeschloss eine Lösung zu sehen: die Selbstverpflichtung zum Antikapitalismus und Ablehnung von Mitte-Links-Regierungen. Das wird aber so kaum funktionieren. Denn je erfolgreicher die NPA ist, desto wahrscheinlicher wird sie unter reformistischen Druck und in Versuchung geraten.
Als sie sich an der Neugruppierung der Linken Anfang dieses Jahrzehnts beteiligte, entwickelte die Socialist Workers Party ihr eigenes Konzept vom Wesen der neu entstehenden Formationen der radikalen Linken. Sie wurde von John Rees mit folgenden Worten zusammengefasst: „Die Socialist Alliance [Vorgängerin von Respect] können wir daher am besten als eine Einheitsfront der besonderen Art auf dem Feld von Wahlkämpfen verstehen. Sie bedeutet den Versuch, linke reformistische AktivistInnen und RevolutionärInnen in einer gemeinsamen Kampagne um ein Minimalprogramm zu vereinen.“ [14] Es ist ein großes Glück, dass wir uns weigerten, die SWP aufzulösen, denn dann hätte die Krise in Respect nicht nur das zeitweise Verschwinden einer sichtbaren Wahlalternative der radikalen Linken in Großbritannien bedeutet, sondern eine viel tiefere Fragmentierung und Schwächung der organisierten sozialistischen Linken überhaupt.
Artikel in chronologischer Reihenfolge Callinicos, Alex: „Regroupment and the Socialist Left Today“, in: Links. International Journal of Socialist Renewal, Broadway, New South Wales, Nr. 23, Januar-April 2003 (Challenges in Uniting the Left), S. 58–73. Callinicos, Alex: „Sozialistische Linke und Umgruppierung heute“ (aus dem Englischen übersetzt von Hans-Günter Mull), in: Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis, Köln, [Nr.] 5, Dezember 2003, S. 19–26. Duval, François: „Respect gespalten“ (aus dem Französischen übersetzt von MiWe), in: Inprekorr – Internationale Pressekorrespondenz, Köln, Nr. 436/437, März/April 2008, S. 7. Harman, Chris: „The Crisis in Respect“, in: International Socialism, London, Nr. 117, Winter 2008, S. 25–47. Harman, Chris: „Krise in Respect“ (aus dem Englischen übersetzt von Björn Mertens), in: Inprekorr – Internationale Pressekorrespondenz, Köln, Nr. 436/437, März/April 2008, S. 7–13. Thornett, Alan: „The SWP’s ever-increasing welter of allegations and distortions. A Reply to Chris Harman on Respect“, in: International Viewpoint, Nr. 396, Januar 2008. Thornett, Alan: „Ein Wirrwarr an Vorwürfen und Verfälschungen – Antwort auf Chris Harman“ (aus dem Englischen übersetzt von Björn Mertens), in: Inprekorr – Internationale Pressekorrespondenz, Köln, Nr. 436/437, März/April 2008, S. 14–19. Callinicos, Alex: „Where is the Radical Left Going?“ in: International Socialism, London, Nr. 120, Herbst 2008, S. 91–111. Thornett, Alan: „A reply to Alex Callinicos on Respect. Rationalising the end of eight years of SWP openness, and John Rees’ reign“, IV Online magazine: IV407 - December 2008. Sabado, François: „Building the New Anti-capitalist Party“ in: International Socialism, London, Nr. 121, Winter 2009, S. 143–152. Garganos, Panos: „The Radical Left: A Richer Mix“ in: International Socialism, London, Nr. 121, Winter 2009, S. 153–156. Callinicos, Alex: „Où va la gauche radicale“ (aus dem Englischen übersetzt von Sylvestre Jaffard), in: Critique communiste. Revue de la Ligue communiste révolutionnaire (section française de la IVe Internationale), Montreuil-sous-Bois, Nr. 189, Januar 2009, S. 12–21. Sabado, François: „Le NPA, une expérience inédite de construction d’un parti anticapitaliste (réponse à l’article d’Alex Callinicos)“, in: Critique communiste. Revue de la Ligue communiste révolutionnaire (section française de la IVe Internationale), Montreuil-sous-Bois, Nr. 189, Januar 2009, S. 22–31. Callinicos, Alex: „Revolutionary paths: a reply to Panos Garganas and François Sabado“, in: International Socialism, London, Nr. 122, Frühjahr 2009, S. 173–184. |
Die Vorstellung, dass die NPA als Einheitsfront der besonderen Art verstanden werden sollte, wurde neulich von einem der zentralen Architekten des Projektes, François Sabado, kritisiert:
Es gibt keine lineare Kontinuität zwischen der Einheitsfront und der Partei, genausowenig wie „Politik“ einfach die Fortsetzung des Gesellschaftlichen ist. Es gibt Elemente der Kontinuität, aber auch solche der Diskontinuität, also besondere Umstände, die unmittelbar Ausfluss des politischen Kampf sind … Aus dieser Perspektive ist es falsch, die neue Partei als eine Art Einheitsfront zu betrachten. Eine solche Sichtweise würde der notwendigen Abgrenzung nicht genügend Gewicht beimessen und bedeutete, in der NPA bloß ein Bündnis oder einen einheitlichen Rahmen – wenn auch einer besonderen Art – zu sehen und daher deren eigenständigen Aufbau als Gerüst oder Vermittlungsschritt in der Bildung der revolutionären Führung von morgen zu unterschätzen. Wenn wir die NPA bloß als Einheitsfront betrachten, laufen wir Gefahr, sie lediglich Einheitsfrontkämpfe führen zu lassen. Beispielsweise machen wir die Frage der Regierungsbeteiligung nicht zur Vorbedingung für eine gemeinsame Aktion der gesamten Arbeiter- und sozialen Bewegung. Wäre das aber ein Grund, für die NPA einen Kampf um die Frage der Regierungsbeteiligung nicht zu führen oder ihn zu relativieren? Wir glauben nicht. Für die NPA ist die Regierungsfrage – die Ablehnung jeglicher Beteiligung an Regierungen der Klassenzusammenarbeit – ein Kernpunkt ihres politischen Profils. Das ist der beste Beweis – es gibt aber auch andere –, dass die NPA eben keine Spielart der Einheitsfront darstellt. Das gesteckte Ziel, sie als Zusammenballung von Erfahrungen und AktivistInnen aufzubauen, heißt nicht, dass wir die Perspektive aufgeben, in ihr eines der entscheidenden Bindeglieder einer globalen politischen Alternative und der Akkumulation der Kader des Klassenkampfes und gar der Revolution für zukünftige Krisen zu sehen. [15]
Sabado hat in zweierlei wichtiger Hinsicht Recht. Erstens ist der Aufbau der radikalen Linken heute ein Schritt in Richtung Bildung revolutionärer Massenparteien, und kein Schritt weg von diesem Ziel. Zweitens verändert sich der Charakter von Formationen der radikalen Linken im Zuge ihrer Interventionen in die Politik. Auch wenn ihr Organisationsprinzip das eines Bündnisses ist, wie das der Fall bei Respect war, müssen sie dennoch ihre allgemeine politische Identität in Gestalt eines Programms festschreiben und in vielerlei Hinsicht auch wie eine normale politische Partei agieren, vor allem in Wahlkämpfen.
Was aber der Begriff „Einheitsfront der besonderen Art“ treffend erfasst, ist die politische Heterogenität, die die radikale Linke heute kennzeichnet. Dabei geht es nicht bloß um die spezifische Geschichte einzelner Formationen. Die besondere Gestalt, die die Krise der Sozialdemokratie heute annimmt, hat die Bedingungen für ein Zusammengehen von Elementen der reformistischen und der revolutionären Linken in Opposition zum Sozialliberalismus geschaffen. Die Tatsache, dass dieses politische Zusammenkommen nur partiell ist und vor allem die Entscheidung zwischen Reform und Revolution nicht aufhebt, erfordert Organisationsstrukturen, die, auch wenn sie nicht explizit die eines Bündnisses sind, dennoch den verschiedenen Strömungen Raum zum Atmen und zur Koexistenz geben. Sie hilft aber auch, die programmatische Basis, die Sabado der NPA zu geben versucht, zu erklären, die sich im Kern viel mehr gegen den Sozialliberalismus als gegen den Reformismus überhaupt richtet.
Es ist sehr wichtig, sich von den politischen Zweideutigkeiten, die die gegenwärtige radikale Linke kennzeichnen, nicht erschrecken zu lassen. Jeder Revolutionär und jede Revolutionärin, die den Namen verdienen, sollten sich mit ganzer Kraft in den Aufbau solcher Strukturen hineinbegeben. Das ändert aber nichts daran, dass solche Zweideutigkeiten zu einer Wiederholung solcher Desaster führen können, die die PRC und Respect heimgesucht haben. Positiver ausgedrückt: Wenn die NPA wirklich das leisten soll, was Sabado „die Akkumulation von Kadern des Klassenkampfes und sogar der Revolution für zukünftige Krisen“ nennt, dann wird das nicht automatisch geschehen. Es wird eines großen Kraftaufwands bedürfen, um die neuen, für die NPA und andere ähnliche Organisationen gewonnene AktivistInnen in der Tradition des revolutionären Marxismus zu bilden. Wer aber sollte diese Aufgabe auf sich nehmen? Eine gewisse politische Bildung kann im Rahmen der Partei vonstatten gehen. Das kann aber nur innerhalb eng gesteckter Grenzen geschehen, denn sonst würden die RevolutionärInnen innerhalb der NPA den berechtigten Vorwurf auf sich ziehen, sie würden die politische Offenheit der Partei missachten und ihre Strukturen für ihre eigene Politik missbrauchen.
Es ist richtig, die radikale Linke auf einer breiten und offenen Grundlage aufzubauen, aber RevolutionärInnen sollten sich innerhalb der entstehenden Strukturen organisieren und für ihre politischen Ziele eintreten. Beide Teile dieser Formulierung bedürfen der richtigen Betonung. Es wäre ein Fehler, die Grenzen radikaler linker Parteien zu eng zu fassen. Beim Aufbau einer solchen breiten und offenen Basis sollten RevolutionärInnen allerdings ihre eigene politische und organisatorische Identität bewahren. Die genaue Form wird natürlich von Fall zu Fall variieren – manchmal wird sie die der Beteiligung einer unabhängigen Organisation an einem Bündnis annehmen, wie im Fall der SWP in der Socialist Alliance und danach Respect, oder die einer Strömung in einer viel größeren Organisation. Eine revolutionäre sozialistische Identität innerhalb der breiteren radikalen Linken ist nicht aus Gründen einer engstirnigen, sektiererischen Loyalität wichtig, sondern weil die Theorie und die Politik des revolutionären Marxismus eben zählen.
Sie zählen, weil sie uns ein Verständnis für die Logik des Kapitalismus als System vermitteln und uns die akkumulierte revolutionäre Tradition zweier Jahrhunderte vor Augen führen. Die Relevanz dieser Tradition ist natürlich keine Selbstverständlichkeit. Ganz im Gegenteil: Sie muss sich in der Praxis immer wieder von neuem bewähren, und das schließt Selektion, Interpretation und kreative Fortentwicklung dieser Tradition ein. Aber gerade weil die Praxis so wichtig ist, dürfen RevolutionärInnen die Kapazität zur Eigeninitiative nicht verlieren. Mit anderen Worten, sie sollten ihre Identität im Rahmen einer breiteren radikalen Linken nicht als Debattierklub für Theoriefragen aufrechterhalten, sondern, was auch immer die Umstände, als interventionistische Organisation.
Die Präsenz von organisierten RevolutionärInnen kann natürlich eine Quelle von Spannungen innerhalb der radikallinken Organisation sein. Sie können leicht zur Zielscheibe der Rechten innerhalb der Partei werden. Das ist umso folgenschwerer, wenn Revolutionäre eine relativ bedeutende Größe besitzen, wie das bei der SWP innerhalb von Respect der Fall war und der ehemaligen LCR innerhalb der NPA der Fall sein wird. Die auf der äußersten Linken situierten Kräfte, die sich zusammen mit Galloway abspalteten, haben ihre Aktionen mit dem Vorwurf zu rechtfertigen versucht, die SWP sei bestrebt gewesen, Respect zu dominieren. Das war genau das Gegenteil unserer Intention: Wir hätten es sehr begrüßt, eine relativ noch viel kleinere Kraft innerhalb eines wesentlich größeren linksradikalen Bündnisses zu sein.
Das Problem war, dass trotz der enormen politischen Zerwürfnisse, die Großbritanniens Beteiligung am Einmarsch in den Irak begleiteten, Galloway die einzige führende Labour-Persönlichkeit war, der bereit war, über diese Frage mit der Partei zu brechen. Damit war Respect von Beginn an mit einer strukturellen Instabilität behaftet. Die Koalition war von zwei Kräften dominiert: von Galloway und von der SWP. Das war kein Problem, solange beide mehr oder minder harmonisch zusammenarbeiteten. Aber irgendwann musste es zu einem Konflikt zwischen der revolutionären Organisation und dem reformistischen Politiker kommen – mit dem Umstand, dass es keine anderen Kräfte von ausreichendem Gewicht gab, um den Konflikt einzudämmen.
