Ökologie

Für einen kostenlosen Nahverkehr

Genauso wenig, wie wir Münzen in Straßenlaternen einwerfen oder für den Aufenthalt in öffentlichen Parks bezahlen, können Fahrscheine in den U-Bahnen und Bussen bald der Vergangenheit angehören, so wie es in über 100 Städten bereits der Fall ist.

Wojciech Kębłowski

Wenn wir den Verkehrsexperten und -betreibern glauben wollen, kommt die Abschaffung kostenpflichtiger Fahrscheine für alle Passagiere für die Betreibergesellschaften überhaupt nicht infrage. So meint etwa Alan Flausch, der ehemalige Chef der Brüsseler Verkehrsbetriebe STIB und jetzige Generalsekretär der Internationalen Vereinigung des Öffentlichen Verkehrs, dass „ein kostenloser öffentlicher Personenverkehr als Beitrag zur Mobilität absurd ist“. [1] Für Vincent Kauffmann, Universitätsprofessor in Lausanne und einer der prominentesten Experten für nachhaltige Mobilität, „macht ein kostenloser ÖPNV keinen Sinn“. [2] Das Fahrscheinsystem in den öffentlichen Verkehrsmitteln abzuschaffen, wird als „irrational“, „unrentabel“ und „nicht nachhaltig“ qualifiziert.

Wenden wir uns jedoch Beobachtern außerhalb des Transportgewerbes zu, kommt eine radikal andere Sicht auf die Abschaffung des kostenpflichtigen Fahrscheins zum Vorschein. Die Sozialwissenschaftler*innen, Journalist*innen und Beamt*innen, die überwiegend aus Städten kommen, in denen die Fahrscheinpflicht abgeschafft worden ist, verteidigen diese Maßnahme mit Verve. Für Judith Dellheim, Forscherin in der RLS (Rosa-Luxemburg-Stiftung) Berlin, ist der kostenlose Zugang zum öffentlichen Verkehr in Europa „der erste Schritt zu einer sozialökologischen Wende“. [3] Michiel Van Hulten, einer der ersten Verfechter*innen des kostenlosen ÖPNV in Europa meint, man müsse der Bevölkerung zurückgeben, was ihr gehört. [4] Naomi Klein schließlich, die bekannte Polit- und Umweltaktivistin, hält dies für die genau richtige Maßnahme, die alle Städte auf der Welt befolgen sollten: „Um sich der Klimakrise wirklich zu stellen, muss der ÖPNV kostenlos werden“. [5]


Kurzer geschichtlicher Abriss des kostenlosen ÖPNV


Trotz der offensichtlich kontroversen Positionen zum kostenlosen ÖPNV (FFPT für Free-fare public transport) wird er in einer steigenden Zahl von Städten praktiziert. Waren es 1980 erst sechs Städte, belief sich die Zahl 2000 auf 56 und mittlerweile auf weltweit 96 Städte und Gemeinden, in denen der ÖPNV komplett kostenlos ist. Komplett kostenlos heißt in diesem Zusammenhang, dass der ÖPNV auf den allermeisten Strecken und Verkehrsmitteln für die große Mehrheit der Nutzer*innen zumeist kostenlos ist. In ein paar hundert weiteren Städten ist der ÖPNV teilweise kostenlos, sei es in bestimmten Stadtgebieten oder für bestimmte Verkehrsmittel oder zu bestimmten Tages- oder Jahreszeiten.

Die USA spielten die Vorreiterrolle für einen komplett kostenlosen ÖPNV, nämlich 1962 in der Stadt Commerce bei Los Angeles, worauf in den 1970er, 80er und 90er Jahren weitere Pilotprojekte folgten. Damals beriefen sich die Befürworter*innen dieser Maßnahme in Nordamerika auf soziale und politische Argumente, indem sie auf die daraus zu erwartenden sozialen Vorteile hinwiesen und argumentierten, dass dadurch der ÖPNV besser ausgelastet würde und die hohen Investitionen in die Automobilinfrastruktur entfielen. […] Mittlerweile gilt der kostenlose ÖPNV an 27 Orten in den USA. […]

In Europa wurde dies erstmals 1971 in dem Toulouser Vorort Colomiers eingeführt, Rom und Bologna folgten nach. Am bekanntesten hierfür wurde Hasselt in Belgien, wo der Bürgermeister angesichts der hohen Verkehrsbelastung 1996 erklärte, dass „wir keine neuen Straßen, sondern neue Konzepte brauchen“. [6] Hasselt ließ die Pläne für den Bau einer neuen Umgehungsstraße fallen, schaffte stattdessen die Fahrscheinpflicht ab und baute vorrangig das öffentliche Verkehrsnetz aus. Steigende Betriebskosten und neue politische Mehrheiten im Stadtrat haben später dazu geführt, dass die Tariffreiheit 2014 aufgehoben wurde.

In Europa ist in den letzten Jahren in etlichen weiteren Städten und Regionen (insgesamt 56) die Ticketpflicht abgeschafft und damit die Spitzenrolle erreicht worden. Besonders viele von ihnen liegen in Polen (21, die alle seit 2010 entstanden sind) und Frankreich (20). Viele europäische Kommunen sehen im Nulltarif eine Strategie zur Reduzierung der PKW-Nutzung (z. B. Avesta, Schweden; Bełchatów, Polen) und der damit verbundenen Luftverschmutzung und Lärmbelästigung (Tórshavn auf den Färöer-Inseln). In vielen Städten werden gesellschaftspolitische Argumente genannt: Der Nulltarif wird ausdrücklich als Sozialpolitik begriffen, die darauf abzielt, benachteiligte Schichten zu unterstützen (wie in Lubin, Polen; Colomiers und Compiègne, Frankreich), oder als Versuch, den öffentlichen Verkehr als Gemeinschaftsgut neu aufzustellen (Aubagne, Frankreich; Mława, Polen).

Geographisch betrifft der Nulltarif somit kleine oder mittlere Städte mit weniger als hunderttausend Einwohnern. Die meisten von ihnen schaffen es selten in die Nachrichten – oder hat man jemals von Kościerzyna oder Vitré, Hallstahammar oder Lugoj, Velenje oder Akureyri gehört? Eine wichtige Ausnahme jedoch bildet Tallinn, die estnische Hauptstadt, die mit 440 000 Einwohnern die größte Stadt ist, die derzeit einen kostenlosen ÖPNV anbietet, was beweist, dass der Nulltarif auch in größeren Stadtgebieten funktionieren kann.

Dennoch scheinen die Verkehrsexpert*innen davon überzeugt zu sein, dass der Nulltarif irrational, nutzlos und unverantwortlich ist. Warum gibt es ihn dann aber trotzdem in fast weltweit hundert Städten? Im Folgenden will ich anhand von Beispielen aus Tallinn (Estland) und Aubagne (Frankreich) auf die kontroversen Standpunkte in der Debatte eingehen. Die Wahl dieser Städte ist kein Zufall, da beide für das Verständnis der Materie bedeutsam sind. Das im Umkreis von Marseille gelegene Aubagne gehört zu den am häufigsten diskutierten und bedeutsamsten Modellversuchen in Frankreich. Tallinn wiederum gilt als „Hauptstadt des kostenlosen ÖPNV“ und vertritt diese Maßnahme aktiv im In- und Ausland.


Schädlich und irrational?


Die meisten Verkehrsexpert*innen und -betreiber*innen bezeichnen den Nulltarif als nutzlos, ineffizient und nicht wachstumsfördernd. Die Abschaffung der Fahrscheine wird kritisiert, weil sie die Finanzierbarkeit der öffentlichen Verkehrsnetze gefährde. Die kostenlose Nutzung von Bussen und Straßenbahnen schwäche das Budget und erhöhe gleichzeitig die Kosten für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und für die Bewältigung der steigenden Nutzerzahlen. Wie ein Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe in Montpellier (Frankreich) erklärt, sei die Abschaffung der Ticketpflicht eine Maßnahme einer Politik, die „dem öffentlichen Verkehr die für seinen Ausbau erforderlichen Ressourcen entzieht“. [7] Darüber hinaus sollte der öffentliche Verkehr nach Ansicht vieler Verkehrsingenieur*innen und Ökonom*innen als eigenfinanzierter oder gewinnorientierter Betrieb funktionieren, der den Marktmechanismen unterliegt.

Insofern sei der Nulltarif eine „gut gemeinte, aber falsche Idee“ [8], die suggeriert, dass „es kostenlose Güter oder Dienstleistungen gibt“. [9] Die Verkehrswirtschaftler berufen sich gerne auf die „freie Marktwirtschaft“ und drücken dies so aus, dass der Nulltarif die Dienstleistung sowohl für die Betreiber als auch für die Nutzer und Passagiere entwerte. Zudem wird der Nulltarif oft als irrational bezeichnet. Angeblich sind die Fahrscheine nicht nur eine Einnahmequelle, sondern auch ein Mechanismus, der das Verhalten der Passagiere steuert. Ohne Tickets würden die Fahrgäste Fahrten unternehmen, die von den Verkehrsplanern als nebensächlich, „unproduktiv“ [10] oder gar „nutzlos“ [11] eingestuft werden. Einfacher ausgedrückt, würden sich die Passagiere wie Verrückte benehmen, wenn es keine Fahrscheine gäbe.

Einige Beobachter [12] verweisen indessen darauf, dass der Nulltarif dazu beitragen kann, Material- und Personalkosten zu senken. Die Abschaffung der verschiedenen Geräte und Apparate, mit denen Tickets verkauft, abgestempelt und kontrolliert werden, spart Geld. Es muss kein Geld für sichere Cash-Management-Systeme ausgegeben werden, die Fahrkartenschalter, Kameras und Fahrgastkontrollen umfassen. Außerdem entfallen die Kosten für den Verkauf von Tickets durch Dritte, die Herstellung von Papier- oder elektronischen Fahrscheinen und die Buchhaltung.

 

Londoner U-Bahn, Foto: HHA124L (Flickr)

Gleichzeitig machen die entgangenen Einnahmen aus dem Fahrscheinverkauf in der Regel nur einen Teil des gesamten Budgets des öffentlichen Verkehrs aus. Das bedeutet, dass die tatsächlichen Kosten für den Betrieb und die Investitionen in das öffentliche Verkehrssystem nie vollständig von den Fahrgästen getragen werden, sondern die öffentlichen Subventionen wiegen hierbei weit mehr.

Diese Argumente werden durch die Erfahrungen in Tallinn und Aubagne gestützt. Vor der Umstellung auf einen Nulltarif wurde nur ein Drittel der Betriebskosten des öffentlichen Verkehrsnetzes durch Einnahmen aus den Fahrscheinen gedeckt, während die restlichen zwei Drittel durch einen direkten kommunalen Zuschuss getragen wurden. Dabei muss auch bedacht werden, dass der Nulltarif nur für gemeldete Einwohner*innen der Stadt gilt.

Zwischen Mai 2012 (sieben Monate vor der Einführung des Nulltarifs) und Mai 2016 stieg die Zahl der Einwohner von Tallinn von 415 000 auf 440 000, sicherlich auch infolge der Attraktivität des kostenlosen ÖPNV. Da estnische Kommunen das Recht haben, einen Teil der Einkommenssteuer ihrer Einwohner einzuziehen, und der durchschnittliche Steuerbetrag pro Einwohner bei 1 600 € pro Jahr liegt, bedeuten 25 000 zusätzliche Einwohner, dass 40 Mio. € zusätzliche Einnahmen pro Jahr erzielt wurden. Damit wurden nicht nur die entgangenen Einnahmen aus dem Fahrscheinverkauf (12,2 Mio. €) und die zusätzlichen Investitionen durch die gestiegene Nachfrage (11,7 Mio. €) weitgehend gedeckt, sondern Tallinn erzielte Mehreinnahmen von 16,1 Millionen Euro pro Jahr.

In Aubagne waren die Einnahmen aus den Fahrscheinen noch geringer (8,6 Prozent der Betriebskosten) und Schwarzfahren war üblich. Durch den Umstieg auf den Nulltarif konnten die kommunalen Behörden die Verkehrsabgabe erhöhen – eine Steuer, die französische Gemeinden von ortsansässigen Unternehmen mit mehr als elf Beschäftigten erheben können. Nach französischem Recht könnte die Steuer von 1,05 % auf 1,8 % angehoben werden, wenn sich Aubagne zum Bau einer Straßenbahnlinie verpflichtet - ein Meilenstein auf dem Weg zu einem kostenlosen ÖPNV und zugleich eine grundlegende Umgestaltung und Verbesserung des öffentlichen Verkehrswesens. Durch die Erhöhung der Verkehrsabgabe stiegen die Einnahmen um 5,7 Mio. €, die zusammen mit den Einsparungen im Betrieb (160 000 €) die Kosten für die Abschaffung des Fahrscheins (1,57 Mio. €) mehr als wett machten.


Nicht nachhaltig?


Ein anderer Argumentationsstrang gegen den Nulltarif betrifft die Frage, ob er in der Lage ist, zu einer „nachhaltigen“ Mobilität beizutragen. Das Verkehrswesen gilt dabei als Schlüsselkomponente einer „lebenswerten Stadt“, die nicht nur wirtschaftlich gesund, sondern auch sozialen Zusammenhalt und Vielfalt sowie Umweltfreundlichkeit, Gesundheit und Teilhabe gewährleistet. Um die „Lebensqualität“ und „Bewohnbarkeit“ der Städte zu steigern, konzentrieren sich die Befürworter*innen einer nachhaltigen Mobilität auf die Herausforderung, den Umstieg vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel und „weiche“ Verkehrsmittel wie Radfahren und Gehen zu erleichtern.

Um eine solche nachhaltige Mobilität zu erzielen behaupten die Forscher*innen, dass die Abschreckung von der Nutzung des Autos durch Eingriffe in Parkplätze, Mautgebühren bei Verkehrsspitzen oder höhere Benzinsteuern bei der Regulierung des Autoverkehrs effektiver sei als der Nulltarif im öffentlichen Verkehr. Außerdem wird unterstellt, dass „Umsteiger“, die vom Nulltarif angezogen werden, zuvor überwiegend Fußgänger oder Radfahrer und keine Autofahrer waren. Insofern stünde der Nulltarif in den Augen vieler öffentlicher Verkehrsbetriebe im Widerspruch zu ihren Bemühungen, die Qualität ihrer Dienstleistungen zu erhöhen. [13]

Diese Anschuldigungen sind gegenstandslos, wenn man die Daten der Städte heranzieht, wo der Nulltarif praktiziert wird. Erstens belegen all diese Beispiele offensichtlich einen deutlichen Anstieg der Fahrgastzahlen. In Tallinn stieg die Zahl der Passagiere innerhalb von drei Jahren nach der Einführung des Nulltarifs um 14 %. [14] In Aubagne, wo das öffentliche Verkehrswesen deutlich unter der Auslastungskapazität lag, stieg die Zahl der Passagiere im gleichen Zeitraum um beachtliche 135,8 Prozent. Kann ein solcher Anstieg der Fahrgäste – egal ob sie nun früher mit Auto, Fahrrad oder zu Fuß unterwegs waren – negativ gewertet werden?

Obwohl das sicherlich nicht das Hauptanliegen der Politiker war, veranlasste der Nulltarif doch einige Autofahrer zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel. In Tallinn stieg der Anteil des öffentlichen Verkehrs um 9 %, während der der Autos um 3 % sank. Für Aubagne gibt es zwar keine genauen Daten, aber Fahrgastbefragungen zeigen eine – geringere – Verlagerung auf öffentliche Verkehrsmittel: 20 % der neuen Nutzer*innen, die früher mit dem Auto gefahren sind, geben an, wegen des Nulltarifs umgestiegen zu sein. Auch wenn in Tallinn wie auch in Aubagne die Qualität des öffentlichen Verkehrs bereits vor der Einführung des Nulltarifs deutlich gestiegen war, so hat sich dies weiter fortgesetzt, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen des Nulltarifs. Die kostenlose Beförderung der Fahrgäste bewirkte eine noch stärkere politische Unterstützung für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, der in beiden Städten im Mittelpunkt der politischen Agenda steht.


Sozial gerecht und systemüberwindend?


Ein dritter Argumentationsstrang in der Debatte über den Nulltarif bewertet diese Maßnahme nicht hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Tragfähigkeit oder ihres Beitrags zu einer nachhaltigen Entwicklung. Stattdessen geht es darum, ob durch den Nulltarif eine tiefgreifende und langfristige soziale und politische Transformation ermöglicht wird. Beim Nulltarif geht es in erster Linie darum, die öffentlichen Verkehrsmittel einfacher nutzen zu können: Jeder Bewohner und jede Bewohnerin sollen sie jederzeit in Anspruch nehmen können. Der Nulltarif wird insofern nicht als Ware betrachtet, sondern als ein „Gemeingut“, so wie viele andere öffentliche Dienste wie Sozialsicherung, Bildungs- und Erziehungswesen, Parks, Straßen, Gehwege, Radwege, Straßenlaternen, Bibliotheken, Schulen, Kindergärten oder Spielplätze.

Wie bei diesen Dienstleistungen liegt es durchaus auf der Hand, dass auch die öffentlichen Verkehrsmittel durchgängig kostenlos zur Verfügung gestellt werden sollen. Schließlich muss man auch keine Münzen in die Straßenlaternen einwerfen, um nachts im Hellen nachhause zu gelangen oder für jede Minute Aufenthalt in einem Park oder einer Bibliothek bezahlen.

In diesem Sinne schafft der Nulltarif eine andere Logik im Transportwesen: Weg von der marktbasierten Ausrichtung auf Profitabilität und Schaffung künstlicher Nachfrage. Stattdessen wird ein marktwirtschaftliches Dogma unmittelbar in Frage gestellt, wonach „eine Infrastruktur, nämlich das öffentliche Verkehrswesen, nur gegen Bezahlung zur Verfügung gestellt wird“. [15]

Manche Kommunalpolitiker sehen in einem öffentlichen, allgemein zugänglichen und erschwinglichen Verkehrswesen bereits einen richtigen Schritt auf dem Weg zum Sozialismus. Andere verfolgen eine radikalere Sicht und sehen darin eine antikapitalistische Maßnahme, mit der Gemeingüter und Dienstleistungen dekommodifiziert werden (d. h. nicht mehr als Waren funktionieren) und die Nutzer nicht mehr als Kunden, sondern als „Staatsbürger“ betrachtet werden.

Tallin 2012: Abstimmung über Nulltarif (Wikimedia)

 

Die Abschaffung der kostenpflichtigen Fahrscheine lässt sich auch als oppositioneller Akt gegen die biopolitische Kontrolle begreifen, die auf die Passagiere durch personengebundene Tickets und Fahrscheinkontrollen ausgeübt wird, zumal diese Kontrollen oft unter dem Aspekt stattfinden, „illegale“ Einwander*innen auszulesen.

Außerdem können durch die bedingungslose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel soziale Ausgrenzung, Ungleichheit und eingeschränkte Mobilität direkt angegangen werden. Einkommensschwachen Fahrgästen eine bessere Mobilität zu gewährleisten, bedeutet, ein sozial gerechteres Verkehrssystem zu schaffen. Ein kostenfreies Verkehrsnetz „zeugt von Solidarität mit den Schwächsten, mit denen, die sich kein Auto leisten können und auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind und die von deren Unzulänglichkeiten besonders betroffen sind“. [16]

In Tallinn sieht man deutlich, zu welchen Ergebnissen der Nulltarif geführt hat. Unter den Arbeitslosen hat die Zahl der Nutzer*innen um 32 % zugenommen und unter den einkommensschwachen Bewohnern mit weniger als 300 Euro Monatseinkommen um 26 %. Der Zuwachs liegt bei 21 % unter den Einwohnern in (Mutterschafts)urlaub und bei 17 % unter den Rentner*innen. Alle Altersgruppen sind beteiligt, vor allem jedoch die jüngeren (unter 19 J.) und die älteren Leute.

In den nach der Unabhängigkeit entstandenen Wohnsiedlungen, in denen ein Großteil der russischsprachigen Einwohner Tallinns wohnt, hat die Nutzung des ÖPNV zugenommen. Was deren Integration erleichtert. Aber auch in den Stadtvierteln, in denen die Mittelschicht wohnt, ist die Nutzerzahl gestiegen, was belegt, dass der Nulltarif nicht nur für die Armen attraktiv ist.

Dennoch ist klar, dass der Nulltarif „nicht alle unsere Probleme lösen wird, sondern dass er bloß einen ersten Schritt darstellt“ [17] auf dem Weg zu einer breiteren Umwälzung der Kräfteverhältnisse und damit der Verkehrsgestaltung. Im Gegensatz zu den Verkehrsexperten, die behaupten, dass es den Fahrgästen mehr um Sicherheit, Taktfrequenz, Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit im ÖPNV geht, setzt sich ein breites Spektrum an Organisationen und Bewegungen für die Abschaffung der Fahrscheine ein.

Eines der zahlreichen Beispiele ist der Movimento Passe Livre (freie Mobilität“), der beim Weltsozialforum 2005 in Brasilien entstanden ist und sich bei den Protesten gegen eine Erhöhung der Fahrpreise im Rahmen der Fussball-WM und der Olympischen Spiele 2014 bzw. 2016 über das ganze Land ausgedehnt hat. Die gestiegenen Fahrpreise fallen erheblich ins Gewicht angesichts der enormen Ungleichheit zwischen den mit ihren Autos hochmobilen Stadtbewohnern und den Armen dort, die auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen sind. Die Forderung nach einem Nulltarif ist auch zu einem aufrüttelnden Appell gegen die fortschreitende Kommodifizierung [Umwandlung in Waren] öffentlicher Dienstleistungen und deren Unterordnung unter rein wirtschaftliche, „rationale“ und „nachhaltige“ Aspekte.


Die Auswirkungen auf die Beschäftigten


Bei dem Thema Nulltarif geht es außer den obigen Aspekten auch um die Position der Beschäftigten im Verkehrswesen. Welche Auswirkungen hat die Einführung eines Nulltarifs auf sie? In vielen Städten, darunter Tallinn und Aubagne, wurde er von den Schaffner*innen begrüßt, weil sich dadurch ihre Arbeitsbedingungen gebessert hätten. Zwar sind Arbeitszeiten und Gehälter gleich geblieben, aber die Fahrer müssen keine Tickets mehr verkaufen und kontrollieren, was früher ein erheblicher Stressfaktor war.

Die Umstellung auf den Nulltarif bedeutet auch, dass die Schaffner am Ende ihres Arbeitstages nicht mehr die Einnahmen zählen müssen. In Aubagne sagte mir einer, dass der Nulltarif „wunderbar ist. Kein Stress mehr … wegen Schwarzfahren und Fahrscheinkontrollen. … Stattdessen können sich die Fahrer auf das Lenken und den Einstieg der Fahrgäste konzentrieren, das ist alles.“ Die Umstellung „hat den Job des Busfahrers verändert: Er muss sich jetzt nur noch darum kümmern, seinen Bus richtig zu fahren“.

Die Umstellung war jedoch nicht für alle Beschäftigten von Vorteil. In Tallinn sind 70 von 80 Kontrolleur*innen entlassen worden. In Aubagne wurden sie stattdessen mit der Aufrechterhaltung der Sicherheit an Bord der Fahrzeuge betraut, weil anfänglich viele Leute Angst hatten, dass mit der Abschaffung der Fahrscheine der Vandalismus einkehren würde. Nachdem sich diese Bedenken schnell zerstreut hatten, trug man den Kontrolleuren an, das Verhalten und die Arbeitsleistung der Fahrer zu überwachen, statt der Passagiere kontrollieren sie also nunmehr die Fahrer*innen.

Dass unter dem Nulltarif weniger Aufgaben von den Fahrern erledigt werden müssen, hat deren Position in den jeweiligen Verkehrsbetrieben allerdings eher geschwächt. In Tallinn können Fahrer zwar einer Gewerkschaft beitreten, aber ihr tatsächlicher Status bei Tarifverhandlungen ist weiterhin eingeschränkt, da individuelle Gehaltszulagen nicht an Beschäftigte vergeben werden, die gegen die Unternehmensführung aufmucken. Wie mir ein Fahrer anvertraute: „Ob mit oder ohne Fahrscheine. Die Zulage wird jeden Monat neu festgelegt: Wenn man pünktlich fährt, gibt es eine Zulage, aber wenn man sich beschwert, kann die Zulage gekürzt werden.“

In Aubagne wurde der Nulltarif im Rahmen der Übertragung von einem Familienunternehmen auf ein privates Netz eingeführt, das von einem lokalen Ableger von Veolia, einem französischen Multi, betrieben wird. Für einen dortigen Gewerkschafter gibt es „einen großen Widerspruch zwischen der Abschaffung der Fahrscheinpflicht und dem Betrieb durch ein Privatunternehmen …“. Obwohl Veolia sich an den Nulltarif gehalten und angepasst hat, hat der Konzern gleichzeitig eine Reihe von Maßnahmen zur „Rationalisierung“ des öffentlichen Transportnetzes umgesetzt. So wird beispielsweise die individuelle Pünktlichkeit der Fahrer mit einem GPS-System gemessen, und ihre Rechte und Kompetenzen innerhalb des Unternehmens wurden zunehmend abgebaut. Die Einführung des Nulltarifs verkomplizierte ihre Situation, anstatt sie in ihrem Kampf zu stärken, einer Gewerkschaft ihrer Wahl beitreten und ihre Meinung über die Unternehmensführung frei äußern zu können.


Es geht nicht nur um eine Verkehrswende …


Die Kontroverse um den Nulltarif zeigt, dass es bei der Konzeption und Analyse des städtischen Verkehrs um ein breiteres Problem geht. Denn die Debatte über den Verkehr wird offensichtlich auf technische und wirtschaftliche Aspekte reduziert, während die explizit sozialen und politischen Dimensionen der Mobilität oft ausgeklammert werden. Wenn man die Frage des Nulltarifs bloß unter dem verkehrspolitischen Aspekt angeht, erzeugt man eine Reihe von Mythen und Missverständnissen, die nicht durch die realen Gegebenheiten tatsächlich existierender Nulltarifzonen untermauert werden. Obwohl es allgemein heißt, dass der Nulltarif ruinös sei, kann er in Wirklichkeit dazu beitragen, neue Einnahmen zu generieren, indem er neue steuerpflichtige Einwohner*innen anzieht (Tallinn) oder die lokalen Steuereinnahmen erhöht (Aubagne).

      
Weitere Artikel zum Thema
Łukasz Ługowski: Auf dem Weg zum Nulltarif im Nahverkehr?, die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018)
Kai Hasse: Die Krise des Individualverkehrs, die internationale Nr. 1/2018 (Januar/Februar 2018)
Paul Michel: Sackgasse Autogesellschaft - Höchste Eisenbahn für eine Alternative, die internationale Nr. 6/2017 (November/Dezember 2017)
 

Und obwohl ihm unterstellt wird, die Städte nicht nachhaltiger und lebenswerter zu machen, zeigt er, dass kostenlose Fahrscheine auch für Autofahrer bis zu einem gewissen Grad attraktiv sein und so dazu beitragen können, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu erhöhen, was wiederum weniger Luftverschmutzung und Lärmbelästigung bedeutet. Die Qualität kostenloser Verkehrsbetriebe ist nicht unbedingt schlechter als bei den kostenpflichtigen. Somit kann der Nulltarif mit Fug und Recht für sich beanspruchen, den öffentlichen Personenverkehr politisch zu stärken.

Mit anderen Worten, bei der Verkehrspolitik geht es nicht (nur) um den Verkehr. Wenn wir den Nulltarif weniger als verkehrspolitische Maßnahme, sondern mehr als Teil der Urbanität betrachten, können wir verstehen, welche Ansprüche und Auswirkungen damit verbunden sind. Dies erfordert, dass das Problem nicht als eine endlose Abfolge mathematischer Modellrechnungen oder von Analysen der Verkehrsströme angegangen wird, sondern im spezifischen Kontext der Region, an dem der Nulltarif entworfen und umgesetzt wird – mit Unterstützung durch die Kräfteverhältnisse und politische Kämpfe, in Interaktion mit dem räumlichen und sozialen Umfeld und mit den Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Das bedeutet, dass die Politik des Nulltarifs im öffentlichen Verkehr zwar natürlich mit dem Verkehrssektor eng zusammenhängt, aber nicht als reine Verkehrspolitik verstanden werden kann.

Wojciech Kębłowski ist Forscher an der Freien Universität Brüssel. In seiner Dissertationsschrift liefert er eine kritische Perspektive auf den kostenlosen öffentlichen Verkehr.
Übersetzung aus lavamedia.be: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Flausch, A.: Der kostenlose ÖPNV ist eine Absurdität, Vortrag auf einer Konferenz mit dem Titel Kostenloser ÖPNV als Beitrag für eine nachhaltige Zukunft, Europäisches Parlament in Brüssel am 27.9.2017
[2] CERTU (Forschungszentrum zu Mobilität und Verkehr), Le débat : la gratuité des transports collectifs urbains ?, Transflash: Bulletin d’information des déplacements urbains départementaux et régionaux, 352, April 2010.
[3] Dellheim, J., https://www.rosalux.de/publikation/id/9101/nulltarif-per-dekret-versus-transformationsprojekt/
[4] Van Hulten, M., Return to the „commons“. Vortrag auf einer Konferenz mit dem Titel Kostenloser ÖPNV als Beitrag für eine nachhaltige Zukunft, Europäisches Parlament in Brüssel am 27.9.2017
[5] E. Laystary, Peut-on vraiment lutter contre la pollution via la gratuité des transports ?, 24. April 2015.
[6] V. Doumayrou, Gratuité : le rôle pilote des villes moyennes, Le Monde diplomatique, Oktober 2012.
[7] CERTU, op. cit.
[8] FNAUT (Bund der Fahrgastverbände), Un florilège des fausses bonnes idées dans le secteur des transports, Pressekonferenz, Paris, 16. September 2011.
[9] CERTU, op. cit.
[10] Cats, O., Susilo, Y. O., Reimal, T., The prospects of fare-free public transport: evidence from Tallinn. Transportation, 2016.
[11] Duhamel, Y., Gratuité des transports publics urbains et répartition modale. Retour sur rapport final. PREDIT, ADEME, 2004.
[12] Michael Brie und Mario Candeias, GERECHTE MOBILITÄT, Postfossile Konversion und kostenloser öffentlicher Nahverkehr, RLS, August 2012
[13] FNAUT, op.cit.
[14] Cats, O., Susilo, Y. O., et Reimal, T., op. cit.
[15] Cosse, E. : Feu vert. Vacarme. 50, 42, 2010.
[16] Cosse, E. : Feu vert. Vacarme. 50, 42, 2010.
[17] Dellheim, J., op.cit., 1