Der Versuch, die natürlichen Grundlagen des Lebens allein durch Verhandlungen „mit allen Beteiligten“ zu erhalten, wird an derselben Barriere scheitern wie die „Sozialpartnerschaft“: den kapitalistischen Klasseninteressen.
Nationale Leitung der Gauche anticapitaliste
Die Bewegung gegen den Klimawandel nimmt immer weiter zu. Sie geht inzwischen weit über die klassischen Umweltschutzinitiativen hinaus, erfasst neue Gesellschaftsschichten und mobilisiert immer mehr Menschen. Mehr und mehr richtet sich die Kritik auch gegen den Produktivismus und die Profitlogik des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Diese Entwicklung hat noch einmal beträchtlich zugenommen, seit sich die Jugend im Kampf gegen den Klimawandel engagiert.
Am 15. März sind weltweit über eine Million (mehrheitlich junge) Menschen dem Aufruf der Schwedin Greta Thunberg gefolgt und auf die Straße gegangen. Auch wenn die Mobilisierung der Jugend im Moment noch auf die westlichen Länder beschränkt ist, ist der politische Alltag mit seiner Agenda bereits dadurch in Aufruhr geraten und sehen sich alle Beteiligten – ob aus Politik, Gewerkschaften, Verbänden oder sozialen Bewegungen – mit zwei grundlegenden Fragen konfrontiert. Erstens, warum unternehmt Ihr nicht alles, um die täglich wachsende Gefahr einer schrecklichen Katastrophe so weit als möglich und unter Wahrung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zu begrenzen? Und zweitens, wie könnt Ihr es wagen, Euren Kindern und Enkeln so einen Dreck zu hinterlassen?
Beide Fragen bleiben ohne Antwort, weil sie die heilige Kuh des Kapitalismus antasten: das Wachstum. „Ein Kapitalismus ohne Wachstum ist ein Widerspruch in sich“, meinte der Wirtschaftswissenschafter Schumpeter. Mittlerweile entpuppt sich dieser Widerspruch vor unseren Augen als Hauptursache für den unüberwindbaren Antagonismus zwischen dem Kapitalismus und einem respektvollen Umgang der Menschheit mit der übrigen Natur, der von Nachhaltigkeit und nicht von Ausplünderung geprägt ist.
Dass wir auf diesem Aspekt herumreiten, hat nicht vorwiegend ideologische Gründe und unterstellt auch nicht, dass „Nullwachstum“ an sich ein gesellschaftliches Ziel sei, sondern liegt einzig daran, dass die Möglichkeit, die Klimakatastrophe zu begrenzen, inzwischen unmittelbar davon abhängt, wie schnell und entschlossen die Gesellschaft ihren Ressourcenverbrauch und deren Rückstände reduziert. Diese Ausstöße und besonders die CO2-Emissionen müssen umgehend reduziert werden, indem wir aus dem Produktivismus aussteigen und uns eine neue gesellschaftliche Produktionsweise aneignen, die auf Werten wie Teilen, Kooperation, Respekt und gleichen Rechten beruht. Das ist nur möglich, wenn die Produktion von Tauschwerten, also Waren für den Profit der konkurrierenden Kapitalist*innen, abgeschafft und durch eine neue gesellschaftliche Antriebsfeder ersetzt wird: die Produktion von Gebrauchswerten, mit denen wirkliche Bedürfnisse der durch den Warenfetischismus entfremdeten Menschen gestillt werden und über die demokratisch und unter Beachtung der Grenzen der Ökosysteme entschieden wird.
Wie radikal der Wirtschaftswandel vonstattengehen muss, ergibt sich aus dem Sonderbericht des Weltklimarates zum 1,5-Grad-Ziel. In der Zusammenfassung heißt es dort, dass die weltweiten CO2-Nettoemissionen bis 2030 um 45 % gegenüber 2010 sinken müssen, weswegen der Klimarat für „tiefgreifende Veränderungen in allen Gesellschaftsbereichen“ plädiert.
Der extreme Ernst der Lage wird dann aber wiederum in den Schlussfolgerungen etwas relativiert, die von den Medien der ganzen Welt breit berichtet worden sind. Im Gesamtbericht werden vier mögliche Szenarien für die Reduktion der Emissionen unterschieden, wie der nachfolgenden Grafik zu entnehmen ist.
Das Szenario 1 zeigt, dass die Chancen, das 1,5-Grad-Ziel nicht zu verfehlen, bei lediglich 50 % liegen und dies auch nur, wenn folgende modellierte Emissionspfade eingehalten werden: Die globalen CO2-Nettoemissionen müssen zwischen 2020 und 2030 um 58 % sinken und anschließend bis spätestens 2050 bei Null liegen. Im Folgezeitraum bis 2100 müssen die Emissionen negativ bleiben.
Die drei anderen Szenarien zeigen, dass mit jeder Abweichung von diesem Zeitplan das Risiko wächst, das 1,5-Grad-Ziel zu überschreiten, was dann nur noch durch den Einsatz von Negativen Emissionstechnologien (NET) zur Abscheidung von CO2 aus der Atmosphäre korrigiert werden könnte. Die vom Weltklimarat in seinem Bericht ausgesprochene und von den Medien aufgegriffene Empfehlung, die Emissionen bis 2030 um 45 % zu senken, entspricht daher einem Zeitplan, der zwischen den Szenarien 2 und 3 angesiedelt ist und zu einem leichten Überschreiten des 1,5-Grad-Ziels bis 2050 und folglich zu einem recht beträchtlichen Einsatz der NET führen würde. Bereits in seinem vorigen Bericht von 2014 hatte der Rat Szenarien vorgestellt, die zu 95 % auf dem Einsatz von NET basierten. Dieses Vorgehen wird auch im jüngsten Bericht gestützt. Dennoch sind Zweifel erlaubt, denn das Ausmaß des Einsatzes solcher Methoden korreliert mit unserem Unvermögen, die Geisterfahrt der kapitalistischen Akkumulation aufzuhalten. Indem unterstellt wird, dass mit diesen Technologien die Katastrophe vermieden werden könnte, die beim Überschreiten eines Temperaturanstiegs von 2 °C droht (und diese Annahme beruht eher auf Science-Fiction), wird der oben beschriebene Grundwiderspruch unausweichlich in einer noch schärferen Form auf uns zurückfallen. Insofern stecken wir nicht in einer „Krise“, sondern stehen am Kreuzweg der Zivilisation.
