Der italienische Philosoph Giorgio Agamben schreibt: „Worum es bei der Verlängerung des Ausnahmezustands in Frankreich wirklich geht, lässt sich nur in der Zusammenschau mit der radikalen Transformation des geläufigen Staatsmodells verstehen.“ Wir erleben eine neue und gefahrvolle Etappe auf dem Weg zum starken Staat, der 1958 eingeschlagen worden ist.
Henri Wilno
Die Umweltaktivistin und Globalisierungsgegnerin Naomi Klein meinte, dass die französische Regierung zu einer „Schockstrategie“ greife, indem sie die durch die kriminellen Attentate des IS erzeugten Emotionen instrumentalisiere, um die autoritären Maßnahmen durchzusetzen, die sie ohnehin schon seit geraumer Zeit im Sinn hat. Dafür sprechen auch Dokumente aus dem Innenministerium, in denen die verwaltungspolizeilichen Maßnahmen verzeichnet werden, auf die die Polizeibehörden dringen. Hierzu schreibt Le Monde am 5. Dezember: „Die Direktion [der Police nationale] ist der unverblümten Ansicht, dass „man dieses „legislative Zeitfenster“ nützen sollte, um bestimmte Entwicklungen voranzubringen, die von den verschiedenen Stellen gewünscht werden, bisher aber nicht durchgesetzt werden konnten, weil entweder keine entsprechenden Vorlagen eingebracht wurden oder das politische Klima dagegen stand“. Inzwischen passt das politische Klima zweifellos. Für das Innenministerium kommt der Ausnahmezustand daher wie eine Weihnachtsbescherung.“ [1]
Die Geschichte des französischen Staates erreicht eine neue Phase. Die jetzige französische Verfassung, die der V. Republik, stammt von 1958. Ein Putsch von Teilen der französischen Armee in Algerien am 13. Mai 1958 hatte dazu geführt, dass mit Billigung nahezu des gesamten politischen Lagers (mit Ausnahme der KPF, einer Minderheit der Sozialisten und der damals marginalen radikalen Linken sowie einzelnen Persönlichkeiten) ein „starker Mann“, nämlich de Gaulle berufen und beauftragt wurde, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Deren Kern liegt in der Stellung des Staatspräsidenten, der über erhebliche Sondervollmachten verfügt und dem Parlament gegenüber keine Verantwortung schuldet. Vorgesehen sind auch verschiedene Regelungen, die der Regierung und der Polizei Sondervollmachten zubilligen, nämlich der Artikel 16 der Verfassung, der Belagerungszustand und – infolge einer Gesetzesänderung von 1955 – der Ausnahmezustand.
Diese Ereignisse hatten seinerzeit für erhebliche Diskussion unter den Gegnern de Gaulles gesorgt, die zugleich auch mehr oder minder gegen den Kolonialkrieg Frankreichs in Algerien engagiert waren. Die Einen beschworen die Gefahr eines drohenden faschistoiden Regimes infolge des Militärputsches und der wohlbekannten autoritären Neigungen de Gaulles. Für die Anderen waren die Widersprüche innerhalb der französischen Bourgeoisie, in der sich reaktionäre Flügel und Modernisierer gegenüber standen, ausschlaggebend. Demnach ging es gerade der Großbourgeoisie in Frankreich darum, die französische Wirtschaft auf die kommende europäische Wirtschaftsunion vorzubereiten (der Vertrag von Rom über die EWG war 1957 unterzeichnet worden und trat am 1. Januar 1959 in Kraft). Dafür sollten die Befugnisse des Parlaments eingeschränkt werden, da dort die damals noch mächtige KPF vertreten war und auch die traditionelle Kleinbourgeoisie, die solchen Modernisierungstendenzen des Kapitalismus skeptisch gegenüber standen, noch über eine sehr starke Lobby verfügte. Der Soziologe Serge Mallet von der PSU fasste diese Position so zusammen: „Das Finanzkapital wünscht sich einen starken Staat, aber keinen faschistischen.“ [2]
Bekanntlich hat de Gaulle in der Folge abrupt mit dem reaktionärsten Flügel unter denjenigen, die ihn an die Macht gehievt hatten, gebrochen und sich in die Unabhängigkeit Algeriens gefügt – die langfristigen Interessen der französischen Bourgeoisie erforderten eine Beendigung dieses kostspieligen Krieges.
Die zentrale Position des Staatspräsidenten wurde in der Folge noch durch zwei Reformen gestärkt, nämlich seine direkte Wahl durch das Volk (was von de Gaulle eingeführt wurde) und die Anpassung seiner Mandatsdauer an die parlamentarische Legislaturperiode (unter Lionel Jospin). Demnach wird jetzt zunächst der Präsident gewählt und gleich anschließend das Parlament, weswegen dessen Mehrheit nahezu automatisch dem gleichen politischen Lager entstammt wie der Staatspräsident und gegenseitige Reibereien entsprechend wenig wahrscheinlich sind.
Im Jahr 1964 erschien ein Buch mit dem Titel „Der permanente Staatstreich“. Sein Autor François Mitterrand, damals ein ehrgeiziger Politiker mit vagen linken Ideen und Opponent de Gaulles, prangerte darin den autoritären Charakter des Regimes der V. Republik und dessen mögliche Abwege und Risiken für die bürgerlichen Rechte an. 1971 übernahm Mitterand die Kontrolle über die Sozialistische Partei (PS), die damals sehr geschwächt und diskreditiert war, u. a. weil ihr wichtigster Führer Guy Mollet den Algerienkrieg geführt und anschließend de Gaulle unterstützt hatte. Mitterand machte sich an ihren Wiederaufbau und gab ihr ein Programm, in dem eine Verfassungsreform vorgesehen war. Dieser Punkt war auch Bestandteil des gemeinsamen Programms der Union de la Gauche von 1972, in dem sich KPF, PS und Linksliberale zusammenfanden. Nachdem er 1981 zum Staatspräsidenten gewählt worden war, arrangierte sich Mitterand jedoch prächtig mit der bestehenden Verfassung, mithilfe derer er, nach einem Jahr linker Reformen, dann 1983 auf einen Sparkurs umschwenken und diese Politik der PS aufdrücken konnte.
Hollande, seit Mitterand wieder der erste „sozialistische“ Staatspräsident, wandelt nicht nur in dessen Spuren, sondern verschärft noch den autoritären Charakter des Regimes, indem er eine Verfassungsänderung plant. Wie seinerzeit die Algerienfrage dient jetzt der Terrorismus als Auslöser: Die Attentate des IS ermöglichen nun zusätzliche Gesetzesmaßnahmen zu den in den vergangenen 30 Jahren entstandenen und zunehmend schärferen Antiterrorgesetzen. Seit 1986 sind diverse Maßnahmen zur Beschneidung der Grundrechte zunächst „vorläufig“ erlassen worden, um anschließend auf Dauer für rechtsgültig erklärt zu werden. Allein seit Beginn der Präsidentschaft von Hollande sind bis Oktober 2015 (und somit vor den Anschlägen) fünf solcher Gesetzestexte gegen den Terror vorbereitet worden. Und die seit November verabschiedeten oder angekündigten Texte werden die polizeilichen Befugnisse noch weiter ausdehnen.
Die Regierung hat nach den Attentaten vom 13. November den Ausnahmezustand verhängt und ihn anschließend per Abstimmung verlängert, um das Gesetz von 1955 ändern zu können. Die neuen Gesetze erlauben nunmehr Maßnahmen wie Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss, erleichterte Verhängung von Hausarrest oder Auflösung „gefährlicher“ Vereine und Gruppen, die künftig jedes Mal ergriffen werden können, wenn der Ausnahmezustand verhängt wird. Gekrönt wird das Ganze durch die Verankerung des „neu definierten“ Ausnahmezustands in der Verfassung.
Bereits die Maßnahmen rund um den Klimagipfel COP 21 zeigten, dass diese Gesetze weit über die Terrorbekämpfung hinaus zielen: Die nächsten werden all diejenigen sein, die der aktiven Opposition gegen die Regierungspolitik verdächtigt werden oder ihre Arbeitskämpfe in der breiten Öffentlichkeit propagieren wollen. Deutlich wird dies bspw. in einem Interview, das in der Wochenzeitung l’Anticapitaliste vom 12. April 2015 mit Laurence Blisson, dem Generalsekretär der Richtergewerkschaft Syndicat de la magistrature, über das neue Überwachungsgesetz vom Juli 2015 geführt worden ist. Hierin kritisiert er, dass mit dieser Gesetzesverschärfung die unternehmerfreundliche Austeritätspolitik der Regierung flankiert und gegen Kritik in Form politischer Streiks und breiter sozialer Bewegungen immunisiert werden soll.
Um zu verstehen, worum es 1958 ging, musste man, über den unmittelbaren Anlass (Algerien) hinaus, die kapitalistischen Klassenwidersprüche berücksichtigen. Genauso muss man heute über die bloßen Aspekte der Staatssicherheit hinausgehen, auch wenn diese natürlich ganz wesentlich sind und etliches Gefahrenpotential bergen. Giorgio Agamben schreibt in diesem Zusammenhang völlig zu Recht: „Worum es bei der Verlängerung des Ausnahmezustands in Frankreich (bis Ende Februar] wirklich geht, lässt sich nur in der Zusammenschau mit der radikalen Transformation des geläufigen Staatsmodells verstehen.“ [3]Weiter schreibt er, dass „der Ausnahmezustand inzwischen Teil eines Prozesses ist, in dem sich die westlichen Demokratien zu einem regelrechten Sicherheitsstaat entwickeln. [Dieser] schöpft sich aus der Angst, die er auch um jeden Preis schüren muss, da er nur so seine Funktion und Daseinsberechtigung aufrecht erhalten kann.“
Agambens Analyse klingt logisch, entbehrt aber eines zentralen Aspekts, nämlich der Wirtschaftskrise und der sozialen Verhältnisse. Heutzutage machen die Ziele der maßgeblichen Sektoren der französischen Bourgeoisie, nämlich die Zerschlagung der sozialstaatlichen Errungenschaften aus der Nachkriegszeit durch geeignete „Reformen“, einen noch stärkeren Staat erforderlich. Das französische Präsidialsystem ermöglicht heute schon, portugiesische oder spanische „Verhältnisse“ zu vermeiden, nämlich Wahlergebnisse, die keine klare Parlamentsmehrheit erbringen und es Parteien der radikalen Linken (Bloco de Esquerda rsp. Podemos) ermöglichen, Druck auf die Sachwalter der Sparpolitik auszuüben. Nunmehr geht es darum, eine Exekutive zu bilden, die über die entsprechenden Mittel verfügt, einer eventuellen sozialen Revolte in jedem Fall vorzubeugen. Das, was bisher als Ausnahme betrachtet worden ist, wie bspw. das Demonstrationsverbot, soll nunmehr zur Regel werden.
Trotzdem handelt es sich nach wie vor nicht um einen Faschisierungsprozess. Der Soziologe Alain Bihr meinte in einem Interview in der Wochenzeitung l’Anticapitaliste vom 24.4.2014, „der faschistische Staat ist nicht die einzige Form des Ausnahmestaats“ auf die die Bourgeoisie zurückgreifen kann. Es geht nicht darum, einen Staatsterrorismus durchzusetzen. Die institutionellen Formen der bürgerlichen Demokratie stehen nicht infrage. Bihr verwies auch darauf, dass eines der möglichen Szenarien zur Beschleunigung einer solchen Entwicklung „eine weitreichende Destabilisierung der engeren Peripherie Europas (Nordafrika, Naher Osten oder Osteuropa) [sein könnte], wo seine Grenzen unmittelbar bedroht werden (etwa in Form eines massiven Flüchtlingszustroms oder mehrerer Bürgerkriege“. [4]
1958 hatte der gaullistische Staat durchaus bonapartistische Aspekte: Bei seinem Machtantritt erweckte de Gaulle den Anschein, zwischen den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie zu lavieren, bevor er dann den gordischen Knoten zerschnitt und sich für die Unabhängigkeit Algeriens entschied und die europäische Integration vorantrieb (was ihn freilich nicht daran hinderte, die Interessen der französischen Landwirte heftig zu verfechten). Fortwährend beschwor er das „unsterbliche Frankreich“ und verfocht mit symbolischen Gesten eine Scheinunabhängigkeit von den USA, namentlich in militärischer (Austritt aus der Militärorganisation der NATO, atomare Bewaffnung) und diplomatischer (Distanzierung vom Vietnamkrieg der USA) Hinsicht.
Der starke Staat nach Art Hollandes hüllt sich in nationalistische Lumpen und lässt die Trikolore flaggen, stattet ostentativ dem Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ einen Besuch ab und will die Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft in die Verfassung einschreiben. Gemeinsam mit seinem Premier bemüht er nahezu unablässig patriotische Werte und die ehrenvolle Rolle von Armee und Polizei.
Beinahe könnte man glauben, die Losung der „Neo- Sozialisten“ von 1933 wieder zu hören: „Ordnung, Autorität, Nation“. [5]Dabei handelt es sich jedoch um einen billigen Abklatsch des Nationalismus. Der Historiker Enzo Traverso sieht es so: „Der „Ausnahmestaat“, der heute entsteht, ist nicht faschistisch oder faschisierend, sondern neoliberal: Er verwandelt die politischen Organe in einfache Ausführende der Entscheidungen der Finanzmächte, die die globale Ökonomie beherrschen. Er verkörpert nicht den starken Staat, mehr einen unterworfenen Staat, der einen großen Teil seiner Souveränität an die Märkte abgegeben hat.“ [6]
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Im Unterschied zu 1958 sind sich inzwischen die maßgeblichen Kreise der französischen Bourgeoisie über ihre Ziele einig. Der starke Staat von Hollande ist nicht bonapartistisch, sondern unmittelbares Instrument zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung auf allen Gebieten, der Aufrechterhaltung der „bestehenden Unordnung“, um einen Philosophen (E. Mounier) der 30er Jahre zu zitieren.
In diesem Zusammenhang darf ein anderer Aspekt nicht unerwähnt bleiben: die Entwicklung der PS. Diese war von Mitterand 1971 als Partei zur Veränderung der Gesellschaft wiederaufgebaut worden. Nach 1983 wurde derlei Ansinnen zu Grabe getragen, aber es blieb der Anspruch, die Gesellschaft modernisieren zu wollen und Überkommenes zu entrümpeln. Das letzte Mal, dass diese Ambition aufschien, war die „Ehe für alle“. Inzwischen ist diese Phase abgeschlossen: Mit Hollande und Valls ist Guy Mollet, der Schlächter des algerischen Volkes von 1956, wieder zurück. Mollet war es auch, unter dem die damals SFIO genannte Sozialistische Partei den Ruf nach einem starken Mann, nämlich de Gaulle, unterstützte und die Zustimmung zur Verfassung der V. Republik einwarb.
Besonders beschämend bei dieser Angelegenheit ist, dass Hollande und Valls sich die Bekämpfung des Front national auf die Fahnen geschrieben haben, hingegen dieser Partei nicht nur durch ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik den Boden bereiten, sondern auch durch die Verhängung des Ausnahmezustands die juristischen und politischen Vorbedingungen schaffen und die Gehirne waschen. Dadurch machen sie die Bevölkerung empfänglich für einen Ausnahmezustand nach Art der Marine Le Pen, sobald diese erst mal an der Macht ist.
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 2/2016 (März/April 2016). | Startseite | Impressum | Datenschutz