Fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod von Ernest Mandel ist der folgende Artikel nicht als Würdigung gedacht. So wie auch Mandel den Marxismus stets als etwas Lebendiges begriffen hat, soll vielmehr die Aktualität seiner ökonomischen Schriften dargestellt und die darin aufgeworfenen – alten wie neuen – Fragen skizziert werden.
Michel Husson
Mandel hat eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung eines von seinen stalinistischen Überresten befreiten Marxismus gespielt, wobei er stets bemüht war, die ökonomischen Analysen mit der politischen Praxis zu verbinden. Im Jahr 1962 erschien sein erster bedeutender Beitrag Marxistische Wirtschaftstheorie [1]. Dieses Werk wurde international weit verbreitet und trug zur Erneuerung eines lebendigen Marxismus bei, der frei von Dogmatismus und bestrebt war, die neueren Entwicklungen zu integrieren. Ein gutes Beispiel hierfür liefert das Kapitel XI über die periodischen Krisen: Mandel liefert darin bereits eine Synthese zwischen den Theorien, die auf der Unterkonsumption bzw. der Dysproportionalität beruhen, und bezieht sich dabei auf die Beiträge von Ökonomen wie Harrod, Kuznets, Samuelson, Goodwin, Kalecki und Joan Robinson. Er findet, dass sie zwar „massiv vereinfachen“, aber „dennoch wichtiges Material liefern“.
1963 hielt Mandel eine Reihe von Vorträgen auf einem Schulungswochenende, das von dem Pariser Verband des Parti socialiste unifié (PSU, Vereinigte Sozialistische Partei) organisiert wurde. Aus diesen Konferenzen ging dann die Broschüre Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie [2] hervor, die mehrmals neu aufgelegt wurde. Auch wenn er natürlich aktualisiert werden müsste, ist dies ein bemerkenswerter und sehr pädagogischer Text, der zeigt, wie sehr Mandel ständig bemüht war, Brücken zwischen der anspruchsvollsten Theorie und der Schulung der Basis zu schlagen.
1967 veröffentlichte Mandel die Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx [3]. Hauptanliegen dieses Buches war, eines der grundlegenden Werke von Marx – die Grundrisse – bekannt zu machen, noch bevor die erste französische Übersetzung von Roger Dangeville vorlag. Lesenswert ist besonders das Kapitel über die „Dialektik von Arbeitszeit und Freizeit“, das eine perfekte Einführung in das Thema der Arbeitszeitverkürzung darstellt.
Es war bekannt, dass es Mandel um die Verbreitung der Wirtschaftstheorie von Marx ging, aber stets mit dem Ziel einer nicht-dogmatischen Sichtweise. Insofern war es kein Zufall, dass er gebeten wurde, ein Vorwort zur englischen Ausgabe des Kapital (Penguin) zu verfassen, was zeigt, wie berühmt Mandel in der angelsächsischen Welt war [4]. Leider sind diese Einführungen zu den drei Bänden des Kapital nicht auf Französisch erhältlich, obwohl sie ins Spanische übersetzt und unter dem Titel El Capital. Cien Años de Controversias En Torno a la Obra von Karl Marx [5] als Buch veröffentlicht worden sind. Sie stellen eine überaus bemerkenswerte Einführung in das Hauptwerk von Marx dar. [Auf Deutsch wurden sie 1991 unter dem Titel Kontroversen um „Das Kapital“ veröffentlicht.]
Eine Passage befasst sich mit dem Problem der Umwandlung der Werte in Preise. Diese theoretische Frage ist insofern wichtig, als sie Anlass zu einer Kritik an der Marx’schen Werttheorie war. Demnach bestünde ein unüberwindbarer Widerspruch zwischen Kapital Band I (die Werte sind proportional zum Arbeitsaufwand) und Band III (die Preise sind proportional zum vorgeschossenen Kapital).
Mandel kontert diese Kritik an Marx, indem er deren grundlegenden Annahmen, wonach die Produktionspreise der Inputs (was in die Produktion eingeht) mit den Preisen der Outputs (was produziert wird) identisch sind: „Zulieferungen (inputs), Käufe in laufende Produktionszyklen sind Daten, die am Beginn dieses Zyklus bereits gegeben sind, und sie haben während dieses Zyklus keinen Rückkoppelungseffekt auf den Ausgleich der Profitrate in den verschiedenen Produktionszweigen. Es genügt zu unterstellen, dass sie ebenfalls in Produktionspreisen und nicht in Werten berechnet sind, aber dass diese Produktionspreise sich aus der Ausgleichung der Profitrate während des vorangegangenen Produktionszyklus ergeben, um Ungereimtheiten verschwinden zu lassen.“ (...) „Die Produktionspreise der Rohstoffe sind, wie die aller in der Produktion verwendeten Inputs (...) das Ergebnis des Ausgleichs der Profitraten, der während des vorangegangenen Zeitraums stattgefunden hat“. [6] Mit nur wenigen Worten wurde damit die Lösung geliefert. Aber seltsamerweise verfolgte Mandel seine Position nicht: In dem Sammelband Ricardo, Marx, Sraffa [7] behandelte er das Transformationsproblem nur unter dem Gesichtspunkt der Rolle von Gold und Geld.
Die Leistungen des Nachkriegskapitalismus (niedrige Arbeitslosigkeit, Kaufkraftzuwachs) standen im Widerspruch zu den von den stalinistischen Ökonomen vertretenen Thesen über den unvermeidlichen Zusammenbruch oder die Verarmung des Proletariats. Um diese neue Konfiguration zu analysieren, sprach Mandel vom Neokapitalismus (ein Begriff, den er später wieder ablehnte), entwickelte aber den Begriff der Langen Wellen von da an weiter.
Bereits 1963 – in seiner bereits erwähnten Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie – bezog sich Mandel auf Kondratieff und verwies darauf, dass „die langfristige Welle, die mit dem Zweiten Weltkrieg begann und in der wir uns immer noch befinden – sagen wir die Welle von 1940-1965 oder 1940-1970 – im Gegenteil durch Expansion gekennzeichnet war“. Dies ermöglicht „eine tendenzielle Erhöhung des Lebensstandards der Arbeitnehmer“. Er leistete damit also eine weitsichtige Vorwegnahme der kommenden Wende, die in einem bemerkenswerten, 1964 in der Zeitschrift Les Temps modernes erschienenen Artikel mit dem Titel L’apogée du néo-capitalisme et ses lendemains (Die Blüte des Neokapitalismus und ihre Folgen) [8] verdeutlicht wird, in dem Mandel das kommende Ende der Nachkriegsexpansion vorhersagte, die damals noch nicht als „Wirtschaftswunderjahre“ bezeichnet wurde.
Mit der Theorie der langen Wellen geht Mandel auf die Ausarbeitungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, insbesondere auf Parvus und Trotzki. Wir geben hier die Originalkurve in Trotzkis Artikel von 1923 [9] wieder. Er skizziert bereits den Kerngedanken der Theorie der langen Wellen, nämlich dass der Kapitalismus historische Perioden durchläuft: „20 Jahre einer sehr geradlinigen Entwicklung des Kapitalismus (Teil A-B); 40 Jahre eines energischen Aufschwungs (Teil B-C); 30 Jahre anhaltender Krisen und des Niedergangs (Teil C-D)“. Trotzki stellte klar, dass dies keine Zyklen sind, wie Kondratieff fälschlicherweise dachte, denn „ihr Charakter und ihre Länge werden nicht durch die inneren Wechselwirkungen der Kräfte des Kapitalismus bestimmt, sondern durch jene externen Faktoren, die die Bahn bilden, in der die Entwicklung des Kapitalismus verläuft“. (Siehe Grafik)
Mandel hat sich immer auf die klassische Formulierung des Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate bezogen. Ein Beispiel hierfür ist seine Darlegung in dem Text Partially independent variables and internal logic in classical Marxist economic analysis (Partiell unabhängige Variablen und innere Logik in der klassischen marxistischen Analyse): „Die Zunahme der organischen Zusammensetzung des Kapitals führt tendenziell zu einem Fall der durchschnittlichen Profitrate (...) Langfristig jedoch kann die Mehrwertrate nicht proportional zum Ansteigen der organischen Zusammensetzung des Kapitals wachsen, und die Mehrzahl der Gegentendenzen tendieren zumindest periodisch (und ebenso langfristig) dazu, sich abzuschwächen“. [10]
Diese klassische Formulierung ist jedoch fragwürdig, da die unbestreitbare Zunahme der physischen oder technischen Zusammensetzung des Kapitals (die Anzahl der „Maschinen“ pro Arbeiter*in) nicht unbedingt zu einer Zunahme der organischen Zusammensetzung (wertmäßig) führt, da diese Transformation von der Entwicklung der Arbeitsproduktivität abhängt. Das ändert aber nichts daran, dass der Verlauf der langen Wellen mit der Profitrate zu tun hat. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die expansive Phase automatisch beginnt, sobald die Profitrate eine bestimmte Schwelle überschreitet. Dies ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Die Art und Weise, wie die Profitrate wieder hergestellt wird, muss zugleich eine adäquate Antwort auf andere Fragen liefern, besonders was die Realisierung des Produkts angeht.