Kommen wir zurück auf die vier Szenarien. Um sie zu verstehen, muss man wissen, dass „Negative Nettoemissionen“ bedeutet, dass die Erde mehr CO2 aufnimmt als abgibt. Die „Nettoemissionen“ errechnen sich, indem man die Absorptionen von den Emissionen abzieht. Diese Absorptionen kommen in erster Linie auf natürlichem Wege zustande: Die Grünpflanzen ernähren sich von CO2 aus der Luft und das CO2 löst sich auf natürlichem Weg im Wasser. Auf diese Weise wird gegenwärtig ungefähr die Hälfte der jährlichen anthropogenen CO2-Emissionen von 40 Gigatonnen wieder der Atmosphäre entzogen. Folglich betragen die verbleibenden weltweiten Nettoemissionen 20 Gigatonnen pro Jahr. Notabene ist hier einerseits nur von CO2 die Rede und die anderen zusätzlich emittierten Treibhausgase fließen überhaupt nicht in die Berechnung des „CO2-Budgets“ ein und andererseits nimmt die CO2-Absorption durch die Ökosysteme infolge der Klimaerwärmung tendenziell ab, v. a. weil sich CO2 in warmem Wasser schlechter auflöst als in kaltem.
Aufschlüsselung der Beiträge zu den globalen CO2-Nettoemissionen entlang von 4 Szenarien Grafik: giec.be, nach IPCC SR1.5, SPM 3b.1 |
Um bis 2050 eine ausgeglichene Bilanz zu erzielen, setzt der Klimarat im Szenario 1 ausschließlich auf die mögliche Intensivierung dieser natürlichen Mechanismen, vorwiegend auf dem Wege der Wiederaufforstung und einer besseren Landnutzung. Das Vorsorgeprinzip bedingt auch, dass wir es dabei belassen und die Finger von den NET lassen müssen. Dies würde aber bedeuten, dass das Profitstreben auf ganz, ganz radikale Weise unterbunden werden müsste. Der Weltklimarat will davon aber nichts wissen. In seinem 5. Bericht schreibt er schwarz auf weiß: „Die Klimamodelle beruhen auf einer funktionierenden Marktwirtschaft und auf der Konkurrenz von Marktmechanismen“. Mit Volldampf also rein in die Technologie! Bloß was haben wir davon zu erwarten?
Die ausgereifteste dieser „Negativen Emissionstechnologien“ ist die Bioenergie mit Kohlenstoffdioxidabscheidung und -Speicherung (BECCS). Sie besteht darin, die fossilen Energieträger durch Biomasse zu ersetzen und das bei der Verbrennung freiwerdende CO2 in tiefe Gesteinsschichten zu verpressen. Weil die Grünpflanzen beim Wachstum CO2 absorbieren, müsste diese Technologie langfristig zu einer abnehmenden CO2-Konzentration in der Atmosphäre führen. Abgesehen davon, dass die Undurchlässigkeit der Gesteinsschichten noch immer ungewiss ist, setzt eine solche „Lösung“ voraus, dass ein beträchtlicher Anteil des bebaubaren Bodens (etwa ein Sechstel der gegenwärtig landwirtschaftlich genutzten Fläche) für die industrielle Erzeugung von Bioenergie genutzt werden muss, wenn eine signifikante Wirkung erzielt werden soll. Unabhängig davon, ob dafür Flächen, die bisher landwirtschaftlich genutzt werden, hergenommen werden oder nicht, würde davon die bereits heute beträchtliche nachteilige Wirkung der Bioenergie auf die Biodiversität und die Nahrungsmittelerzeugung gefährlich zunehmen. Dies allein spricht grundlegend gegen den Einsatz dieser Methode. Sollte sie trotzdem zur Anwendung kommen, um das Schlimmste zu vermeiden, müsste sie auf das Strikteste limitiert werden. Stattdessen gebietet es sich, die Emissionen selbst so schnell und so stark als möglich zu reduzieren.
Das aber stößt sich an der herrschenden Politik. Der Kapitalismus basiert auf den fossilen Brennstoffen und daran wird sich nichts ändern. Die Regierungen haben seit dem Erdgipfel in Rio 1992 so gut wie nichts unternommen, und die Emissionen sind unaufhörlich weiter gestiegen, sodass wir uns heute in einer kritischen Situation befinden. Daher würde die raschest- und stärkstmögliche Reduktion der Emissionen zwangsläufig voraussetzen, dass riesige Kapitalmengen vernichtet werden, also eine „Blase“ platzt, wie es noch nie der Fall gewesen ist. Dagegen wehren sich die wichtigsten Sektoren des Kapitalismus nach Leibeskräften, so dass sich inzwischen zwei Flügel innerhalb der herrschenden Klasse herausgeschält haben: auf der einen Seite Trump, Bolsonaro und andere Vertreter des Klimanegationismus, auf der anderen Seite die Verfechter eines „grünen Kapitalismus“. Sie plädieren de facto – um zu verhindern, dass der „Knall“ zu heftig ausfällt – für das Szenario 4, was einhergeht mit dem massiven Einsatz der BECCS, einem „temporären Überschreiten“ des 1,5-Grad-Ziels und einer Wiederabkühlung des Planeten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Denn diese Leute glauben, dass sich die Temperatur auf der Erde genauso leicht steuern lässt wie in ihrem „Smart Home“.
Dabei ist allen klar, dass der erste dieser beiden Flügel schlichtweg kriminell ist. Aber der zweite ist es nicht weniger, und zwar aus drei Gründen:
ist völlig unklar, ob die BECCS und die anderen angepeilten Technologien überhaupt dazu in der Lage sind, ausreichend CO2 aus der Atmosphäre abzuscheiden, um wieder unter die 1,5-Grad-Schwelle zu kommen, wenn sie erst einmal überschritten ist.
ist genauso unklar, wie man die schädlichen Wirkungen der BECCS und anderer Scheinlösungen umgehen kann, besonders in Hinblick auf die Biodiversität und die Ernährung der Weltbevölkerung.
ist der Klimawandel kein lineares Phänomen. Stattdessen wächst das Risiko ganz erheblich, dass es während des „temporären Überschreitens“ zu beträchtlichen „Zwischenfällen“ kommt, die irreversible Folgen haben, etwa dem Abrutschen des Thwaites- oder des Totten-Gletschers in der Antarktis, was einen Anstieg der Meeresspiegel um drei bis sechs Meter zur Folge hätte.
Um es noch einmal zu wiederholen: Egal was der Weltklimarat dazu sagt, wir müssen alles daransetzen, um dem Szenario 1 und den darin skizzierten Emissionsetappen so weit als irgend möglich zu folgen. Dafür muss sich die Klimabewegung einsetzen und sich dabei aber darüber im Klaren sein, was dies alles impliziert. Nämlich:
Die CO2-Emissionen stellen 76 % der anthropogenen Treibhausgasemissionen dar.
80 % der CO2-Emissionen werden durch die fossilen Brennstoffe verursacht.
Mehr als 80 % des Energiebedarfs der Menschheit wird durch diese Brennstoffe gedeckt.
Das Versorgungssystem mit diesen fossilen Brennstoffen ist so gut wie nicht vereinbar mit den erneuerbaren Energien und muss daher schnellstmöglich zerschlagen werden, egal ob die Anlagen amortisiert sind oder nicht.
Die dort getätigten Investitionen entsprechen ungefähr einem Fünftel des weltweiten BIP. Hinzu kommen die Aktiva aus den noch vorhandenen Brennstoffvorkommen, die zu 90 % unter der Erde bleiben müssen, wenn wir eine gut fünfzigprozentige Chance haben wollen, das 1,5-Grad-Ziel nicht zu reißen.
Die neuesten dieser Produktionsanlagen befinden sich in den sog. „Schwellenländern“ wie China, Indien oder Brasilien oder in anderen Ländern des globalen Südens – somit in Ländern, die nicht die historische Hauptverantwortung an dem Klimawandel haben.
Die Rahmenkonvention der UN über den Klimawandel, die 1992 in Rio verabschiedet worden ist, fordert zurecht, dass jedes Land gemäß seiner historischen Verantwortung und Möglichkeiten seinen Beitrag zur Klimarettung leisten muss.
Die erneuerbaren Energien reichen für den Bedarf der Menschheit aus, aber die für diese Energiewende erforderlichen Technologien verbrauchen mehr Ressourcen als die der fossilen Brennstoffe: Um eine Anlage herzustellen, die eine Kilowattstunde erneuerbare Energie produziert, braucht man zehnmal so viel Metall wie bei einer für fossile Energie und die Gewinnung dieser Metalle ist sehr energieintensiv und braucht auch viel Wasser.
Die Schlussfolgerungen, die sich hieraus ergeben, sind klar, nämlich dass das Szenario 1, das für die Menschen und die Natur das Optimum darstellt, eine gewaltige Herausforderung darstellt, nicht nur in technischer und konzeptioneller Hinsicht, sondern auch und v. a. was die für das globale Gleichgewicht erforderliche Abstimmung angeht. Denn es geht darum, dass unter Wahrung des Schlüsselprinzips der Klimagerechtigkeit zwischen Nord und Süd (das sogenannte „Prinzip der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung“ aus der UN-Rahmenkonvention)
die enormen Investitionen getätigt werden, um weltweit ein neues Energieversorgungssystem auf Grundlage erneuerbarer Energien zu schaffen;
dass für diesen Umbau Energie eingesetzt werden muss, die noch zu 80 % fossil ist und damit CO2 freisetzt;
dass ein Teil dieser Energie für die Förderung und Gewinnung seltener Metalle und Erden eingesetzt wird, die für die „grünen“ Technologien unerlässlich sind, zumal die Förderung dieser Metalle nicht nur viel Energie und Wasser benötigt, sondern dabei auch viel Abraum entsteht, da das Vorkommen im Gestein diffus ist;
und dass hierbei natürlich die oben erwähnten Vorgaben zur drastischen Reduktion der CO2-Nettoemissionen, nämlich um 58 % bis 2030, eingehalten werden müssen.
Daher halten wir ausdrücklich daran fest, dass sich dieses Bündel sozio-politischer, zeitlicher und physischer Zwänge unmöglich ohne ein striktes und radikales antikapitalistisches Gesamtprogramm bewältigen lässt. Denn es geht nicht nur darum, die Produktion bloß zu planen und zu rationalisieren, sondern darum, sie drastisch einzuschränken, um den Energieverbrauch wo irgend möglich zu reduzieren. Ohne eine solche drastische Reduktion wird es nämlich unmöglich sein, einerseits die Emissionen infolge der Umstellung auf ein neues Versorgungssystem mit erneuerbaren Energien zu kompensieren und andererseits den Ländern des Südens und besonders den von den internationalen Institutionen abfällig als besonders rückständig bezeichneten Ländern das vorrangige Recht einzuräumen, sich weiter zu entwickeln und dabei auf das noch verfügbare Budget an fossilen Energien zurückzugreifen.
Wenn diese beiden Kautelen nicht eingehalten werden, ist es komplett ausgeschlossen, die Vorgaben zur schrittweisen Reduktion der weltweiten Nettoemissionen, wie in den modellierten Emissionspfaden oben beschrieben, einzuhalten. Und selbst wenn man sich mit der vom Weltklimarat präferierten Vorgehensweise – Reduktion der Emissionen um 45 % bis 2030 – bescheidet, ist das Problem nur lösbar, wenn man den Rahmen der kapitalistischen Profitlogik verlässt.
Der Zwang des Kapitals zum Wachstum und die Untätigkeit seiner politischen Sachwalter*innen haben uns buchstäblich an den Rand des Abgrunds getrieben. Jetzt geht es darum, was wir tun müssen, um den Absturz zu vermeiden. Zunächst einmal ist es unabdingbar, dass wir darauf objektive Antworten geben, ohne uns unnötig zu bescheiden und uns dadurch beeindrucken zu lassen, was vorgeblich unter den gegebenen politischen, ökonomischen, sozialen und ideologischen Umständen machbar ist, weil dies nur die Realität auf den Kopf stellt.
In einem zweiten Schritt muss ausgelotet werden, wie wir vorgehen müssen, um das Unabdingbare möglich zu machen, welche Hindernisse dabei ausgeräumt werden müssen und wie viel Zeit wir dafür benötigen und welche Konsequenzen dies haben wird und wie wir mit diesen umgehen. Wenn wir in die andere Richtung gehen und zugrunde legen, was im Kapitalismus „möglich“ ist, um daraus die „notwendigen“ Handlungsschritte abzuleiten – nämlich das, was das Kapital zulässt – bedeutet dies, dass wir die historischen und sozialen Profitinteressen über die physischen Gesetze zum Erhalt des Klimas und damit der Erde stellen.
Kohlenstoffkreislauf (Wikimedia) |
Methodisch ist dies absolut unsinnig und zeigt nebenbei, dass die Ideologie von der „Beherrschung“ der Natur durch den Menschen nicht nur absurd, sondern auch blind und insofern gefährlich ist. Objektiv ist nicht daran zu rütteln, dass die wachsende Katastrophe nur durch ein konsequent antikapitalistisches Vorgehen aufgehalten werden kann, wobei Produktion, Handelsbeziehungen, das Verhältnis zu den Ländern des globalen Südens und die ganze Weltanschauung radikal auf den Kopf (besser auf die Füße) gestellt werden müssen. In den Industrieländern sind die Hauptachsen eines solchen Vorgehens, wie folgt:
Überflüssige und gefährliche Produktionszweige müssen eingestellt werden. „Jede nicht emittierte Tonne CO2 zählt“, sagt uns die Wissenschaft. Sie zieht daraus aber nicht die logische Schlussfolgerung, dass in erster Linie die Produktion und der Gebrauch von Rüstungsgütern, von Plastikverpackungen und unnützen Plastikkram eingestellt, der vorzeitige und geplante Verfall (Obsoleszenz) der Güter unterbunden und die Werbung verboten werden müssen. In den USA liegen bspw. die Gesamtemissionen der Rüstungsindustrie und des Verteidigungsministeriums bei etwa 150 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr, wobei noch nicht einmal die Emissionen der Militärbasen im Ausland mitgerechnet sind.
Unnötige Warentransporte müssen unterbunden werden, stattdessen muss so weit als möglich regional produziert und kurze Kreisläufe bevorzugt werden und es muss eine progressive Kerosinsteuer erhoben werden, deren Erträge über den Grünen Klimafonds den Ländern des Südens zugutekommen müssen. Die Emissionen der Transporte per Luft und Schiff tragen gegenwärtig 5 % der weltweiten Gesamtemissionen bei, bei rasch wachsender Tendenz infolge der kapitalistischen Globalisierung. Nach einer Studie des EU-Parlaments könnten diese bis 2050 sogar auf 22 % bzw. 17 % ansteigen. Insofern ist hier dringendes Handeln geboten.
Um die Mobilität der Personen zu gewährleisten, muss massiv in die öffentlichen Verkehrsmittel investiert werden und die Fahrradnutzung durch entsprechende Infrastrukturmaßnahmen erleichtert werden. Der private Autoverkehr hingegen muss unattraktiv gemacht werden, indem wohnortnahe Arbeitsplätze geschaffen und die Infrastruktur wieder in der Fläche verfügbar gemacht wird. Flugreisen müssen rationiert werden, indem kostenlose, personenbezogene und nicht weitergabefähige Flugtickets ausgegeben werden.
Regionale öffentliche Bauunternehmen müssen gegründet werden, die mit der energetischen Sanierung aller Gebäude beauftragt werden. Die neoliberale Politik, steuerliche Anreize für diese Maßnahmen zu setzen, verläuft zu schleppend, ist sozial ungerecht und zielt mehr auf den Einsatz erneuerbarer Energien durch die Haus- und Wohnungseigentümer und damit auf die irrationelle Entwicklung von „grünen“ Marktmechanismen als auf die Minderung des Energieverbrauchs durch die Isolierung der Gebäude. Der gebotene Handlungsdruck und die Vernunft sind Grund genug, die gegenwärtige Handhabung dieses Problems umgehend zu beenden.
Die fossilen Brennstoffe müssen unter der Erde bleiben und die Energie- und Finanzkonzerne entschädigungslos enteignet und in Gemeineigentum überführt werden. Beide Sektoren sind durch Investitionsdarlehen und Aktienbesitz eng miteinander verbunden. Wenn dieser Riegel nicht geknackt wird, lässt sich nicht binnen 10 Jahren ein reibungsloser Übergang zu einer hundertprozentig auf erneuerbaren Energien – und somit ohne Atomenergie – basierten Wirtschaft organisieren. Dies ist sozusagen die Schlüsselstellung für alle erforderlichen Strukturreformen.
Die Agrarindustrie und die kapitalistische Ausbeutung der Wälder müssen beendet werden. Denn auch wenn die natürliche CO2-Resorption nicht die Reduktion der Emissionen erübrigt, so kann sie sie doch ergänzen. Stattdessen muss eine ökologische Landwirtschaft gefördert werden, die auf Techniken basiert, die ein Maximum an CO2 im Boden binden. Zwischen Konsumenten und Produzenten müssen direkte Wege entstehen, wie auch die industrielle Tierhaltung unterbunden und eine fleischlose Ernährung gefördert werden müssen. Es müssen wieder Hecken gepflanzt und Feuchtgebiete hergestellt werden, statt alles zu versiegeln und zu verdichten. Diese Maßnahmen lassen sich auch ohne Umschweife durchführen.
Das Prinzip der Klimagerechtigkeit zwischen Norden und Süden muss beachtet werden. Das Mindeste dabei ist, dass die Schulden gestrichen werden, die zugesagten jährlich 100 Milliarden Dollar als Minimum von den Ländern des Nordens in den Grünen Klimafonds eingezahlt werden, darüber hinaus die im Süden entstehenden Verluste und Schäden infolge des Klimawandels, den hauptsächlich der Norden zu verantworten hat, ausgeglichen werden, Patente auf technologische Neuerungen im Energiesektor abgeschafft werden, der Handel mit Emissionszertifikaten und sonstigen „Kompensationsmechanismen“ für CO2-Emissionen verboten wird und ebenso die Einfuhr von Biosprit und ähnlichen Produkten, die letztlich nur neokoloniale Strukturen unter dem Vorzeichen der Klimakrise unterhalten, und dass last but not least Flüchtlinge sich frei bewegen und niederlassen können.
Wenn man nicht auf despotische Methoden zurückgreifen möchte, lassen sich diese Maßnahmen natürlich nur umsetzen, wenn sie von genauso radikalen sozialen Begleitmaßnahmen flankiert werden. Dies ist allein schon deswegen erforderlich, um eine Änderung der sozialen Verhaltensweisen zu erwirken. Solche Änderungen werden unter bestimmten Bevölkerungsschichten zweifelsohne auf wenig Zustimmung stoßen, wenn sie bloß durch als Wandel der Konsumgewohnheiten daherkommen. Dies betrifft bspw. die Kerosinsteuer und die Rationierung der Flugreisen. Manche Umweltschützer*innen – besonders aus den gehobenen Schichten – sind da sehr engstirnig und wollen dies einfach dekretieren. Dabei impliziert der Ausstieg aus dem Profitstreben der kapitalistischen Produktionsweise keineswegs, dass ein umweltgerechter Wandel der Konsumgewohnheiten mit bloßem Verzicht einhergehen muss. Vielmehr bedeutet dies, dass dadurch eine substantielle Verbesserung der demokratischen Errungenschaften und der Lebensqualität für die Mehrheit der Bevölkerung eintritt. Und daran muss man anknüpfen, wenn man diesen Übergang erstrebenswert machen will.
Für die Länder des Nordens bedingt eine antikapitalistische Alternative in dieser Hinsicht folgende Handlungserfordernisse:
Der Reichtum muss umverteilt, Steuergerechtigkeit wieder hergestellt und eine progressive Besteuerung der weltweit erzielten Gewinne eingeführt werden. Dafür muss eine Lohnobergrenze festgelegt werden. Die öffentlichen Dienste müssen finanziell gewährleistet werden, ob im Bildungs-, Forschungs- und Gesundheitswesen oder in der Kinderversorgung und im Kultursektor. Wissenschaftliche Forschung darf nicht dem Profit untergeordnet sein, sondern muss ausreichend finanziert und angemessen dotiert werden und seinen Beitrag zum oben geschilderten Umbruch leisten.
Die marktwirtschaftliche Logik muss überwunden und eine kostenlose Versorgung im Erziehungs-, Gesundheits- und Transportwesen gewährleistet werden. Kinderkrippen müssen umsonst bereitgestellt werden, ebenso der Grundverbrauch an Strom und Wasser, wobei der darüberhinausgehende Verbrauch entsprechend verteuert werden muss.
Entlassungen und prekäre Verträge müssen verboten und die Arbeit auf alle Hände verteilt (Stichwort: gleitende Arbeitszeitskala) und angemessen bezahlt werden. Beschäftigte in künftig überflüssigen Branchen müssen unter garantiertem Erhalt der Löhne und sozialen und tariflichen Errungenschaften umgeschult werden. Die Arbeitszeit muss radikal verkürzt werden, bei vollem Lohnausgleich und Umlage der entstehenden Kosten auf alle Unternehmer*innen. Das Renteneintrittsalter muss auf 60 Jahre gesenkt und die Elternzeit verlängert werden. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe und der Digitalen Revolution brauchen wir mindestens eine Halbierung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, damit die Arbeit unter Umverteilung der vorhandenen Reichtümer auf Alle verteilt und zugleich ein Ungleichgewicht der sozialen Kräfteverhältnisse zu Lasten der Lohnabhängigen vermieden werden kann. Der Zugewinn an Freizeit ist zudem der qualitative Fortschritt schlechthin, der den Konsumfetischismus ersetzen kann, der zumeist nur eine billige Kompensation für die entfremdeten Beziehungen der Menschen untereinander darstellt.
Die demokratischen Rechte müssen grundlegend ausgebaut werden. Dafür braucht es ein aktives und passives Wahlrecht für alle ab dem 16. Lebensjahr. Gewählte Vertreter*innen müssen jederzeit abgewählt werden können und dürfen nicht mehr als den Durchschnittslohn verdienen. Alle Bürger*innen müssen an den politischen Aktivitäten beteiligt sein und sie kontrollieren, besonders was die verschiedenen Aspekte des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs angeht, wie die energetische Sanierung der Gebäude, die Verkehrswende, die Konversion der Produktion, die Umstellung der Landwirtschaft und der Flächennutzung etc. Die Entscheidungen müssen unter der Beteiligung aller Betroffenen auf regionaler Ebene gefällt werden.
Gleiche Rechte für Frauen und LGBT*. Schluss mit den Diskriminierungen an den Schulen und Arbeitsplätzen und im Wohnungsalltag. Stattdessen paritätische Besetzung in den Vertreterversammlungen und allen Organen des ökologischen Umbruchs. Abtreibung und Verhütung muss frei zugänglich und kostenlos sein. Die Aufgaben der sozialen Reproduktion müssen vergesellschaftet werden.
Wir müssen eine Kultur entwickeln, die von Achtsamkeit, Verantwortung und Mäßigung geprägt ist. Dies setzt ein lebenslanges Lernen voraus. Ökologie muss ein Lernfach werden, in dem ein Bewusstsein für die Zugehörigkeit zur Natur geweckt wird. Das Engagement für die Mitmenschen und die Ökosysteme muss allgemein gefördert werden. Ressourcen wie Wasser, erneuerbare Energien und Landschaften müssen unter demokratischer Kontrolle öffentlich und gemeindenah verwaltet werden. Ebenso muss die öffentliche Hand dafür sorgen, dass ein Netzwerk entsteht, wo Reparaturen, Recycling, Flohmärkte, Nutzungsteilung etc. organisiert werden. Soziales Engagement unter selbstverwalteten Bedingungen muss gefördert werden.
Wie Einstein sagte, „können Probleme niemals mit derselben Denkweise gelöst werden, durch die sie entstanden sind.“ Indem der Weltklimarat die „funktionierende Marktwirtschaft und deren Konkurrenzmechanismen“ hochhält, begibt er sich selbst jeder Möglichkeit, das Klimaproblem zu lösen. Stattdessen muss man sich unbedingt dem kapitalistischen „Realismus“, will heißen dem hirnlosen Profitstreben verweigern, wenn man einen Weg aufzeigen will, auf dem der Klimawandel begrenzt und das Umschlagen in die Katastrophe verhindert werden kann.
Das Hauptproblem ist nicht technischer, sondern sozialer und somit politischer Natur, nämlich dass die erforderliche Alternative nicht von oben herab organisiert werden kann, sondern unbedingt eine machtvolle soziale Mobilisierung an der Basis und ein allgemein verbreitetes Verantwortungsbewusstsein voraussetzt. Man kann ruhig sagen, dass wir eine autonom geführte Weltrevolution brauchen, um auf demokratischem Wege und allen Ebenen zu einer Lösung zu gelangen, die der sozialen und der Umweltkrise gleichermaßen gerecht wird. Nur die Ausgebeuteten und Unterdrückten und die Jugend werden die notwendigen Reformen auf allen Ebenen konsequent bis zum Ende treiben. Zwischen dieser dringend gebotenen antikapitalistischen Alternative und dem Bewusstseinsstand der Bevölkerungsmehrheit klafft heute ein Abgrund, der überwunden werden muss, und zwar schnellstmöglich. Wie dies zu schaffen ist, ist das strategische Problem schlechthin.
Wir begegnen als Antikapitalist*innen täglich folgendem Einwand: „Ihr habt sicher Recht, aber Eure Vorschläge sind nicht das, was wir erwarten, weil sie nicht umsetzbar sind. Wir brauchen stattdessen konkrete Vorschläge, und der Spatz in der Hand ist mehr wert als die Taube auf dem Dach.“ Insofern stellt sich die Frage, ob wir nicht besser kleine Schritte gehen sollen. Oder umgekehrt zugeben, dass „alles egal ist“, dass „der Zusammenbruch“ unvermeidlich ist und der einzige Ausweg darin besteht, „kleine widerstandsfähige Gemeinschaften zu gründen“ (wie die Zusammenbruchstheoretiker sagen)?
Antikapitalist*innen sind durchaus für Reformen und vertagen nicht alles auf den „großen Tag“. Die kleinen Schritte sind positiv, wenn sie die soziale Bewegung stärken und voranbringen. Was wir hingegen bezweifeln, ist die Vorstellung, man könne eine andere Gesellschaft nach und nach und mit einer Strategie der kleinen Schritte errichten. Unter anderem deswegen, weil eine solche Strategie einen Übergang zeitlich in die Länge ziehen würde, was aber in eklatantem Widerspruch zu der gebotenen Eile stünde. Gleichermaßen sind wir skeptisch gegenüber sogenannten „Königswegen“, die „alles wie von selbst“ lösen, weil sie den Herausforderungen nicht gerecht werden. Daher stellt sich die Frage, welche Perspektive wir einnehmen und welche Strategie wir vorschlagen sollen, um nicht in einen Spagat zu geraten zwischen billigem Minimalismus und ohnmächtigem Maximalismus.
Zuallererst müssen wir sagen, was ist. Mag sein, dass die von uns vorgeschlagene antikapitalistische Alternative nicht Euren Erwartungen entspricht. Wie könnte es auch anders sein. Zusammen müssen wir erreichen, dass aus bloßen Erwartungen eine Lust auf Veränderung entsteht und dass im Kollektivbewusstsein der Wunsch nach einer Gesellschaft entsteht, in der weniger produziert und mehr geteilt wird und in der die tatsächlichen Bedürfnisse zählen und der Respekt vor den Menschen und der Natur. Dafür haben wir die oben genannten 13 Programmpunkte entworfen. Es geht darum, zugleich Angst einflößende, defätistische Propaganda zu bekämpfen und umgekehrt pseudorealistische Losungen, die die Illusion schüren, dass das optimale Szenario, nämlich das vom Klimarat als Nr. 1 bezeichnete, (wenigstens näherungsweise) realisierbar wäre, indem man eine weniger radikale Vorgehensweise wählt.
In den USA propagiert Alexandria Ocasio-Cortez einen „Green New Deal“, in Europa plädieren der Klimatologe Jean Jouzel und der Agronom Pierre Larrouturou für einen „Finanz- und Klimapakt“ etc. Es mehren sich mittlerweile derlei Initiativen, denen ein weniger radikales Vorgehen gemein ist. Die Fronten geraten in Bewegung, was zweifelsohne ein positiver Effekt der sozialen Bewegung ist. Bei näherer Betrachtung jedoch stellt man fest, dass alle diese Vorschläge drei Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie drücken sich um das entscheidende Problem, dass der Energieverbrauch, die materielle Produktion und der Verkehr unbedingt reduziert werden müssen; sie erlauben durchaus den möglichen Rückgriff auf Negative Emissionstechnologien wie das BECCS oder auf andere „Wundertechniken“ wie Wasserstoffantriebe; und zumeist drücken sie sich um eine klare Position, etwa für die Verpflichtungen gegenüber den Ländern des Südens oder gegen den Handel mit Emissionszertifikaten und Kompensationsmechanismen für CO2-Emissionen. Über eines muss man sich also im Klaren sein: Diese weniger radikalen und vorgeblich realistischeren Vorgehensweisen als eine antikapitalistische Alternative folgen mehr oder weniger eindeutig dem Ziel eines „Grünen Kapitalismus“, insbesondere bei Larrouturou/Jouzel, die damit die EU retten wollen. Allesamt verfolgen sie mehr oder minder einen „Klima-Neokolonialismus“ und führen zu schlimmeren Folgen der Klimaerwärmung für Mensch und Natur als nach dem Szenario 1. Ganz abgesehen von dem Damoklesschwert eines irreversiblen Umkippens mit erheblichen Folgen, wie oben beschrieben.
Das strategische Problem des Auseinanderklaffens von objektiven Erfordernissen und subjektiven Möglichkeiten lässt sich nicht lösen, indem man Minimalalternativen anbietet, sondern nur, indem man eine Mobilisierung von unten aufbaut. Darin nämlich liegt der Hebel, mit dem sich das Bewusstseinsniveau auf breitester Ebene steigern lässt. Die von uns dafür vorgeschlagene Vorgehensweise lässt sich in ein paar zentralen Stichpunkten zusammenfassen: Nicht nachgeben, eine breite Einheitsfront schaffen, organisieren, demokratisieren, im Bewusstsein verankern, misstrauen, radikalisieren, erfindungsreich vorgehen. Im Einzelnen:
Nicht nachgeben gründet darauf, dass unser Ziel einen langen Atem voraussetzt. Wir können die Schäden nur in Grenzen halten, wenn wir uns in einen permanenten Kampf begeben. Kurzfristig bedeutet dies v. a., dass wir uns nicht auf Wahlen vertrösten lassen dürfen, egal ob Europawahlen oder andere. Langfristig bedeutet das, dass wir vorsätzlich auf die Destabilisierung und Diskreditierung der Herrschenden setzen. Deren politische Agenda, deren Zeitschiene und deren Institutionen entsprechen nicht unseren. „Wir verteidigen nicht die Natur, sondern wir sind die Natur, die sich wehrt.“ Wir unterstützen jede der glücklicherweise zahlreichen Aktionen gegen die drohende Katastrophe, um den Druck zu erhöhen und die Aktivitäten anzuheizen.
Breite Fronten aufbauen. Seit dem Hitzesommer 2018 wächst die Bewegung beständig in der Nordhälfte. Dies ist einer unserer wichtigsten Trümpfe, den wir ausbauen müssen, indem wir zu weiteren Mobilisierungen aufrufen, Aktionen wie den Streiktag am 15. März auf noch breiterer Ebene propagieren und systematisch die Weichen für eine weltweite Erhebung gegen den Klimawandel stellen, bis sich Dutzende oder Hunderte Millionen daran beteiligen. Wir vertreten das Leben angesichts der tödlichen Gefahr, daher müssen unsere Ansprüche entsprechend hoch sein.
Eine Einheitsfront schaffen. Es geht nicht nur darum, neue Schichten aus der Jugend oder neue Regionen und Länder zu gewinnen, sondern auch darum alle bestehenden Kämpfe von unten zusammenzuschweißen, ob an der sozialen oder gewerkschaftlichen Front oder der Frauen-, antirassistischen oder antikolonialistischen Bewegung oder der Bauern und Ureinwohner*innen. Die Frauenbewegung kann dabei einen wichtigen Beitrag leisten, besonders sie sich bewusst ist, wie wichtig das Fürsorgeprinzip ist. Die indigenen Völker können uns wiederum zeigen, wie Mensch und Natur einander ergänzen. Die Aktivist*innen von Via Campesina sind bereits an vorderer Front aktiv und kämpfen, v. a. mit direkten Aktionen, für eine bäuerliche und ökologische Landwirtschaft, usw. usf. Entscheidend wird sein, ob wir die soziale und gewerkschaftliche Front aus ihrer Fixierung auf Wachstum und Produktivismus lösen können. Der wichtigste Hebel dabei und somit die ökosozialistische Losung schlechthin ist der Kampf für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung.
Organisieren, demokratisieren und im Bewusstsein verankern sind Ziele, die einander ergänzen. Die bestehenden Bewegungen leiden ausnahmslos unter mangelnder Organisierung und Demokratie. Teils liegt dieser Mangel an der ansonsten durchaus erfreulichen Spontaneität. Das dabei entstehende Vakuum wird gegenwärtig von Einzelpersonen und von länger bestehenden Initiativen oder aber durch die spontane Vernetzung kleiner Gruppen auf den sozialen Netzwerken gefüllt. Aus diesem Stadium müssen wir uns lösen, diese Stellvertreterpolitik und entsprechende Instrumentalisierungsversuche verhindern. Nicht lockerlassen und langfristig eine Einheitsfront aufbauen erfordert eine Bewegung, die in demokratischen und offenen Basisstrukturen wurzelt, also auf der Grundlage von Vollversammlungen, in denen abrufbare Vertreter*innen gewählt werden, die ihre Mandanten in aller Transparenz in den jeweils nächsten „Instanzen“ vertreten, wo die Aktionen koordiniert und die Zielsetzungen entschieden werden. Eine solche Organisationsform ist das beste Mittel, das Bewusstsein zu schärfen und über solche Alltagsrezepte wie Mülltrennung hinaus sich den strukturellen Problemen zuzuwenden.
Misstrauisch sein. Greta Thunberg war eine Vorreiterin. Die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen versuchen bisher vergeblich, sie zu vereinnahmen, um sich selbst ein umweltfreundliches Image zu verschaffen. Ob in Davos oder vor dem Europäischen Parlament, sie hat die Verantwortlichen für die Situation kompromisslos und ohne zu zögern benannt. Ihrem Beispiel zu folgen heißt, nicht der Illusion zu erliegen, dass die herrschende Politik „am Ende auch verstehen wird“, dass man „mehr Ehrgeiz“ daransetzen müsse, sogenannte „win-win“-Lösungen zu finden, die sowohl das Klima „retten“ als auch Profitgier und Wachstumsorientierung bedienen. Dem gegenüber müssen wir eine eigenständige Position einnehmen, die von systematischem und unnachgiebigem Misstrauen getragen wird. Wir brauchen den Mut zum Ungehorsam und müssen die Legitimität der Besitzenden, ihrer politischen Sachwalter*innen und all derer, die ihren Wachstumsfetischismus nicht ablegen wollen, systematisch, vorsätzlich und mit Enthusiasmus unterminieren.
Erfinderisch sein. Angesichts der Dringlichkeit der Herausforderung sind rechtliche Vorgehensweisen wie von der französischen Klimaschutzbewegung „Jahrhundertfrage“ vorgetragen und auch andere Sofortforderungen durchaus berechtigt. Wir sollten die Entscheider*innen sehr wohl auffordern, konkrete Maßnahmen auf der Stelle umzusetzen, etwa die Verpflichtung zur Emissionsreduktion gesetzlich vorzuschreiben, öffentliche und halböffentliche Gebäude energetisch zu sanieren, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos zur Verfügung zu stellen, Werbung zu verbieten, auf Megaprojekte zu verzichten etc. Da gibt es zahllose Möglichkeiten. Für eine längerfristige Perspektive muss die Klimaschutzbewegung aber davon ausgehen, dass wir uns inmitten einer neuen Epoche befinden, in der das „Umweltproblem“ immer deutlicher mit den sozialen Problemen zusammenfallen wird. Daraus folgt zwingend, dass wir uns für einen Schulterschluss zwischen den jeweils stattfindenden Kämpfen einsetzen müssen. Zugleich stellt uns dies vor etliche offene Fragen, etwa: Welches politische Instrument müssen wir uns im Verlauf dieser Auseinandersetzungen schaffen, um damit vom antikapitalistischen Kampf zum Aufbau einer neuen Welt zu gelangen?
Radikalisieren heißt, dass wir uns unserer Stärke bewusst sein müssen. Ohne die Klimaschutzbewegung hätte der COP21 nicht das Ziel vorgegeben, unter der 1,5-Grad-Grenze zu bleiben. Jetzt müssen wir als Bewegung dafür kämpfen, dass konkrete Maßnahmen erfolgen, die effektiv und auch sozial gerecht sind. Die Besitzenden und ihre politischen Sachwalter*innen stehen unter Druck, weil sie wissen, dass der Klimawandel eine potentiell revolutionäre Situation heraufbeschwören kann. Dieser Druck lastet auf allen Strömungen, daher geraten die Fronten in Bewegung. Eine Strategie der kleinen Schritte wäre unter diesen Umständen fatal. Stattdessen müssen wir die Auseinandersetzung weiter zuspitzen und alle uns von oben vorgelegten Maßnahmen daraufhin abklopfen, ob sie den wissenschaftlichen Vorgaben zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels gerecht werden, ohne auf gefahrvolle Technologien zurückzugreifen, und ob sie die Verpflichtungen gegenüber den Ländern des Südens und zu sozialer Gerechtigkeit erfüllen. Wenn die Bewegung dabei feststellt, dass die Maßnahmen untauglich sind, wird sie sich selbst radikalisieren und an einen Punkt kommen, wo sie selbst ein effizientes antikapitalistisches Programm vertritt und für die Bildung einer Regierung auf einer solchen Grundlage kämpft.
|
||||||||
Ob dies so klappen wird, kann niemand garantieren, denn die Zeit wird knapp, um der Barbarei noch zu entrinnen. Ein in gewisser Hinsicht ähnliches Dilemma gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg, als Lenin die Lage als „objektiv revolutionär“ beschrieb. Damals war der subjektive Faktor komplett außerstande, die Schlächtereien von 14/18 zu verhindern, aber auf den Trümmern des Schlachtfeldes erhob sich die Russische Revolution, die dann schließlich von außen erstickt und von innen erwürgt worden ist. Ein Jahrhundert später stellt sich eine ähnliche Frage, bloß auf einer noch stärker beunruhigenden Ebene: Wieweit muss die Menschheit mit den Folgen der Klimakatastrophe konfrontiert werden, bis sie sich endlich gegen den Kapitalismus auflehnt und dieses kriminelle System zum Teufel jagt? Wird die Revolution, in der die Massen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, beizeiten stattfinden oder wird der Kapitalismus weiter die Sinne vernebeln können? Diese offenen Fragen lassen an Gramsci und sein berühmtes Zitat vom Pessimismus des Verstandes, der zum Optimismus des Willens verpflichtet, denken. Optimismus ist demnach ein kategorischer Imperativ, weil wir uns nur einer Sache gewiss sein können, nämlich dass vom Ausgang des Wettlaufs zwischen der Katastrophe und der allgemeinen Bewusstwerdung dieser drohenden Katastrophe abhängt, ob sich die Massen zu ihrer Befreiung erheben und in der Lage sein werden, sich von dem System und seinem produktivistischen Wahnsinn zu befreien. Darin liegt die ökosozialistische Alternative und sie setzt den Kampf voraus und kennt keine Abkürzungen.
Die Gauche anticapitaliste (Antikapitalistische Linke) ist der französischsprachige Teil derbelgischen Sektion der IV. Internationale |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2019 (Juli/August 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz