Syrizas Niederlage ist eine Niederlage für den Linksreformismus in Europa. Dies wirft ein Licht auf die Unterschiede zwischen revolutionärer und reformistischer Strategie.
Mikael Hertoft
Anfang Juli wurde die griechische Regierung gezwungen, genau das zu tun, was sie nicht tun wollte: Sie akzeptierte, unter Aufsicht der EU gestellt zu werden und sie akzeptierte eine neoliberale Politik von Privatisierungen, Anhebung des Renteneintrittsalters und „Arbeitsmarktreformen“, d. h. Fesseln für die Gewerkschaften und Schwächung der Tarifverträge. All dies für ein verlängertes Schuldenabkommen: ein drittes Memorandum. Das ist eine massive Niederlage in vielerlei Hinsicht.
Es besteht kein Zweifel, dass dies eine Niederlage zunächst einmal für wirtschaftliche Vernunft und Demokratie ist. Eine Niederlage für die wirtschaftliche Vernunft, weil die wirtschaftlichen Zerstörungen, die EU und IWF in Griechenland anrichten, weder zu wirtschaftlicher Erholung noch zur Abzahlung der Schulden führen werden.
Sie werden stattdessen zu einem Bereicherungsfest für die internationalen Finanzorganisationen führen, die Griechenlands Werte kaufen und zu Armut und Fremdbestimmung der Griechen in ihrem eigenen Land führen. Daher ist es eine Niederlage für die Vernunft, aber ein Sieg für das Finanzkapital.
Darüber hinaus sehen es auch viele als schwere Niederlage der Demokratie, wenn eine gewählte Regierung, obendrein mit einer eindeutigen, legitimen Volksabstimmung im Rücken, gezwungen wird, eine Politik gegen den Willen des eigenen Volk und ihren eigenen zu verfolgen.
Der gesamte Prozess ist auch eine Niederlage für die politische Maschine der EU, die Krisen eher verstärkt als sie zu lösen, und sich als völlig unfähig gezeigt hat, die Wirtschaftskrise zu bewältigen. Auf diese Weise ist es auch eine Niederlage für die Kräfte, die glauben, dass die EU reformiert werden und zu einer Maschine für fortschrittliche Veränderung, soziale Gleichstellung und grüne Umstellung werden soll. Das sind ja genau die Ansichten, die in der SF [1]seit vielen Jahren dominiert haben und auch ein markanter Teil des politischen Programms von „Alternativet“ [2] sind. In den EU-Ländern gibt es auch viele andere auf der Linken mit dieser Haltung, darunter die Mehrheit in vielen der Parteien, die die „Europäische Linke“ bilden – dem Partner der Enhedslisten in Europa. Man muss sagen, dass es vorläufig vollständig gescheitert ist, die EU zu einer vernünftigen Politik gegenüber Griechenland zu drängen. Es ist schwer, die EU als Leuchtfeuer der Vernunft in Europa zu sehen – oder der Welt, wenn mensch so will.
Zunächst einmal ist das Abkommen eine Niederlage für Syriza und die politische Linie, die erprobt wurde.
Die Situation heute ist: Die Privatisierungen gehen weiter und beschleunigen sich: Privatisierung der wichtigsten Häfen, Flughäfen und des Elektrizitätswesens – die zentrale Infrastruktur einer Gesellschaft. Wenn das durchgeführt ist, dann hat sich Griechenland in eine Art Kolonie verwandelt, wo ausländische Interessen über die Infrastruktur und die Produktionseinheiten bestimmen und die Bevölkerung zu einer Art Leibeigenen in ihrem eigenen Land wird, die für die Nutzung von Straßen, Elektrizität, Wasser und Nahrung den ausländischen Eigentümern bezahlen muss. Allmählich verändert sich der griechische Staat von einem Wohlfahrtsstaat zu einer Maschine, die Geld aus der Bevölkerung saugt, um Schulden zu bezahlen.
Gewerkschaftsrechte sollen durch „Reformen“ geschwächt werden. Es ist eine wichtige Aufgabe für die Linke und vor allem natürlich für alle, die in den Gewerkschaften aktiv sind, zu beobachten, was geschieht, und zu rufen und zu protestieren, wenn die Arbeitsbedingungen verschlechtert werden – auch in Griechenland. Im Wettlauf um die niedrigsten Löhne gibt es unter den Lohnabhängigen nur Verlierer, keine Gewinner.
Das Renteneintrittsalter wird in einem Land heraufgesetzt, in dem viele Familien seit etlichen Jahren nur von einer Rente lebten, weil die Jugend ihre Einkommensgrundlage verloren hat.
All dies ist genau das, was zu verhindern Syrizas Wahlprogramm versprochen hatte. Syriza hat – noch – die Regierungsmacht, ist aber gezwungen, eine neoliberale Politik durchzuführen.
Syriza hat immer unter der Voraussetzung verhandelt, dass man einen Kompromiss mit der EU finden will. Ich habe Tsipras häufig darüber reden gehört und hatte auch viele Male Gelegenheit, dies mit Vertretern von Syriza zu diskutieren. Ich und andere Däninnen und Dänen wie Kenneth Haar fragten immer wieder: Was ist der Plan B – was macht ihr, wenn die EU und der IWF sich weigern, einen akzeptablen Kompromiss mit euch einzugehen?
Wir bekamen immer gesagt, dass es keinen Plan B gibt – die EU würde einem Abkommen zustimmen, weil es das einzig Vernünftige wäre, das einzige, was die Wirtschaft wieder aufrichten könnte.
Wir blieben dabei zu sagen, dass es mehr als möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich sei, dass die EU sich nicht den Forderungen der neuen griechischen Regierung beugen werde – und man sich daher auf einen Bruch mit der EU vorbereiten müsse.
Es gab auch viele in der Syriza-Linken, die nach einer Alternative suchten. Bei der Abstimmung über die von der EU aufgezwungenen Gesetze gab es zum Beispiel 32 Syriza-Mitglieder, die dagegen stimmten. Es gibt kaum Zweifel, dass es auch eine große Zahl von Syriza-Mitgliedern gibt, die unzufrieden damit sind, wie Syriza sich verbiegt.
Nach den Verhandlungen und nach dem Abschluss des Abkommens mit der EU am 12. Juli hat Varoufakis – der von Tsipras gefeuerte Finanzminister – enthüllt, dass er einen Plan B vorbereitet hatte: den Ausstieg aus dem Euro. Aber ein Plan, Nein zur EU zu sagen, kann nicht aus einer Geheimschublade gezogen werden. Er braucht eine öffentliche und breite Vorbereitung des griechischen Volkes auf eine ganz andere Art und Weise.
Die Syriza-Linke hat versucht, diese Diskussion zu beginnen. Ich will hier nur zwei zentrale Personen nennen: Costas Lapavitsas, Syriza-Parlamentsabgeordneter und Ökonom und Stathis Kouvelakis vom Syriza-Zentralkomitee.
Kurz gesagt haben sie eine politische Linie mit einem Stopp der Schuldenzahlungen, breiten Mobilisierungen zusammen mit Kapitalverkehrskontrollen, Renationalisierung der Banken und einem Festhalten am Sozialprogramm vorgeschlagen.
Das könnte dazu führen, dass Griechenland aus dem Euro gezwungen würde und zeitweise oder endgültig eine andere Währung einführen müsste. Ja, aber die Alternative wäre weniger schlimm, als zum Leibeigenen innerhalb des Euro-Rahmens gemacht zu werden.
Griechenland hat Möglichkeiten zur Nahrungssicherheit auf Basis der eigenen Ressourcen des Landes – es gibt auch eine gewisse Energieproduktion und weit größere Potenziale für Solar- und Windenergie als in den meisten Ländern. Griechenland liegt zentral in der Welt und mit einer Drachme, die vielleicht ein wenig zu billig wäre, könnte Griechenland ein Super-Touristenziel werden und die Touristen würden ja Euro mitbringen. In der Mobilisierung der Bevölkerung könnte man noch weiter gehen und auf die Erfahrungen anderer Revolutionen und Volksaufstände verweisen: Ein wichtiges Instrument sind hier Selbsthilfe-Komitees zur gegenseitige Hilfe beim Überleben: Essen, Kleidung, Schule – in Verbindung mit einem Programm zur Wiederaufnahme der Arbeit: Übernahme leerer Fabrikhallen, Brachflächen, etc.
Es versteht sich, dass diese Alternative nicht vollständig entwickelt und schon gar nicht erprobt ist. Aber darüber nachzudenken ist wichtig, um darauf hinzuweisen, dass es eine Alternative dazu gibt, sich der EU zu beugen. Das ist eine interessante Diskussion, und man konnte sie in englischer Sprache in International Viewpoint, der internationalen Online-Zeitschrift der 4. Internationale, verfolgen.
Syriza hat heute effektiv die Rolle der PASOK übernommen – und riskiert, das gleiche Schicksal wie diese Partei zu erleiden, nämlich den Verlust der Unterstützung in der Bevölkerung.
In Griechenland, haben wir jetzt eine Regierung, die linksorientiert, aber unter Aufsicht gestellt ist und die Politik ausführen muss, die die EU vorschreibt und die in öffentlich zugänglichen Dokumenten niedergeschrieben ist. Sie muss wie frühere Regierungen hinter dem Tränengas der Polizei Schutz vor der wütenden Bevölkerung suchen.
Syrizas Linke protestiert und stimmte sogar dagegen und rettete damit die Ehre. Aber es ist schwer zu erkennen, was sie ansonsten gerettet hat. Kann von dort die Kraft zur Entwicklung einer starken und inspirierenden linken Kraft kommen? Wir werden sehen.
Links von Syriza gibt es auch eine ganze Reihe von Parteien. Da ist die KKE, über die eine Analyse im Arbejderen [3]veröffentlicht wurde.
Der KKE muss man zugutehalten, dass sie hartnäckig am Nein zum Neoliberalismus festhält. Sie hat auch Recht mit ihrer Kritik an Syriza als sozialdemokratisierter Partei. Aber wenn es um vorwärts gerichtete Politik geht, ist die Partei meiner Meinung nach nicht sehr vernünftig. Sie hat praktisch nicht versucht, Druck auf Syriza auszuüben, sondern sich für einen ultralinken Kurs mit verschränkten Armen entschieden.
Die Gewerkschaftsbewegung in Griechenland ist auch stark. Darüber hinaus gibt es große Gruppen von Anarchisten, Autonomen, Volksbewegungen, Organisationen der Einwandererinnen und Einwanderer und Flüchtlingshilfsorganisationen. Wir können weitere Kämpfe gegen die EU-diktierte Politik erwarten.
Aber für die verschiedenen Strömungen der Linken wird es für eine lange Zeit schwierig bleiben, in die Offensive zu kommen, weil wir eine Regierung haben, die formell links ist, aber tatsächlich ein aufgezwungenes neoliberales Programm verwaltet.
Die Initiative kann leicht auf andere Kräfte übergehen wie die Goldene Morgenröte am äußersten rechten Rand, und das verheißt nichts Gutes.
Es wurde viel Unsinn über die Frage von Reform und Revolution gesagt. Aber die Erfahrungen von Griechenland hier im Jahr 2015 werfen ein helles Licht auf dieses Problem. Bei der Frage von Reform und Revolution geht es nicht um die Geschwindigkeit der Entwicklung, es geht nicht um Geduld oder Ungeduld, und es geht nicht um Gewalt. Die Revolutionäre arbeiten für einen Bruch mit dem bestehenden System und einen Bruch mit der herrschenden Klasse. Sozialdemokratische Bewegungen auf der ganzen Welt und oft auch kommunistische und andere sind wieder und wieder vor Schritten zurückgescheut, die zum Bruch mit dem Bürgertum führen könnten oder ein Angriff auf die Interessen der Bourgeoisie wären.
Revolutionäre Strömungen hingegen verstehen, dass in einer Gesellschaft in der Krise ein Bruch mit der herrschenden Klasse und Ordnung der einzige Weg sein kann, um die Gesellschaft nach vorne und aus der Krise zu bringen.
Ein solcher Bruch hat nur eine Chance, erfolgreich zu sein, wenn er von einem starken Wunsch der Menschen nach Veränderung und Bewegung getragen wird, um aus der Krise zu kommen: Lebensmittelausschüsse, Selbsthilfekomitees – solche Strukturen spielen eine Rolle in fast allen Revolutionen.
Bei Reform und Revolution geht es auch nicht darum, ob man Kompromisse eingeht. Sowohl Revolutionäre als auch Reformisten gehen Kompromisse ein, ständig. Es geht darum, sich zur richtigen Zeit und am richtigen Ort zu entscheiden, zu kämpfen und nicht aufzugeben.
Ein wichtiger Unterschied zwischen revolutionärer Politik und reformistischer Politik ist hingegen, was man als die Hauptarena betrachtet. Die reformistische Politik sucht nach Kompromissen in Verhandlungen, und ihre wichtigste Arena ist daher der Verhandlungssaal, was oft mit großer Mystik und Geheimniskrämerei verbunden ist. Wenn man in Verhandlungen geht, will man dem Gegner seine Karten nicht zeigen, und deshalb kann man den Leuten nicht sagen, was man will.
Die revolutionäre Politik hingegen betrachtet die ganze Gesellschaft als Arena und sieht die breite Bevölkerung als die aktive Kraft. Die politische Partei muss sich daher mit einer klaren Politik an die Menschen wenden. Man muss sich darauf verlassen können, wenn sie sagt, dass sie die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der breiten Bevölkerung verteidigen will, und man muss großen Wert auf Vorschläge legen, die geeignet sind, die Menschen zu mobilisieren und zu organisieren.
Geheimverhandlungen nützen den herrschenden Finanzkapitalisten und Bürokraten und schaden den Arbeiterinnen und Arbeitern. Wir müssen feststellen, dass sich Syriza, seit sie an die Regierung kam, in einer Falle von Verhandlungen auf glattem Boden fangen ließ.
Das seltsamste in den ganzen griechischen Ereignissen war natürlich die Volksabstimmung, um der griechischen Regierung das Mandat zu geben, Nein zum EU-Diktat zu sagen. Tsipras hat hier wirklich um das Mandat gebeten, Nein zur EU zu sagen und Ihr den Finger zu zeigen. Er traf auf Begeisterung, Optimismus und Unterstützung im ganzen Volk. Zum ersten Mal ging Syriza einen wichtigen Schritt zur Mobilisierung der Bevölkerung. Einige von uns waren sehr nervös – können die das schaffen? Ist es nicht gefährlich, ein Referendum so kurzfristig anzusetzen? Was, wenn sie es verlieren? Aber das taten sie nicht. Die Syriza-Regierung sicherte sich mehr als 62 % Unterstützung im Referendum – und ja, damit hatten sie ja im Prinzip auch ein Mandat für eine radikalere Politik. Aber sie sprangen wie ein Tiger und landeten als Bettvorleger. Weniger als 14 Tage später hatte sich Syriza der EU gebeugt.
Man könnte es als einen letzten Versuch sehen, Druck auf die EU auszuüben. Tsipras hatte die Bügelfalten glatt gezogen und war zu Mutti Merkel mit einem schlanken Aktenkoffer gegangen, in dem sich die Abstimmungsergebnisse in einem kleinen Ordner und in einem anderen ein Abkommen auf Griechisch, Deutsch und Englisch befand, von dem Tsipras wollte, dass Frau Merkel es unterzeichnen solle: Eine Lösung der Krise, alle sind glücklich.
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Hier ist ein weiterer Unterschied zwischen Revolutionären und Reformisten. Sowohl Revolutionäre als auch Reformisten versuchen, Aktivitäten in der Bevölkerung in Gang zu setzen – das, was wir in den alten Tagen in der Linken mit dem schrecklichen Wort „Mobilisierungen“ bezeichneten. Aber für reformistische Politikerinnen und Politiker ist das bloß ein Hilfsmittel zur Erreichung einer stärkeren Verhandlungsposition. Für Revolutionäre ist die Aktivierung der Bevölkerung der Kern der politischen Linie.
Was bedeutet das für die Enhedslisten [4] und die dänische Linke? Für die europäische Linke muss dies zu umfassenden Diskussionen und Selbstreflexionen führen. Der nächste Ort, wo der Kampf stattfinden wird, kann Spanien mit Podemos sein, und es ist notwendig, von Syriza zu lernen.
Für Dänemark hoffe ich, dass die Enhedslisten etwas daraus lernen wird. Es bestätigt die Anti-EU-Linie, die die Partei seit ihrer Gründung prägt. Alle können daraus lernen, dass man nie in Verhandlungen gehen sollte, ohne sich überlegt zu haben, was man tun will, wenn die Gegenseite zu den eigenen Forderungen Nein sagt. Die Bilanz muss notwendigerweise auch recht kritisch gegenüber Syrizas Linie während der letzten sechs Monate sein.
Wenn wir uns Hoffnungen machen, uns an die Spitze der Verteidigung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Menschen und letztlich der Veränderung der Gesellschaft zu stellen, müssen wir eine Partei aufbauen, die auf breiter Basis Aktivitäten der Menschen initiieren und fördern kann.
20. August 2015 |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 6/2015 (November/Dezember 2015). | Startseite | Impressum | Datenschutz