Die Profitrate ist jedoch, wie Mandel betonte, ein guter synthetischer Indikator für die doppelte Zeitlichkeit (historische Dynamik) des Kapitalismus. Die Schaffung eines kohärenten Produktionssystems bedeutet, sie auf einem hohen und nahezu „garantierten“ Niveau zu halten. Nach einer gewissen Zeit verschlechtert sich diese Situation durch das Zusammenwirken der Grundwidersprüche des Systems, und die entstehende Krise ist immer und überall durch einen deutlichen Rückgang der Profitrate gekennzeichnet. Dies spiegelt eher eine doppelte Unfähigkeit des Kapitalismus wider, den Grad der Ausbeutung der Arbeiter zu reproduzieren und die Realisierung der Waren sicherzustellen, als eine Tendenz zur Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals. In dieser Hinsicht erscheint es uns sinnvoll, das Gesetz der tendenziell sinkenden Profitrate neu zu formulieren: Letztere sinkt nicht kontinuierlich, sondern die Mechanismen, die sie nach unten drücken, setzen sich am Ende immer gegen das durch, was Marx Gegentendenzen nannte. Die Umkehrung ist endogen, und die Forderung nach einer Neugestaltung des Produktionssystems taucht daher periodisch wieder auf.
Jedenfalls hat Mandel dieses Gesetz nie zum A und O der Erklärung von Krisen gemacht. In dem Kapitel seines Werkes La Crise : 1974–1982 (Die Krise: 1974–1982) [11], das dieser Frage gewidmet ist, führte Mandel die von verschiedenen marxistischen Schulen angeführten Ursachen auf: „Die Überakkumulation des Kapitals? Zweifellos (...) Die Unterkonsumption der Massen? Zweifellos (...) Die Anarchie der Produktion und die Disproportionalität zwischen den verschiedenen Branchen? Ohne Zweifel (...) Der Rückgang der Profitrate? Ohne jeden Zweifel.“ Bezüglich dieses letzten Ansatzes präzisiert er: „aber nicht im mechanistischen Sinne des Begriffs, der eine lineare Kausalkette unterstellt“. Mandel verwahrte sich daher strikt gegen jede monokausale Erklärung der Krise und insbesondere den Fall der Profitrate, der für einige Marxisten eine Garantie für die Orthodoxie ist.
Logischerweise stellt sich die Frage, wo wir uns momentan befinden. Die Antwort darauf lautet, dass wir noch immer in einer rezessiven langen Welle feststecken, die mit der verallgemeinerten Rezession 1974/75 begonnen hat und mit der von 1981/82 zusammengefallen ist. Es bedarf jedoch mehrerer Präzisierungen.
Zunächst einmal, dass Mandels Theorie nie davon ausgegangen ist, dass jede lange Welle zwischen 25 und 30 Jahre dauern müsse. Dies traf zwar in der Vergangenheit näherungsweise zu, aber daraus folgt nicht, dass es auch regelhaft so sein muss, weil lange Wellen eben keine Zyklen sind. Diese falsche Gleichsetzung, die man beispielsweise bei Robert Boyer, einem führenden Vertreter der Regulationstheorie, findet, muss strikt zurückgewiesen werden: „Man sollte sich nicht mit der ziemlich mechanischen Interpretation zufrieden geben, die von N.D. Kondratieff entwickelt und kürzlich von E. Mandel wieder aufgegriffen wurde und die die Geschichte des Kapitalismus als eine Abfolge von starken und schwachen Akkumulationswellen von der Dauer von etwa einem Vierteljahrhundert darstellen. (...) Kein teleologisches Prinzip kann die mechanische Abfolge von auf- und niedergehenden Phasen garantieren, noch den automatischen Übergang von einem vorwiegend extensiven zu einem hauptsächlich intensiven Akkumulationsregime.“ [12]
Es handelt sich dabei um einen groben Wahrnehmungsfehler, vergleichbar mit dem, was Mandel 1980 in seinem Buch über die langen Wellen geschrieben hat: „Mit anderen Worten, das Auftreten einer neuen expansiven Welle kann nicht als eine endogene (d. h. eine mehr oder weniger spontane, mechanische, autonome) Folge der vorangegangenen rückläufigen langen Welle, unabhängig von Länge und Bedrohlichkeit der letzteren, angesehen werden. Nicht die Bewegungsgesetze des Kapitalismus, sondern die Folgen des Klassenkampfes eines ganzen geschichtlichen Zeitraums bestimmen den Wendepunkt. Wir gehen hier von einer Dialektik der objektiven und subjektiven Faktoren der historischen Entwicklung aus, wobei die subjektiven Faktoren von relativer Autonomie gekennzeichnet sind, das heißt, sie sind nicht direkt und unabwendbar von dem vorherbestimmt, was früher in Bezug auf die Entwicklungsgesetze der Kapitalakkumulation, des technologischen Wandels oder die Bedeutung dieser im Prozess der Arbeitsorganisation selbst gesagt wurde.“ [13]
In der Zusammenfassung: „die langen Wellen sind mehr als ein bloßes Auf und Ab der Wachstumsraten der kapitalistischen Volkswirtschaften. Sie sind vielmehr im vollen Sinn des Wortes spezifische historische Perioden.“
Unter diesem Aspekt muss die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus seit dem Umschwung der 80er Jahre analysiert werden. Zwar konnte die Profitrate wieder hergestellt werden – zumindest bis zur Krise von 2008 – aber das reicht nicht aus. Denn man würde diese Theorie komplett missverstehen, wenn man daraus ableitet, dass bloß eine bestimmte Schwelle der Profitabilität erreicht werden muss, um eine neue expansive Phase zu erzeugen. Wirklich neu ist, dass diese Wiederherstellung der Profitrate nicht von einer Zunahme der Akkumulation, des Wachstums oder der Produktivitätszuwächse begleitet wird. Dieser letzte Punkt ist unseres Erachtens ausschlaggebend: Die Verlangsamung oder gar die Erschöpfung der Produktivitätszuwächse zeigen am deutlichsten an, dass der Kapitalismus an Dynamik verloren hat.
Diese Produktivitätszuwächse wurden durch die Einführung wichtiger technologischer Neuerungen ermöglicht. In der Theorie der langen Wellen gibt es eine organische Verbindung zwischen der Abfolge langer Wellen und der von wissenschaftlichen und technischen Revolutionen, aber dieser Zusammenhang lässt sich nicht darauf reduzieren, so wie Schumpeter den technologischen Fortschritt an sich als Schlüssel zur Eröffnung einer neuen langen Welle zu begreifen. Unter diesem Gesichtspunkt stellen die mit den neuen Technologien verbundenen Veränderungen zweifellos ein neues „techno-ökonomisches Paradigma“ dar, aber das reicht nicht aus, um eine neue expansive Phase zu begründen. Die gesamte Debatte über die „säkulare Stagnation“ gründet auf der Erkenntnis, dass die umfangreichen Neuerungen in allen Bereichen keine Produktivitätsgewinne nach sich ziehen.
Manche gehen davon aus, dass neue Technologien das Potenzial für Produktivitätssteigerungen haben, was auch einen starken Beschäftigungsabbau mit sich bringen würde. Unterstellt man, dass diese Prognose zutrifft, müsste man das mit diesen Transformationen verbundene Sozialmodell hinterfragen. Dazu ist es hilfreich, einen zentralen Text von Mandel aus dem Jahr 1986 heranzuziehen: Marx, la crise actuelle et l’avenir du travail humain (Marx, die gegenwärtige Krise und die Zukunft der menschlichen Arbeit). [14] Er entwirft ein sehr pessimistisches – aber durchaus weitsichtiges – Bild der Auswirkungen der kapitalistischen Automatisierung, indem er die Perspektive einer „zweigeteilten Gesellschaft, die das gegenwärtige Proletariat in zwei antagonistische Gruppen spalten würde“ beschwört: diejenigen, die weiterhin am Prozess der Mehrwerterzeugung, d. h. am kapitalistischen Produktionsprozess teilnehmen (bei tendenziell sinkenden Löhnen); und diejenigen, die von diesem Prozess ausgeschlossen sind und die mit allen Mitteln überleben, außer durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Kapitalist*innen oder den bürgerlichen Staat: durch Sozialhilfe oder zunehmende Scheinselbständigkeit, als Kleinbauern oder Handwerker, durch die Rückkehr an den „heimischen Herd“, als Unterhaltungskünstler*innen etc. , und die kapitalistische Waren kaufen, ohne sie zu produzieren. Vorübergehende Formen der Ausgrenzung aus dem „normalen“ Produktionsprozess finden sich in der prekären Beschäftigung, der Teilzeitarbeit, der Schwarzarbeit, von der besonders Frauen, Jugendliche, Immigrant*innen etc. betroffen sind.“
Dieser Anachronismus ist bewusst gewählt: Er soll unterstreichen, dass das Interesse an den wirtschaftlichen Arbeiten Mandels nicht nur in den Analysen liegt, die sie liefern, sondern auch in den methodologischen Werkzeugen, die sie uns zur Verfügung stellen. Deshalb ist ihre Lektüre oder erneute Lektüre auch ein Vierteljahrhundert nach Mandels Tod noch von Wert.
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Die Theorie der langen Wellen basiert weitgehend auf der Unterscheidung zwischen endogenen Faktoren (die sich auf das „normale“ Funktionieren des Systems und seine inneren Widersprüche beziehen) und exogenen Faktoren (die in gewisser Weise außerhalb des Systems liegen). Mandel widmete dieser Unterscheidung einen großen Teil seiner Darlegungen, und wir beziehen uns hier auf den Text von Francisco Louçã, Ernest Mandel und der Pulsschlag der Geschichte [15]. Aber diese Diskussion ist nach wie vor aktuell: Soll die Coronavirus-Krise als exogene Krise betrachtet werden oder nicht?
In einem kürzlich erschienenen Artikel [16] bejaht Philippe Légé diese Frage.
All die exogenen Schocks, die der Kapitalismus erlebt hat, geben ihm jedoch nicht die Möglichkeit, in eine neue expansive Phase über zu gehen. Sicherlich wird der Kapitalismus reagieren müssen, um zum business as usual zurückzukehren. Dabei geht es ihm natürlich um die Wiederherstellung der Profitrate, da dies seine einzige Richtschnur ist. Einfrieren oder Kürzung der Löhne und Sozialausgaben, beschleunigte Automatisierung, Abbau von Arbeitskräften: Es ist bereits unübersehbar, in welche Richtung der Marsch geht. Aber diese Maßnahmen, die quasi Eigenreflexe des Kapitalismus sind, werden in keiner Weise die Widersprüche verringern, die bereits vor Ausbruch der Krise virulent waren.
Auch hier können wir getrost auf Mandel zurückgreifen: Damit eine expansive Welle entsteht, reicht es nicht aus, dass sich die Profitrate erholt oder technologische Neuerungen entstehen. Es muss ein Produktionssystem geschaffen werden, das die Bedingungen für dessen Reproduktion gewährleistet. Diese Bedingungen sind jedoch aus einem unseres Erachtens wesentlichen Grund nicht gegeben, weil nämlich die Produktivität nicht mehr wächst. Ohne seine Dynamik und damit gewissermaßen seine Legitimität zurückzugewinnen, ist der Kapitalismus zu einer instabilen und zutiefst unsozialen Reproduktion verurteilt. Das galt bereits vor der Gesundheitskrise, und es gilt erst recht danach.
Michel Husson ist Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied des Beirats von Attac |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz