Léon Crémieux
Seit Mitte November erlebt die Gelbwestenbewegung mit ihren Protestaktionen immer stärkeren Auftrieb, weil sich andere Gesellschaftsschichten anschließen. Die Auseinandersetzungen auf den Champs Elysées in Paris wurden zwar zum Symbol für die Ereignisse dieses Tages erklärt, aber in den anderen Städten (Toulouse, Marseille etc.) erreichten die Zusammenstöße ein deutlich höheres Ausmaß als zuvor, auch wenn die Beteiligung an den Protesten nicht höher als in der Vorwoche war. In Le Puy en Velay brannte gar das Verwaltungsamt des Departements. Nicht nur die Protestformen wurden radikaler, sondern auch die Parolen, in denen unisono der Abtritt von Macron gefordert wurde. Bilder gingen um die Welt, auf denen die Polizei vom Arc de Triomphe verjagt wurde, der von den Gelbwesten angesprüht und besetzt wurde, und wurden zum Ausdruck der politischen Krise und der schwindenden Akzeptanz Macrons in der Bevölkerung.
Bereits zuvor war schon deutlicher geworden, dass mit dieser Bewegung eine Polarisierung zwischen den Klassen zum Ausdruck kommt, wo sich die unteren Schichten und die Wohlhabenden und Großstädter gegenüberstehen. In einer Reihe von Städten haben sich Teile der Gewerkschaftsbewegung den Protesten der Gelbwesten angeschlossen und es kam zu – wenigstens teilweise – gemeinsamen Kundgebungen mit Demonstrationsteilnehmer*innen, die dem schon lange feststehenden Aufruf der CGT zur Verteidigung der Rechte von Erwerbslosen gefolgt waren. Daneben hatten aber auch Gewerkschaftsgliederungen verschiedener staatlicher und privater Unternehmen direkt zur Teilnahme an den Protesten der Gelbwesten aufgerufen.
So hat sich inzwischen auch das Zerrbild von der angeblichen „Braunfärbung“ der Gelbwesten aufgeweicht, das anfänglich in den Reihen der Gewerkschaftsbewegung, der radikalen Linken und den sozialen Bewegungen kursierte. Allmählich beinhalten die Forderungen mehr soziale Substanz und die Aktiven entstammen vorwiegend der Unterschicht, wenngleich die soziale Zusammensetzung gemischt ist. Insofern sind die Trennlinien aufgebrochen und ein Zusammengehen mit der Arbeiterbewegung ist perspektivisch in Reichweite gerückt, was die Kräfteverhältnisse natürlich beeinflussen wird.
Die Frage der schwindenden „Kaufkraft“ der unteren Schichten wird nicht mehr nur in Zusammenhang mit der Erhöhung der Mineralölsteuer gesehen, sondern im Lichte der gesamten Fiskalpolitik der Regierung, die durch indirekte Steuern die Armen benachteiligt und durch den Wegfall der Reichensteuer und mit anderen Steuergeschenken die Oberen bevorzugt. Inzwischen wird in zahlreichen Erklärungen und Parolen der Gelbwesten explizit die Frage nach der Verteilung des Reichtums gestellt. Inzwischen sind Themen wie die Kürzungen der Renten und Pensionen, die niedrigen Löhne und der Mindestlohn in den Vordergrund gerückt, womit die Verbindung zu dem Forderungskatalog der Arbeiterbewegung hergestellt werden kann.
Bereits vor dem 1. Dezember folgte die Gelbwestenbewegung einer Klassendynamik, in der die extreme Rechte an den Rand gedrängt war – zwar nicht, was ihr Gehör unter einem Teil der Gelbwesten angeht, aber was die Durchschlagskraft der klassisch rechten Parolen angeht: die Einwanderung als Wurzel allen Übels, die „erdrückende Steuerlast“ [die den Mittelstand ausblutet], die Gleichbehandlung aller direkten und indirekten Steuern zulasten der Unterschichten wie auch der Unternehmer*innen oder die Demagogie gegen die „privilegierten“ Beamten.
Seit dem 1. Dezember herrscht eine tiefgreifende politische Krise, in der Macron und die Parlamentsabgeordneten seiner Partei (LREM) mit dem Rücken zur Wand stehen und ihnen auch noch der letzte Rest an Sympathie unter der Bevölkerung wegschmilzt und sie stattdessen gleichsam als „das letzte Aufgebot“ der Besitzenden dastehen. Macron ist angezählt und sieht, dass sein Image als Präsident des Volkes auf internationaler Ebene ramponiert ist, während im eigenen Land die Gelbwesten trotz der Ausschreitungen unverändert populär sind. Es war daher Ausdruck purer Panik, als Premierminister Edouard Philippe unmittelbar nach dem 1. Dezember die Erhöhung der Kraftstoffsteuer zunächst um 6 Monate verschoben und dann für das gesamte kommende Jahr aufgehoben hat.
Aber, wie die Presse schreibt, „dies kommt zu spät und ist zu wenig“, denn statt zufrieden über diese ersten Zugeständnisse zu sein, fühlen sich die Gelbwesten eher zum Weitermachen ermutigt. Und auch andere Bevölkerungsschichten, die seit mindestens zwei Jahren von der Sparpolitik betroffen sind und sich mangels Koordination nicht erfolgreich wehren konnten, sehen jetzt die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen: Bauern, LKW-Fahrer*innen, Hafenarbeiter*innen usw.
Die Regierung hat – parallel zu ihrem Zurückrudern – versucht, die Lage zu dramatisieren und drohendes Chaos oder gar einen Staatsstreich und das Gespenst des Rechtsextremismus an die Wand gemalt, um so der Bewegung die Unterstützung seitens der Bevölkerung zu entziehen und ein Zusammengehen mit der Arbeiterbewegung am 8. Dezember zu verhindern. Im Vorfeld des 8. Dezember hat sich Macron zurückgehalten, um der allgemeinen Unzufriedenheit keinen Vorschub zu leisten, hat aber versucht, all die „zwischengeschalteten Instanzen“ einzubinden, die er bis dahin eher ignoriert hatte: Abgeordnete und Senatoren, Bürgermeister und Gewerkschaftsspitzen. Die sollten für ihn den Job übernehmen, den „sozialen Dialog“ zu propagieren und die Gelbwesten zur Raison zu rufen. Mit Ausnahme der Basisgewerkschaften Solidaires haben sich die Gewerkschaftsführungen zu einer schändlichen gemeinsamen Erklärung hinreißen lassen, in der sie zur „Ordnung“ aufrufen, wobei zahlreiche Untergliederungen der CGT auf Branchen- und Regionalebene ihrem Dachverband widersprochen haben. Zugleich musste die CGT auf Druck ihrer Basis zu einem Aktionstag aufrufen, allerdings sinnigerweise … für Freitag, den 14. Dezember.
Macrons Taktik vor dem 8. Dezember ging indes in die Hose. Nicht nur, dass die Zugeständnisse als Ermutigung aufgefasst wurden, sondern in den Städten und Regionen kam es zu gemeinsamen Aktionen mit Teilen der Gewerkschaftsbewegung, die dann am 8. Dezember in gemeinsame Demonstrationen einmündeten. Die Teilnehmerzahlen waren so hoch wie am 1. Dezember und in vielen Städten marschierten Demonstrationsblöcke der Gelbwesten buntgemischt mit Blöcken der sozialen Bewegungen. In vielen Städten schlossen sie sich oftmals auch den Kundgebungen an, die die Klimabewegung für diesen Tag organisiert hatte.
Durch diese Entwicklung erfuhr die Gelbwestenbewegung eine Radikalisierung hin zu sozialen Forderungen, wodurch auch der Einfluss der extremen Rechten, die weiterhin in der Bewegung präsent sind, in Zaum gehalten wurde. Parallel traten unmittelbar vor dem 8. Dezember die Schüler*innen von 100 bis 200 Gymnasien in Streik- und Blockadeaktionen, um wieder ihrem Protest gegen die Zugangsbeschränkungen zu den Universitäten und die gleichgelagerten Reformen der Abitursprüfungen Nachdruck zu verleihen.
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Am 8. Dezember kam es zu zahlreichen Auseinandersetzungen in den Städten, deren Schauplatz zumeist die Kreisverwaltungen als Symbole des Staates waren. Demgegenüber setzte die Polizei auf massive Gewalt und Repression. Über 1000 Verhaftungen, darunter viele als „Präventivmaßnahme“, und systematischer Einsatz von Tränengasgranaten und Gummigeschossen gegen die Demonstrationszüge und Kundgebungen der Schüler*innen mit Hunderten von Verletzten. Insgesamt belief sich das Polizeiaufgebot gegen die Demonstranten auf 85 000 Einsatzkräfte mit gepanzerten Fahrzeugen.
Was wir momentan erleben, ist eine in dieser Form noch nicht dagewesene weit verbreitete Gegenwehr gegen die Austeritätspolitik und die Regierung und gegen das ganze Spektrum von Sozialabbaumaßnahmen, denen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Lohnerhöhungen gegenübergestellt werden. Und die Proteste richten sich unmittelbar gegen Macron. Zum ersten Mal seit dessen Wahl, genau genommen seit 1995, beginnen die Kräfteverhältnisse ernsthaft zu kippen und all die Bevölkerungsschichten, die jahrelang Einschnitte hinnehmen mussten und einzeln in ihren Abwehrkämpfen geschlagen wurden, erkennen, dass die Gelegenheit zur erfolgreichen Gegenwehr gekommen ist. Paradox ist jedoch, dass die organisierte Arbeiterbewegung und auch die Lohnabhängigen als Belegschaften in den Betrieben bis heute noch immer nicht die Stafette aufgegriffen haben und in den Streik getreten sind, obwohl die vor ihnen stehende Bewegung ganz überwiegend von der einfachen Bevölkerung getragen wird und sich viele Lohnabhängige als Einzelpersonen daran beteiligen.
Wirklich bemerkenswert an diesem Vorgehen ist, dass die Regierung ihre Klassenpolitik unvermindert beibehält und weder die 40 Milliarden an Steuer- und Abgabenerleichterungen für die Unternehmen noch die zahlreichen Steuervergünstigungen für die Superreichen zurücknimmt. Die Umverteilung der Reichtümer von unten nach oben, gegen die die Gelbwesten und dabei die von der Sparpolitik am härtesten betroffenen Bevölkerungsschichten auf die Straßen gehen, bleibt unangetastet.
In den kommenden Tagen steht viel auf dem Spiel. Die Regierung hofft darauf, die Proteste eingedämmt zu haben, und setzt dabei auf ein Abbröckeln der Bewegung und ihre Isolierung. Daher hängt alles davon ab, ob einerseits die Mobilisierung aufrechterhalten und eine basisdemokratische Struktur geschaffen werden kann und andererseits andere Bevölkerungsschichten in den Wohnvierteln, Betrieben und sozialen Bewegungen angesprochen und in die Mobilisierung eingebunden werden können. Es geht also darum, die Mobilisierung beizubehalten und sich nicht auseinanderdividieren zu lassen, trotz des eingesetzten Trommelfeuers der Medien und obwohl die Gewerkschaftsführungen schweigend danebenstehen, weil sie von diesem Ausmaß der sozialen Bewegung einfach überrollt wurden. Es geht also darum, gegen Macron und seine Politik so breit wie möglich in die Offensive zu kommen.
11.12.2018 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2019 (Januar/Februar 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz