Geschichte

Trotzki-Kongress in Havanna

Vom 6.–8. Mai 2019 fand in Havanna der erste Kongress zu Leben und Werk des russischen Revolutionärs Leo Trotzki statt. Für Kuba war das immer noch etwas ganz Besonderes.

Helmut Dahmer

Im Zusammenhang mit dem 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Internationale (im März 1919) planten das „Juan Marinello Cuban Institute of Cultural Research“ und das Philosophische Institut der Universität Havanna in Zusammenarbeit mit dem Trotzki-Museum in Coyacan (Mexiko) – der „Casa Museo León Trotski“ [1] bzw. dem „Instituto del Derecho de Asilo“ – und dem „Karl Marx Center for Socialist Studies“ (ebenfalls in Mexico City) einen nicht-öffentlichen „Internationalen akademischen Kongress zu Leben und Werk Leo Trotzkis“, der dann infolge „bürokratischer Probleme“ auf Anfang Mai verschoben werden musste. Die Reaktionen auf die Ankündigung einer Trotzki-Konferenz auf Kuba (durch verschiedene sozialistische Mitteilungsblätter) fielen unterschiedlich aus. Manche Leser*innen dieser Nachricht reagierten mit ungläubigem Staunen, andere fragten „Wo sonst?“


Ungläubiges Staunen


Kuba ringt seit 120 Jahren um seine Unabhängigkeit. Ende des 19. Jahrhunderts intervenierten die USA nach einer Reihe von Aufständen gegen die spanische Kolonialherrschaft und hielten seitdem die formell unabhängige Republik faktisch in Abhängigkeit – politisch-militärisch mit Hilfe ihres Interventionsrechts, ihres Stützpunkts Guantánamo und der Unterstützung wechselnder kubanischer Präsidenten, ökonomisch durch eine Abnahme-Garantie für die Produkte der Zucker-Monokultur.

Die 1925 gegründete kommunistische Partei Kubas geriet alsbald in den Sog des stalinistischen Lagers, kollaborierte auch mit den jeweiligen Regimen und firmierte seit 1944 als „Sozialistische Volkspartei“. Fidel Castros Unternehmen, mit ein paar Dutzend Gefolgsleuten einen – durch Massenstreiks unterstützten – Guerillakrieg gegen die Armee des Diktators Batista zu führen, stand sie zunächst ablehnend („Abenteurertum“), dann abwartend gegenüber.

Der ungeheure Schatten des Stalinismus [2] lag (und liegt noch immer) über vielen Versuchen, aus dem Bannkreis der kapitalistischen Weltwirtschaft auszubrechen.

Rufen wir uns drei Beispiele aus der Geschichte des Sozialismus auf Kuba in Erinnerung:

Sandalio Junco, ein schwarzer Gewerkschaftsführer, seit 1928 im Exil, kam Anfang der 30er Jahre in Moskau in Kontakt mit Andreu Nin und wurde nach seiner Rückkehr zum Begründer der trotzkistischen Bewegung Kubas, die 1933 eine bedeutende Rolle in der Organisation des Generalstreiks gegen das blutige Regime des Diktators Machado spielte. Junco soll Stalin ins Gesicht gesagt haben, er halte ihn für einen „Betrüger der Welt-Arbeiterbewegung“. Er wurde im Mai 1942 bei einem politischen Meeting von stalinistischen Agenten umgebracht – wie zuvor seine Genossen J. A. Mella (1929), A. Nin (1937) und L. Trotzki (1940). – Zur Bedeutung von Junco vgl. Garland Mahler, Anne (2018): „The Red and the Black in Latin America: Sandalio Junco and the >Negro Question< from an Afro-Latin American Perspective.“ Journal for American Communist History, Bd. 17, Heft 1, S. 16-32.

Nach dem kampflosen Sieg der Nazis 1933 verschlug es – mit ein paar Tausend Hitlerflüchtlingen – auch einige dissidente deutsche Kommunisten (Brandler, Thalheimer, Boris Goldenberg…) nach Kuba, wo sie auf eine Möglichkeit zur Einreise in die USA warteten. 1941 stieß der Theoretiker des linken Flügels des deutschen Kommunismus, Arkadij Maslow, zu ihnen. Er hatte 1928 den „Leninbund“ gegründet und in den Jahren 1934-37 in Paris mit der Gruppe um Trotzki zusammengearbeitet. Mit der (bisher unveröffentlichten) Fiktion „Stalins Memoiren“ suchte er zum Verständnis des Despoten im Kreml beizutragen. Maslow gehörte zu den Leuten, „die zu viel wussten“. Die nationalen Sektionen der von Stalin gleichgeschalteten Komintern hatten sich in den dreißiger Jahren nicht nur in eine Hilfstruppe der Außenpolitik des Kremls verwandelt, sondern auch in eine Hilfstruppe zur Ermordung von Dissidenten, die der Stalinclique als gefährlich erschienen. Im November 1941 fand man Maslows Leichnam auf einer Straße in Havannas „schlechtem Viertel“. In dem von Hermann Weber und A. Herbst herausgegebenen biographischen Handbuch Deutsche Kommunisten heißt es: „Die These von [seiner] Ermordung ist nach heutigen Kenntnissen der Stalinschen Praktiken und Verbrechen durchaus wahrscheinlich.“ Berlin (Dietz), 2. Aufl. 2008, S. 581. Ähnlich urteilt der Ruth Fischer-Biograph Mario Kessler (2013): Ruth Fischer, Köln (Böhlau), S. 372-391.

Die stalintreuen Spanien-Kämpfer und KGB-Agenten Leonid Eitingon (der berüchtigte „General Kotow“), Ramón Mercader und seine Mutter Caridad Mercader hatten sich nach dem Sieg Francos nach Mexiko abgesetzt und bildeten 1940 ein Killerkommando, dem es im August 1940 gelang, Stalins Befehl auszuführen, Trotzki (der seit 1937 im Vorort Coyoacan der mexikanischen Hauptstadt Asyl gefunden hatte) umzubringen. (Juan Marinello, der bedeutende, politisch engagierte kubanische Dichter, hatte 1937 in Madrid Caridad Mercader noch als „katalanische Pasionaria“ gefeiert.) Eitingon und die beiden Mercaders wurden zum Lohn für ihre Dienste mit den höchsten Orden, die der Kreml zu vergeben hatte, ausgezeichnet. Als Ramón Mercader 1960 aus mexikanischer Haft entlassen wurde, fand er in Havanna freundliche Aufnahme. Seine Mutter Caridad, die straffrei blieb, wurde (in den Jahren 1960-1967) mit der Öffentlichkeitsarbeit der Pariser kubanischen Botschaft betraut…

Noch immer glauben viele Antikapitalist*innen an den Mythos vom „Sozialismus“ in einem Land (oder in einem Block), an die „Lösung“ widerstreitender gesellschaftlicher Interessen durch Massenterror und an die von Stalin und seinen Ideologen jahrzehntelang propagierten Geschichtslegenden. Das galt auch für die Führung der fidelistischen Guerillatruppe, der es in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre gelang, die Armee des Diktators Fulgencio Batista zu besiegen und ihn aus dem Land zu jagen. Für Fidel und seinen Bruder Raul wie für ihren berühmten Kampfgefährten Ché Guevara galt der 1953 verstorbene Stalin, dessen Entzauberung auf den Parteitagen der sowjetischen KP von 1956 und 1961 bereits begonnen hatte, noch immer als eine Autorität und die Sowjetunion als ein nachahmenswertes sozialistisches Musterland. Trotzki und die IV. Internationale hingegen hielten sie, Stalins fabulösem (1938 veröffentlichten) „Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU“ entsprechend, für Konterrevolutionäre, ihre Theorien für gefährliche Ketzereien. (Das bedeutete auch, dass sie weder den Charakter der (spät-)stalinistischen Sowjetunion, ihrer Schutzmacht, noch die Risiken, die ihr eigenes revolutionäres Projekt lief, zureichend verstanden. [3]) Daran änderte sich auch nichts, als kubanische Trotzkisten sich frühzeitig der Guerilla anschlossen. [4]

Ironischerweise schlugen die fidelistischen Nationalrevolutionäre, die sich auf Martí und Marx (oder Stalin) beriefen, Trotzkis (1906 veröffentlichte, 1929 erweiterte) Theorie der „Permanenten Revolution“ aber gar nicht kannten, innen- wie außenpolitisch einen Kurs ein, der dem einst von Trotzki prognostizierten Übergang nationaler Unabhängigkeitsbewegungen in sozialistische zu entsprechen schien. Innenpolitisch verstaatlichten sie kubanisch-amerikanisches Privateigentum und planten nicht nur eine Diversifizierung der Landwirtschaft, sondern auch eine umfassende Industrialisierung des Landes. Außenpolitisch versuchten sie, ihre antiimperialistische Revolution international zu verbreiten. Ché Guevara setzte sein Leben ein, um – jeweils nur mit ein paar Dutzend Kampfgefährten – nach kubanischem Muster zuerst (1965) im Kongo, dann (1966/67) in Bolivien, durch kühne Guerilla-Aktionen Massenaufstände anzustoßen. [5]

Je stärker unter amerikanischem Druck die Abhängigkeit von der Sowjetregierung wurde, die, wie zuvor die USA, in Kuba vor allem einen Zuckerlieferanten und einen militärischen Stützpunkt sah, desto stärker wurde in den sechziger Jahren auch die politische und „kulturelle“ Anpassung an „sowjetische“ Standards. [6] Der bedenkenlosen Wiedergründung, Neugründung oder Übernahme der KP Kubas als Staatspartei im Jahr 1965 (die Organisation verfügt gegenwärtig über 800 000 Mitglieder) korrespondierte die Einrichtung eines Cordon sanitaire gegenüber der internationalen, antistalinistisch-marxistischen Diskussion [7]. Künstler, die auf ihre Autonomie pochten, wurden ebenso verfolgt wie sexuelle „Dissidenten“. Die kleine Gruppe der Trotzkisten (50 oder 60 Aktive) landete schließlich im Gefängnis. [8]


Wo sonst?


Vor diesem Hintergrund erscheint der nicht-öffentliche „Akademische Kongress zu Leben und Werk Trotzkis“ vom 6. bis 8. Mai dieses Jahres als ein politisches Wunder. 60 Jahre nach dem Sieg über Batista und der staatsozialistischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft Kubas, nach vergeblichen Versuchen, durch die Unterstützung von Befreiungsbewegungen in Afrika und Südamerika Bundesgenossen zu gewinnen, nach unausgesetzten Versuchen wechselnder US-Regierungen, das nachrevolutionäre kubanische Regime, wenn nicht zu stürzen, dann doch zu strangulieren, hält sich der nichtkapitalistische Inselstaat noch immer, weil er sich auf die Loyalität der Bevölkerungsmehrheit stützen kann, der er Wohnung und Arbeit, kostenlose Ausbildung und medizinische Versorgung garantiert. [9] Treibstoff und ein Großteil der Lebensmittel müssen importiert (und gegenwärtig auch wieder rationiert) werden; die einstmals prächtige Altstadt Havannas präsentiert sich heute teilweise als eine Ruinenstadt; es mangelt an vielen elementaren Gütern (wie etwa Hygienemitteln), die für zahlungskräftige Konsumenten in vergleichbaren Drittwelt-Staaten, die nicht jahrzehntelangen Blockaden ausgesetzt waren, selbstverständlich sind. Havanna wirkt entmilitarisiert. Die Massendemonstration, zu der sich am 1. Mai um 7 Uhr früh auf dem Revolutionsplatz eine Million Menschen versammelten (und die unter der Losung „Einheit, Engagement, Sieg!“ stand) glich einem Volksfest; es gab keine Waffenschau, und die teilnehmenden, unterschiedlich uniformierten Gruppen von Polizisten gingen in der Massendemonstration auf. Gegenwärtig gibt es praktisch keinen Personenkult. Ché Guevara freilich ist (wie auch international) längst zu einem Mythos geworden, zu einem oft besungenen Volkshelden, der die revolutionären Traditionen Kubas verkörpert.

Nach dem Kollaps der Sowjetunion zu Beginn der 90er Jahre, mit der 85 Prozent des kubanischen Außenhandels abgewickelt worden waren, und nach Naturkatastrophen Mitte der Neunziger sah die Regierung sich zur einer Revision der Planwirtschaft genötigt. Zögernd wurde kleines Privateigentum im Bereich des Service-Sektors zugestanden (und 2019 auch in der Verfassung legitimiert), zudem wurden Investitions-Möglichkeiten für ausländisches Kapital und für Joint-Ventures (etwa im Hotelgewerbe) eröffnet. Der Tourismus (mit gegenwärtig 5 Millionen Besuchern pro Jahr) wurde angekurbelt und eine Parallelwährung (CUC) für Touristen eingeführt. [10] Die „kleinen“ Privatwirtschaften, die sich allmählich zu „mittleren“ entwickeln, die Überweisungen wohlhabender Kubaner aus Miami (die jährlich etwa den staatlichen Einnahmen aus der Tourismus-Branche entsprechen) und die Etablierung einer speziellen Konsum-Welt für Touristen haben zur Reproduktion jener Formen sozialer Ungleichheit geführt, die die Revolutionäre vor sechzig Jahren beseitigen wollten. [11]

Die „Alte Garde“ der kubanischen Revolutionäre ist im Abtreten. Der Parteimarxismus verblasst, weil er weder zur Gegenwartsanalyse beiträgt, noch politische Perspektiven eröffnet. Die linksnationalistisch-halbsozialistischen Regime in Lateinamerika (die potentiellen Verbündeten Bolivien, Venezuela und Nicaragua) kämpfen mit größten Schwierigkeiten. Die Trump-Regierung versucht mit aller Macht, sie zu eliminieren. Von der jungen Generation heißt es in einem der von Héctor Puente Sierra jüngst geführten Interviews: „Geht es um die Beteiligung an politischen Debatten, stößt man auf fehlendes Engagement. Sie sind apathisch und fürchten die Folgen, wenn sie ihre Meinung offen kundtun. Die meisten jungen Kubaner verfolgen die politischen Ereignisse nicht. Sie sind [der Politik] entfremdet, entideologisiert.“ [12]

Unter diesen Umständen beginnt eine Minderheit von jungen Intellektuellen die Suche nach einem zureichenden Verständnis der aktuellen kubanischen wie der internationalen Situation. Das Milieu dieser Suche bilden natürlich – wie einst in Berkeley, Paris und Frankfurt – die auf Reflexion ausgelegten, potentiell „unruhigen“ Fakultäten (vor allem die Institute für Philosophie und Soziologie). Hatte Isaac Deutschers große Trotzki-Biographie vor sechs Jahrzehnten der Generation von 1968 die Augen für Alternativen zum Stalinismus geöffnet, so hat auf Kuba der vor 10 Jahren erschienene Roman von Leonardo Padura, Der Mann, der die Hunde liebte, eine Bresche ins Eis der herrschenden politischen Ideologie geschlagen. [13] Der 36jährige Frank García Hernándes, der an einer Dissertation über Trotzki arbeitet und den Kongress in Havanna organisierte, berichtet, dass sich 2016 in der Universität von Santa Clara ein studentischer Diskussionskreis gebildet hat – das „Kubanische Kommunistische Forum“ –, das dringend um die Zusendung von Zeitschriften und Büchern „von Theoretikern wie Daniel Bensaïd, Pierre Broué, Isaac Deutscher, Ernest Mandel, Victor Serge, Alex Callinicos, Cornelius Castoriadis, Alan Woods, Tariq Ali, Michael Löwy … bittet.“ „Sie brauchen dringend Theorie!“ [14] Und sie werden nun auch Trotzki, den Verteidiger der Arbeiterdemokratie, für sich und ihre kubanische Gegenwart wiederentdecken…

Nach der bloßen Ankündigung eines („akademischen“) Trotzki-Kongresses in ein paar sozialistischen Mitteilungsblättern gingen bei den Veranstaltern an die 200 Teilnahme-Anträge (und 51 Vortragstexte) ein. Auch das ist ein Politikum! [15] Schließlich wurden 30 Referenten ausgewählt, die – im gastgebenden mexikanischen Kultur-Institut (dem „Museo de Beníto Juárez“) – einem Publikum von 80-100 Hörern, darunter auch einigen kubanischen Student*innen, an drei Tagen in dichter Folge die Ergebnisse ihrer Studien vortrugen. Die Zeit reichte nicht für Diskussionen der verschiedenen Texte und Positionen, wohl aber gab es zu einzelnen Themen höchst interessante ad-hoc-Interventionen. Die Referent*innen und Hörer*innen, politisch Aktive, Veteranen und „Gelehrte der Bewegung“ (A. Labriola) im Alter von 30 bis zu 80 Jahren gehörten verschiedenen, zumeist trotzkistischen Organisationen an – nicht nur aus Nord- und Südamerika, sondern auch aus Belgien, Frankreich, Österreich und der Türkei. Zu den Besonderheiten trotzkistischer Organisationen – die eine lange Tradition der Diskriminierung und Verfolgung hinter sich haben – gehört es, dass ihre aktiven Mitglieder und Sympathisanten unweigerlich zu professionellen oder Laien-Historikern ihrer Bewegung und ihrer Gegner werden. Der Kongress bot – nicht nur für die kubanischen Gäste, sondern auch für die Aktivisten und Spezialisten unterschiedlicher revolutionär-marxistischer Couleur – eine einmalige Gelegenheit, einander kennenzulernen und Neues über die Geschichte verschiedener nationaler Sektionen und ihrer internationalen Verbindungen zu erfahren. Das Themenspektrum hat Alex Steinberg in seinem Kongress-Bericht umrissen: Es ging um Trotzkis wichtigste Beiträge zur marxistischen Theorie und zur revolutionären Politik; um seinen Kampf gegen den Stalinismus; um seine Kontroversen mit nicht-stalinistischen linken Theoretikern in den dreißiger Jahren; um seine Positionen zu Literatur, Psychoanalyse und Alltagsleben; um Kontroversen und Spaltungen innerhalb der IV. Internationale und um die historische Einschätzung der trotzkistischen Bewegung verschiedener Länder. [16]

      
Weitere Artikel zum Thema
Helmut Dahmer: Benjamin und Trotzki: 1940, Inprekorr Nr. 6/2015 (November/Dezember 2015)
Antonio Moscato: Celia Hart – kubanische Intellektuelle und Revolutionärin, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
Leo Trotzki: „Aufbau der neuen Internationale und Einheitsfrontpolitik“, Inprekorr Nr. 440/441 (Juli/August 2008)
Livio Maitan: Die Vierte Internationale, die kubanische Revolution und Che Guevara, Inprekorr Nr. 318 (April 1998)
 

Das Trotzki-Museum (Coyoacan) hatte eine großartige Fotoausstellung (mit einer Reihe von bisher unbekannten Dokumenten) nach Havanna geschickt. Eine für die Kongressteilnehmer*innen bestimmte Buchsendung des mexikanischen Instituts wurde vom kubanischen Zoll bedauerlicherweise nicht durchgelassen. Vorgestellt wurde der Essayband des peruanischen Trotzki-Experten Gabriel García Higueras: Trotsky en el espejo de la historia, Mexiko (Fontamara). Höhepunkte der Veranstaltung waren ferner die Vorführung einiger bereits fertiggestellter Teile einer neuartigen Trotzki-Dokumentation (Trotsky: the most dangerous man in the world), an deren Kombination aus seltenen historischen Filmaufnahmen und aus von ihr aufgefundenen Zeitzeugen-Interviews aus den achtziger Jahren Lindy Laub arbeitet, sowie die Aufführung einer (an Hanns Eisler und Gustav Mahler anklingenden, von Trotzkis „Testament“ inspirierten) Komposition einer fünfköpfigen Gruppe junger Musiker.

Die Texte der (in spanischer oder englischer Sprache) für den Kongress geschriebenen Beiträge (von denen einige nicht vorgetragen wurden), werden in absehbarer Zeit in Havanna in Buchform veröffentlicht. Hier folgt eine Übersicht der Autoren und ihrer Themen:

Wien, 18. 6. 2019



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Den Kontakt zur „Casa Trotski“ hatte die „Internationale Marxistische Tendenz“ hergestellt. Ein kurzes Gespräch zwischen Esteban Volkov [Trotzkis Enkel] und A. Woods samt einer Grußadresse an die Teilnehmer des Kongresses wurde in Havanna eingespielt.
[2] Stellvertreterherrschaft einer nationalistischen Fraktion über eine gleichgeschaltete Massen-Partei; Usurpation der Kontrolle über die verstaatlichten Produktionsmittel durch die Staats- und Wirtschaftsbürokratie; Kriegführung gegen Bauern und „illoyale“ Nationen; Ausrottung der revolutionären Generation und ihrer Anhänger; Massenterror.
[3] Trotzki „fehlte uns, um zu verstehen, was in der Sowjetunion vor sich ging, denn keiner von denen, die sich auf den Marxismus beriefen – wie Ché Guevara oder Fidel Castro – konnte eine kohärente, überzeugende Erklärung für die [dortigen] Ereignisse geben. Trotzki war schon seit 1936 mutig genug gewesen, eine soziologische Analyse [der Sowjetunion] zu entwickeln, von der wir keine Ahnung hatten und für die wir Kubaner uns sehr interessieren.“ Frank García A. Hernandez, der 36jährige Organisator der Konferenz, in einem Interview. Zit. nach dem Kongress-Bericht von Suzi Weissman („Neither kings nor bureaucrats“) in Weekly Worker, Nr. 1252. – Den Teilnehmern des Kongresses wurden Exemplare der neuen (vom „Institut für das Asylrecht“ im Trotzki-Museum in Coyoacan und vom mexikanischen „Karl-Marx-Zentrum für sozialistische Studien“ herausgegebenen) spanischen Ausgabe von Trotzkis Verratener Revolution mit einem Vorwort von Alan Woods zur Verfügung gestellt: L. T. (1936): La revolucion traicionada. Coyoacan 2019.
[4] „Als Fidel 1956 nach Kuba zurückkehrte und den Guerillakrieg begann, unterstützten wir ihn und beteiligten uns am bewaffneten Kampf.“ „Als Castros ‚Bewegung vom 26. Juli‘ zum Generalstreik aufrief, wurde dieser zum Teil von trotzkistischen Aktivisten organisiert […]; sie waren in vielen Bereichen stark und einflussreich – wie bei den Eisenbahnarbeitern von Guantánamo.“ „Als wir für die Verstaatlichung eintraten, beschimpfte uns die KP-Zeitung auf ihrer Titelseite als ‚Agenten des Imperialismus‘“… Juan de León Ferrera Ramirez, Veteran der kubanischen trotzkistischen Bewegung, der am Kongress teilnahm, im Interview mit Héctor Puente Sierra; Socialist Review, Nr. 447 (Juni 2019).
[5] Celia Hart zufolge (die sich auf das Zeugnis Juan León Ferrers beruft) lernte Ché Guevara schließlich, in seinem letzten Lebensjahr, auch Schriften Trotzkis kennen. Hart, C.: „Welcome… Trotsky.“ Revolutionary Marxism 2019. A Journal of Theory and Politics. (Special annual English edition.) Istanbul, S. 111-118. Eine redaktionelle „Introduction to Celia Hart“, ebd., S. 109 f.
[6] „Die Feindseligkeit der USA gegenüber Castros Unabhängigkeitsprogramm beförderte die Radikalisierung seiner Regierung. Um aber das – bis heute aufrechterhaltene – Wirtschaftsembargo der USA zu überleben, bat Castro die Sowjetunion um Hilfe. Der Traum der Unabhängigkeit wurde abermals zunichte, als die kubanischen Interessen drei Jahrzehnte lang den geopolitischen Interessen der UdSSR untergeordnet wurden.“ Héctor Puente Sierra (2019): „Debating critical Marxism in Cuba today.” Socialist Review, Nr. 447, Juni 2019.
[7] „Nicht nur Trotzki ist hier unbekannt, sondern ebenso eine lange Reihe von Theoretikern, die aus der Lektüre seiner Schriften gelernt haben. So kommt zum Beispiel die New Left Review nicht nach Kuba. Alex Callinicos, Cornelius Castoriadis, Ernest Mandel, Nicos Poulantzas, Slavoj Zizek, Tariq Ali und Eric Toussaint, Marxisten, die den Marxismus weiterentwickelt haben, um zu einem Verständnis des späten 20. und des 21. Jahrhunderts zu kommen, sind [hier] weitgehend unbekannt.“ Frank Garcia Hernández im Interview mit Puente Sierra, a. a. O. (Anm. 6).
[8] „In den sechziger Jahren traten wir für den Übergang zum Sozialismus ein, für Arbeiter-Milizen, für die Unabhängigkeit der Gewerkschaften vom Staat, für die Verstaatlichung der Großunternehmen unter Arbeiterkontrolle und für die Abberufbarkeit gewählter Delegierter.“ „1973 wurden alle [Mitglieder der trotzkistischen Gruppe] verhaftet, und das war das Ende. Sie klagten uns wegen konterrevolutionärer Tätigkeit, wegen Kritik an Fidel und deswegen an, weil wir sagten, in der UdSSR [herrsche] eine ranzige Bürokratie und die Arbeiterklasse habe dort keine Macht. Sie beantragten 9 Jahre Haft für mich, 14 für meinen Vater und ähnliche Strafen für andere Genossen.“ „Mein Vater starb 1976 – er sagte mir: ‚Ich bin sicher, dass unsere Ideen siegen werden und dass die Bürokratie nachgeben wird.‘ Und schließlich gibt sie ja auch nach.“ „Der globale Kapitalismus hat sich von der Krise von 2008 nicht erholt, sie intensiviert sich. Schauen Sie auf Algerien oder auf die ‚Gelben Westen‘ in Frankreich. Die Menschen auf Kuba können das heutzutage sehen. Sie nutzen Fernsehen und Internet.“ Juan de León Ferrera Ramirez-Interview, a. a. O. (Anm. 4).
Zur Geschichte der Trotzkisten auf Kuba vgl. Alexander, Robert J. (1991): International Trotskyism 1929-1985. A documented analysis of the movement. Durham, London (Duke University Press), S. 228-231. García Hernández, Frank (2017): „Cuba: la mala hora del trotskismo.” Cultura: debate y reflexión. Anuario Instituto Cubano de Investigación Cultural Juan Marinello, hg. von Caridad Massón Sena. Havanna, S. 30-42. Ferri, Claudia (2019): „Breve historia del trotskismo cubano.“ La Izquierda Diario (http://www.laizquierdadiario.com).
[9] „In den Achtzigerjahren betrug die größte Spanne der Lohnunterschiede im öffentlichen Sektor 1 zu 4.5. Die Regierung garantierte zudem freien und gleichen Zugang zu den Ausbildungsinstitutionen, gleiche Grundversorgung mit Lebensmitteln für alle, ein öffentliches Gesundheitssystem, um das die Kubaner von allen Entwicklungsländern beneidet wurden, und freien Zugang zu Kunst und Kultur. Dem entsprechend hatte die kubanische Gesellschaft in den Achtzigern ein beispielloses Niveau von Gleichheit unter Menschen verschiedener [Hautfarbe und verschiedenen Geschlechts] erreicht – sowohl hinsichtlich der Lebenserwartung, der Schulausbildung, der Jobverteilung und sogar der Repräsentanz in den Machtstrukturen.“ Alejandro de la Fuente (2019): „Losing out in Cuba.“ International New York Times, 29. 5. 2019, S. 16.
[10] Ein CUC entspricht gegenwärtig etwa 25 Pesos.
[11] „Kubas egalitäre Gesellschaft war das Resultat von mehreren Jahrzehnten einer auf Gleichheit ausgerichteten Politik. […] Die Löhne wurden gesetzlich reguliert und ohne jeden Unterschied – nach Geschlecht, Hautfarbe, sozialer Herkunft oder Zugehörigkeit zu diesem oder jenem sozialen oder familialen Netzwerk ausgezahlt.“ Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich aber „auf Kuba eine Art Zweiteilung ergeben: Der öffentliche Sektor folgt noch immer einer egalitären Logik, ermöglicht aber [den dort Beschäftigten] keinen sozialen Aufstieg. Nach offiziellen Angaben sind 32 Prozent der Beschäftigten im nichtstaatlichen Sektor tätig. Dieser wachsende private Wirtschaftssektor erzeugt diskriminierende Beschäftigungsstrukturen und trägt zu einer wachsenden Einkommens-Disparität nach Hautfarben bei.“ Alejandro de la Fuente, a. a. O. (Anm. 9).
[12] So die Studentin „Lisbeth“ (Havanna) im Interview mit Puente Sierra, a. a. O. (Anm. 6).
[13] El hombre que amaba a los perros. Barcelona (Tusquets Editores). Eine deutsche Übersetzung wurde 2011 im Zürcher Unionsverlag veröffentlicht.
[14] „Sie brauchen dringend Theorie!“ Frank García Hernandéz im Interview mit Héctor Puente Sierra, a. a. O. (Anm. 6).
[15] Die Kongress-Beiträge sollen in absehbarer Zeit in Buchform veröffentlicht werden. Zudem ist an zwei Nachfolge-Konferenzen in Sao Paulo und in Mexiko-City gedacht.
[16] Steinberg, A. (2019): „First International Academic Meeting on Trotsky – Part I“, Permanent Revolution (Mountain View, California), May 2019, S. 3.