Griechenland

Nationalistische Fallstricke für die Linke

Angesichts der verschärften Bemühungen seitens EU und NATO, den Balkan in die westlichen Bündnisse stärker einzubinden, kocht die Mazedonien-Frage wieder hoch. Namentlich in Griechenland nimmt der nationalistische Spuk beunruhigende Ausmaße an und stellt besonders die Linke auf die (Zerreiß-)Probe.

Emil Ansker

Um den NATO-Beitritt der Republik Mazedonien zu forcieren, setzen die USA Tsipras und den mazedonischen Premier Zoran Zaev unter Druck, sich im Namensstreit um den mazedonischen Staat zu einigen. Seit dessen Gründung 1991 wird dieser Name von sämtlichen griechischen Regierungen angefochten, weil es sich hierbei um eine Usurpation fremder Geschichte durch die missbräuchliche Verwendung des Namens und der Symbole des antiken hellenischen Königreichs unter Alexander dem Großen handele. Dessen Erbe gehöre allein dem griechischen Staat und deswegen müssten auch die seiner Meinung nach irredentistischen [1] Passagen aus der mazedonischen Verfassung gestrichen werden.


Ein erbärmlicher Disput


Auch wenn sie innenpolitisch unter Druck stehen, wie sich an den nationalistischen Kundgebungen in jüngster Zeit gezeigt hat, scheinen beide Parteien entschlossen, diesen unseligen Streit in der durch die US-amerikanischen und europäischen „Partnerländer“ vorgegebenen Zeit beilegen zu wollen. Zaev hat bspw. bereits akzeptiert, den zentralen Flughafen und die Hauptautobahnachse des Landes so umzutaufen, dass die Bezüge auf Alexander den Großen getilgt werden. Außerdem ständen mehrere Namen zur Disposition [2], um Tsipras’ Ansprüchen Genüge zu tun und eine eindeutige Unterscheidung zwischen dem mazedonischen Staat und der gleichnamigen Provinz in Nordgriechenland zu treffen.

Auf griechischer Seite hat dieser diplomatische Vorstoß umgehend die reaktionärsten Kreise des politischen und gesellschaftlichen Spektrums auf den Plan gerufen. Am 21. Januar kam es zu der ersten nationalistischen Demonstration mit mehreren Zehntausend Teilnehmer*innen in Thessaloniki, an deren Ende ein besetztes Haus abgefackelt wurde. Danach gab es am 4. Februar eine Kundgebung auf dem Syntagma-Platz in Athen, zu der die Nea Dimokratia, die extreme Rechte (darunter natürlich die Goldene Morgenröte), die Kirche, die Vertriebenenverbände, die rechten Medien etc. aufgerufen hatten.

Auch wenn die Organisatoren eine Teilnehmerzahl von 1,5 Millionen reklamieren – wohingegen die Polizei von 150 000 spricht –, liegen die Zahlen weit unterhalb der Massenkundgebungen zu dieser Frage in den 1990er Jahren. Bedenkt man hingegen, dass zweieinhalb Jahre zuvor dort noch eine Massenkundgebung für das Nein zum dritten EU-Memorandum stattgefunden hat, zeigt ein solcher Massenauflauf zu einem solchen Thema, dass das Pendel zurückschwingt.

Die diesmal aufgestellten Parolen wandten sich strikt gegen jeden Gebrauch des Namens „Mazedonien“, selbst als geographische Bezeichnung. Welche geistige Verfasstheit dort herrschte, zeigt das folgende Zitat des Hauptredners, des 92-jährigen Komponisten Mikis Theodorakis [3]: „Mazedonien war immer griechisch und wird es immer sein.“ Und schlimmer und verwirrender noch (gerade in Hinblick auf die eigene politische Biographie): Nachdem er die Regierung als „Vaterlandsverräter“ angeprangert hatte, rief er dazu auf, „den Faschismus in jeder Form anzuprangern und zu bekämpfen, v. a. in seiner hinterlistigsten, perfidesten und gefährlichsten Form, nämlich als Linksfaschismus“.


Zwei Herzen in der rechten Brust …


Obwohl sie zutiefst konservativ inspiriert sind, kommen diese Demonstrationen dem Vorsitzenden der Nea Dimokratia Kyriakos Mitsotakis nicht recht zupass. Einerseits versucht er, sich gegenüber seinem Vorgänger Samaras als Vertreter der politischen Mitte zu profilieren. Bei Fragen, die die Ziele der EU und der NATO kompromittieren könnten, befindet er sich dabei auf derselben Seite wie Tsipras. Auf der anderen Seite hatte sich seine Partei einst unter der Regierung Karamanlis für einen Namen ausgesprochen, der „Mazedonien“ als Bestandteil enthält. Indem er nun diese Position aufgibt, gleitet er gezwungenermaßen nach rechts ab, was ihm Syriza genüsslich vorhält.

Angesichts dieser Konstellation und des stagnierenden Einflusses der neofaschistischen Goldenen Morgenröte seit 2015 wird über die Gründung einer neuen Rechtspartei spekuliert. Nahrung erhielt diese Mutmaßung durch die Anwesenheit des General Frangos Frangoulis auf der Rednertribüne der Kundgebung in Thessaloniki. Er wäre dafür der ideale Kandidat: Als ehemaliges Mitglied des Generalstabs der Armee und ultranationalistischer Türkenfresser war er kurzzeitig Verteidigungsminister unter Pikrammenos (Mai bis Juni 2012) und später Unterzeichner eines Aufrufs von Reserveoffizieren für ein Ja beim Referendum zum EU-Memorandum 2015. Kurzum, eine perfekte Mischung aus aggressivem Nationalismus und unerschütterlicher Loyalität gegenüber EU und NATO. Allerdings gibt er sich sehr reserviert hinsichtlich seiner politischen Zukunftsperspektive, und tatsächlich lassen ND und Goldene Morgenröte momentan keinen Raum zwischen sich für eine weitere Partei.

Tsipras muss dies auch nicht sonderlich kümmern, zumal seine Koalition mit der Anel die bei den Verhandlungen mit Zaev zutage getretenen inneren Widersprüche gut aushalten kann. Zwar befinden sich die nationalistisch gesinnten Unabhängigen Griechen (Anel) unter Panos Kammenos, die der Kirche und der Armee sehr nahestehen, durch diese Verhandlungen gegenüber ihrer Basis in einer heiklen Lage, aber es scheint sich ein tragfähiger Kompromiss abzuzeichnen. Die Anel könnte sich bei der Abstimmung enthalten und das griechisch-mazedonische Abkommen käme mit den Stimmen von Pasok und Potami durch das Parlament. Diese Konstellation bewährt sich bekanntlich seit 2015.


… und auch die Linke ist ambivalent


Der tragische, wenn auch nicht überraschende Fall Mikis Theodorakis steht emblematisch für das strukturelle Dilemma in der griechischen Linken. Unter dem Deckmäntelchen der Opposition gegen die NATO-Strategie und die EU-Erweiterung um die Balkanstaaten schrecken viele nicht vor einer Querfront mit den übelsten Chauvinisten und gemeinsamen Auftritten mit Vertretern der Reaktion zurück.

Beispiele dafür sind die Maoisten der KOE (Kommunistische Organisation Griechenlands; früher Mitglied von Syriza, jetzt unabhängig), die die obigen Versammlungen aktiv unterstützt haben. Oder Zoé Konstantopoulou, die ehemalige Parlamentspräsidentin und Vorsitzende ihrer Minipartei „Kurs der Freiheit“ (Plefsi Elefterias), die vor wenigen Monaten im Beisein von Jean-Luc Mélenchon gegründet wurde. Zu allen Schandtaten bereit, wenn es gegen die Regierung geht, begeisterte sie sich für die „Hunderttausende Bürger, die ein neues Blatt in der Geschichte zur Verteidigung unserer Würde und unseres Vaterlandes geschrieben“ hätten. Dabei entblödete sie sich nicht, ihre Unterstützung für die Versammlungen damit zu rechtfertigen, dass man das Terrain nicht den Faschisten überlassen dürfe.

Andere wiederum lamentieren über die Verkehrung der Prioritäten, wo doch die größte Bedrohung für Griechenland aus Ankara und weniger aus Skopje käme. Diese Position wurde auf der Webseite der Linken Strömung von Lafazanis (Volkseinheit, LAE) veröffentlicht, ausgeschmückt mit Kommentaren über die potentielle Bedrohung durch den mazedonischen Irredentismus und den albanischen Nationalismus. Es hat übrigens nicht viel daran gefehlt, dass die Volkseinheit offiziell zu den Kundgebungen mobilisiert hätte, so wohlwollend wie ihre Führung diese kommentiert hat. [4] Die LAE hält hartnäckig an der „provisorischen“ Bezeichnung „Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien“ fest, die Griechenland 1993 durchgesetzt hat, und wendet sich strikt gegen jedes Abkommen „unter der Fuchtel der NATO“.

Die KKE wiederum lehnt zwar gemäß ihrer sterilen antiimperialistischen Rhetorik diese Bezeichnung als expansionistisch ab und verurteilt die nationalistischen Kundgebungen als Ablenkungsmanöver und Fallstrick für die Völker der Region, passt sich aber de facto an die Regierungsposition eines zusammengesetzten Namens für Mazedonien an.


Unsere Position als Internationalisten


Obwohl die gesamte radikale Linke einhellig die nationalistischen Kundgebungen verurteilt und gegen die imperialistischen Pläne auf dem Balkan kämpft, gibt es unterschiedliche Auffassungen über die sich daraus ergebenden Forderungen und die Analyse der spezifischen Rolle Griechenlands im Modell des westlichen Imperialismus.

      
Mehr dazu
Emil Ansker: Nationalistische Fallstricke für die Linke, die internationale Nr. 4/2018 (Juli/August 2018)
Angélique Kourounis: Ein Jungbrunnen für die Faschisten, die internationale Nr. 4/2018 (Juli/August 2018)
Interview mit Alek Atevik: Für eine sozialistische Bewegung auf dem Balkan, die internationale Nr. 4/2018 (Juli/August 2018)
 

Diese Divergenzen gehen auf die unterschiedlichen ideologischen Traditionen zurück, da die aus dem Stalinismus stammenden Strömungen schon immer eine andere Auffassung vom Charakter des griechischen Staates hatten als die trotzkistischen und der Großteil der anarchistischen Strömungen. Für die einen ist Griechenland ein vom westlichen Imperialismus beherrschter Staat, dessen nationale Interessen zur Disposition stehen: Die EU-Memoranden stützen natürlich diese Theorie. Für die anderen ist Griechenland ein unverzichtbares Kettenglied für die imperialistische Herrschaft in der Region: Es war Gründungsmitglied der NATO und der erste Balkanstaat in der EU und der Eurozone und seine Unternehmen (besonders im Banken- und Bausektor) expandieren schon lange massiv auf die Märkte der Nachbarländer, besonders in Mazedonien.

Innerhalb des antikapitalistischen Bündnisses Antarsya halten ein Teil der NAR (Strömung der Neuen Linken, die aus einer Abspaltung der KP-Jugend 1989 hervorgegangen ist) und andere Strömungen maoistischen Ursprungs einen zusammengesetzten Namen für eine gute Lösung und verurteilen sämtliche nationalistischen Tendenzen auf dem Balkan in gleicher Weise und ohne die geringste Unterscheidung zu treffen – eine Position, die der KKE nahesteht. Andere wie die OKDE-Spartakos und die SEK fordern die Anerkennung des Namens „Republik Mazedonien“ sowie der slawisch-mazedonischen Minderheit in Nordgriechenland und lehnen es ab, beide Nationalismen über einen Kamm zu scheren, da sie Griechenland als vorherrschende imperialistische Kraft auf dem Balkan einstufen.

Das ändert aber nichts daran, dass der antikapitalistischen Linken und der libertären Bewegung das Verdienst zukommt, sich um eine politische Antwort auf das nationalistische Gift bemüht zu haben, das diesen Namen verdient, und dafür auch mobilisiert zu haben. Bereits am 3. Februar, also am Vorabend der Kundgebung in Athen, gelang es einer Versammlung von 2500 Antifaschisten, eine Demonstration zu verhindern, zu der die Goldene Morgenröte aufgerufen hatte. Am nächsten Tag wurden die Vereinslokale im Viertel Exarcheia, die ein paar hundert Meter vom Syntagma entfernt liegen, dank der Mobilisierung unter den anarchistischen Netzwerken gut bewacht und 2000 Antifaschist*innen versammelten sich vor den Propyläen. Dadurch konnten die Faschist*innen aller Couleur trotz ihrer massiven Präsenz im Zentrum Athens am 4. Februar an ihren üblichen Attacken gehindert werden.

[…] Weitere Aktionen werden notwendig sein, um zu demonstrieren, dass es wider die Interessen der Arbeiter*innen und der Völker des Balkans ist, den nationalistischen Sirenen zu folgen.

Übersetzung MiWe



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr. | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Irredentismus ist die Bezeichnung einer Ideologie, die auf die Zusammenführung möglichst aller Vertreter einer bestimmten Ethnie in einem einheitlichen Staat hinzielt, in der Regel durch Annexion von Gebieten anderer Staaten – Wikipedia

[2] Nordmazedonien, Obermazedonien, Republik Mazedonien-Skopje, Neumazedonien etc.

[3] Symbol des Widerstands gegen die Nazis und später gegen die Militärdiktatur. Langjähriges Mitglied der KKE und zwischen 1990 und 1992 Minister in der rechten Regierung unter Constantinos Mitsotakis.

[4] Eine andere Strömung innerhalb der LAE aus DEA und Red Network hingegen hat klar antichauvinistische Positionen bezogen.