Dieses strukturelle Ungleichgewicht ist die Folge der besonderen Form, die der Niedergang der Sozialdemokratie heute annimmt. Die soziale Basis des Reformismus schrumpft, aber nicht infolge organisatorischer Abspaltungen, sondern eines graduellen Zersetzungsprozesses. Das ändert nichts an der Tatsache, dass dadurch ein Raum entsteht, den die radikale Linke füllen kann, aber es bedeutet, dass es wahrscheinlich einen langwierigen Prozess von Wahlinterventionen und anderen Kampagnen erfordern wird, um WählerInnen und AktivistInnen allmählich zu gewinnen. Die Erosion der alten reformistischen Basis eröffnet auch der extremen Rechten eine Tür, an Menschen der Arbeiterklasse, die sich ausgegrenzt und nicht vertreten fühlen, zu appellieren, wie die hässlichen rassistischen Kräften zeigen, die der Sieg Berlusconis und seiner Verbündeten in Italien freisetzte. Daher die Bedeutung DER LINKEN in Deutschland, die einen realen Spalt in den SPD-Monolith getrieben hat.
Das ist ein Grund, warum es unklug wäre, zu behaupten, der Reformismus hätte bereits seinen Schwanengesang angestimmt, wie die LCR manchmal zwischen den Zeilen zu verstehen gibt, zum Beispiel, wenn sie behauptet: „Die Sozialdemokratie vollzieht ihre Mutation. Nachdem sie lange Zeit erklärt hatte, der Sozialismus könne innerhalb des Rahmens des kapitalistischen Staates Schritt für Schritt aufgebaut werden, findet sie sich mittlerweile mit ihrer Wendung zum Kapitalismus und zu neoliberaler Politik ab.“ [16] Das unterstellt augenscheinlich einen geradlinigen Trend, dem sozialdemokratische Parteien unterliegen, sich in offen kapitalistische Parteien wie die US-Demokraten zu verwandeln. Aber so sind die Verhältnisse nicht.
Man kann den Reformismus nicht einfach mit bestimmten Organisationen in Verbindung setzen. Vielmehr ist er Ausdruck einer Tendenz von ArbeiterInnen – solange ihnen das Selbstvertrauen fehlt, den Kapitalismus zu stürzen –, ihre Kämpfe auf die Durchsetzung einzelner Verbesserungen im Rahmen des bestehenden Systems zu beschränken. Diese Tendenz findet trotz der Entwicklung des Sozialliberalismus politischen Ausdruck.
Das zu verstehen, ist eine politisch dringende Aufgabe. Die Anziehungskraft reformistischer Politik bedeutet, dass es kein programmatisches oder organisatorisches Wundergeschoss gibt, mit dem ihr Einfluss aus neuen Formationen der radikalen Linken gebannt werden könnte. Gerade aus diesem Grund müssen RevolutionärInnen die eigene Identität innerhalb dieser Formationen bewahren. Die radikale Linke muss für ReformistInnen offen sein, wenn sie ihr Potenzial verwirklichen will. Allerdings sollen uns die Beispiele Bertinotti und Galloway daran gemahnen, dass linke Reformisten sich auch nach rechts bewegen können, nicht nur nach links.
Das sollte man auch im Fall DER LINKEN immer im Blick behalten. Lafontaine ist eine tragende Säule der Partei. Sollte er aber zu dem Schluss kommen, dass seine Zeit reif ist, mit der SPD einen Deal zu schließen, ist er durchaus fähig, sich brutal gegen DIE LINKE zu wenden. Allerdings sollte die Bewahrung der politischen und organisatorischen Autonomie von RevolutionärInnen nicht als sektiererisches Schutzverhalten daherkommen. Ganz im Gegenteil: Unsere Autonomie sollte uns das Selbstvertrauen geben, die radikale Linke auf einer möglichst breiten und dynamischen Basis aufzubauen – bei Bewahrung eines Instruments, das in den zukünftigen politischen Kämpfen, die reale Erfolge zwangsläufig hervorrufen werden, nicht fehlen darf.
Übersetzung: David Paenson |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009). | Startseite | Impressum | Datenschutz