„Ein von allen materiellen und wirtschaftlichen Sorgen freier Mensch wird geboren“ – Reicht das, um Ernest Mandel auf dem Weg dorthin als einen Vertreter des verheerenden Produktivismus abzustempeln?
Michael Löwy
Die Beschäftigung mit der Umwelt taucht in Mandels Schriften erst ab den 1970er Jahren nachdrücklicher auf. In dem Traité d’économie marxiste (1962; dt. 1968) beispielsweise ist davon praktisch nichts zu merken. Allerdings ist in diesem Antritts-Werk bereits die Vorstellung von einem „Ende des Wachstums“ zu finden:
Wenn die Gesellschaft über einen Park automatischer Maschinen verfügt, der genügend groß ist, um ihren gesamten laufenden Bedarf zu decken (…), dann ist es wahrscheinlich, daß das ,wirtschaftliche Wachstum‘ verlangsamt oder vorübergehend sogar aufgehalten wird. (…) Ein von allen materiellen und wirtschaftlichen Sorgen freier Mensch wird geboren. [1]
Ernest Mandel (1970) |
Ab 1971/72, nach dem Auftreten der ersten ökologischen Bewegungen und infolge der Pionierwerke von Elmar Altvater, Harry Rothman und Barry Commoner begann er, die ökologische Dimension in seine Reflexionen zu integrieren. So ist im Spätkapitalismus (1972) die Rede von der „zunehmende(n) Umweltgefährdung durch die zeitgenössische Technik“ und von „kapitalistisch strukturierter Naturwissenschaft und Technik, die das Überleben der Menschheit bedrohen“. [2] Doch ist das in diesem Werk keine zentrale Problemstellung; es sind einige Erwähnungen hier und da, ohne dass das Thema systematisch behandelt würde. Es scheint also so zu sein, dass der Bericht des „Club of Rome“, der von Dennis L. und Donella H. Meadows verfasst und von Sicco Mansholt [3] unterstützt wurde, bei Mandel den Beginn einer nachhaltigeren Reflexion über das Thema Umwelt ausgelöst hat: Um diesen Bericht geht es in seinem Artikel „Die Dialektik des Wachstums“ vom November 1972, der später unter dem Titel „Marx, Engels und die Ökologie“ auf Deutsch veröffentlicht wurde. Bedenkt man, was er in der Marxistischen Wirtschaftstheorie über einen Stopp des Wachstums geschrieben hat, ist es eigenartig, dass seine Reaktion auf den Meadows-Bericht dermaßen negativ war; das ging so weit, dass er die Verfasser*innen zu „Doktrinären des Kapitalismus“ rechnete, die bereit sind, „alles zu opfern, sogar den heute noch als unantastbar geltenden Lebensstandard“, „wenn nur das Privateigentum und der Profit gerettet werden“. Immerhin erkennt er ihnen das Verdienst dafür an, dass sie die Existenz von „begrenzten natürlichen Ressourcen“ in Erinnerung gerufen haben, die es unmöglich machen, dass die Lebensweise der „Mittelklassen“ in den Vereinigten Staaten für den ganzen Planeten verallgemeinert wird. [4]
Nachdem er daran erinnert hat, dass Wirtschaftswachstum und Entwicklung der Produktivkräfte für Marx kein Selbstzweck, sondern einfach ein Mittel für die menschliche Emanzipation waren, zitiert Mandel eine wichtige Stelle aus der Deutschen Ideologie (1846) [5], in der es um die Transformation der Produktionskräfte in Destruktionskräfte im Kapitalismus geht. [6] Dieses zerstörerische Potential der kapitalistischen Produktivkräfte ist Resultat der Logik der auf der Suche nach Profit gegründeten Marktwirtschaft: „Wenn man sich eher für bestimmte technische Möglichkeiten als für andere entschieden hat, ohne die Wirkungen in Bezug auf das ökologische Gleichgewicht zu berücksichtigen, so geschieht das aufgrund von privaten Rentabilitätsberechnungen gewisser (…) Firmen“. In manchen Passagen scheint Mandel an eine Neutralität der modernen Technik zu glauben: Es stimme „einfach nicht, daß die moderne Industrietechnik unvermeidlich dahin tendiert, das ökologische Gleichgewicht zu zerstören.“ [7] Doch im Folgenden erkennt er an, dass die gegenwärtige Technik, die real existierende moderne industrielle Technik – beispielsweise die von Chemietrusts wie Monsanto durchgedrückte – gefährlich und schädlich ist. Er weist allerdings nachdrücklich darauf hin, dass diese Ausrichtung der Technik nicht die einzig mögliche ist: In einer sozialistischen Perspektive sollte „die Entwicklung einer anderen Technologie“ den Vorrang erhalten, „die ganz und gar auf die harmonische Entfaltung des Individuums und die Erhaltung der natürlichen Ressourcen – und nicht auf die Maximierung der privaten Profite – abzielt.“ [8]
Die Lösung liegt also nicht darin, Mangel, Askese, eine drastische Herabsetzung des Lebensstandards durchzusetzen, wie die Experten des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in ihrem Bericht an den Club of Rome vorschlagen, sondern vielmehr darin, Wachstum zu planen und es an eine „Reihe von deutlich festgelegten Prioritäten, die absolut nicht den Zwängen des Privatprofits unterworfen sind“ zu binden. [9] Die Option des Nullwachstums ist vor allem für die unterentwickelten Länder nicht akzeptabel. Die sozialistische Alternative, die Mandel vorschlägt, besteht in der radikalen Transformation der ökonomischen und sozialen Strukturen, sodass die Bedingungen für eine Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts geschaffen werden. In einer sozialistischen Gesellschaft wird die oberste Priorität auf die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse für alle Menschen und auf die Erforschung neuer Techniken gelegt werden, die die knapp gewordenen Reserven an natürlichen Ressourcen wieder herstellen können. Lebensqualität, Freizeit, Reichtum der gesellschaftlichen Beziehungen werden viel wichtiger werden als „das Wachsen des Bruttosozialprodukts“. [10]
Seither wird diese Problematik in Ernest Mandels Schriften sehr präsent sein; so gibt es beispielsweise in dem Manifest der Vierten Internationale Sozialismus oder Barbarei an der Schwelle zum 21. Jahrhundert (1993) einen Abschnitt, der dem Verhältnis zwischen Sozialismus und Ökologie gewidmet ist. Der Verfasser erkennt an, welche Schwächen die Arbeiterbewegung auf diesem Gebiet hat, dass die postkapitalistischen bürokratischen Gesellschaften himmelschreiend gescheitert sind und dass die revolutionären Marxist*innen den Ökologie-Theoretiker*innen und -Aktivist*innen viel zu verdanken haben. Doch hält er Kurs auf die sozialistische Alternative:
„Zu wirksamem Kampf gegen Umweltverschmutzung, systematischem Naturschutz, stetigem Forschen nach erneuerbaren Energiequellen, strikter Einschränkung der Verwendung nicht erneuerbarer Ressourcen gehört darum, die Entscheidungen über Investitionen und Wahl der Produktionstechniken den privaten Unternehmen zu nehmen und einer sozialen Gemeinschaft zu übertragen, die demokratisch darüber entscheidet.“ [11]
Das beharrliche Betonen der „seltenen Naturressourcen“, das es bereits in dem Artikel von 1972 gibt, ist eindeutig eine Schranke: Was im Zusammenhang mit Ökologie auf dem Spiel steht, reicht weit über diesen ökonomischen Aspekt hinaus.
Ernest Mandels sozialistische Option scheint mir immer noch aktuell zu sein, allerdings denke ich, es ist notwendig, ein paar Schritte weiter zu gehen – sowohl in Bezug auf die Kritik des Marx’schen Erbes als auch auf die Radikalität des Bruchs mit dem bestehenden technisch-produktiven Paradigma. Es gilt, die Errungenschaften der Ökologie in das Zentrum des sozialistischen Ansatzes zu stellen – anders ausgedrückt: eine ökosozialistische Alternative anzustreben.
Ein gewisser klassischer Marxismus geht – Bezug nehmend auf einige Stellen von Marx und Engels – von dem Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen aus und definiert die soziale Revolution als die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die zum Hindernis für die freie Entwicklung der Produktivkräfte geworden seien. Bei dieser Konzeption scheint der Produktionsapparat als „neutral“ und seine Entwicklung als unbegrenzt aufgefasst zu werden. In dieser Sichtweise würde die sozialistische Transformation vor allem in der gesellschaftlichen Aneignung der von der kapitalistischen Zivilisation geschaffenen Produktivkräfte und darin zu bestehen, dass sie in den Dienst der arbeitenden Menschen gestellt werden. Um eine Stelle aus Engels’ Anti-Dühring zu zitieren, dem Buch, das für ganze Generationen von Sozialist*innen zum Kanon gehörte:
(Im Sozialismus wird) die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreif(en) von den jeder andern Leitung außer der ihrigen entwachsenen Produktivkräften. [12]
Diese Sichtweise ist von einem ökosozialistischen Gesichtspunkt her zu kritisieren, wobei wir uns von Marx’ Bemerkungen zur Pariser Commune leiten lassen sollten: Die Arbeiter*innen können sich nicht des kapitalistischen Staatsapparats bemächtigen und ihn in ihre Dienst stellen. Sie müssen ihn „zerbrechen“ und durch einen anderen, völlig andersgearteten ersetzen, durch eine nicht-staatliche und demokratische Form von politischer Macht.
Das gleiche gilt mutatis mutandis [13] für den „real existierenden“, d. h. kapitalistischen Produktionsapparat: Von seinem Charakter und seiner Struktur her ist er nicht neutral, sondern steht er im Dienst der Kapitalakkumulation der unbegrenzten Expansion des Markts. Er steht im Widerspruch zu den Erfordernissen des Schutzes der Umwelt und der Gesundheit der Arbeitskraft. Aufgrund seiner Funktionsweise und seiner Logik muss er die Umweltverschmutzung, die Zerstörung der biologischen Diversität, die Beseitigung der Wälder, die katastrophale Veränderung des Klimas verschlimmern. Er muss also „revolutioniert“ werden, seine Struktur muss radikal transformiert werden. Das kann für einige Produktionszweige – z. B. die Atomkraftwerke – bedeuten, dass sie „abgebrochen“ werden müssen. Auf alle Fälle müssen die Produktivkräfte anhand von sozialen und ökologischen Kriterien zutiefst modifiziert werden.
Das bedeutet in erster Linie eine Energierevolution, die Ersetzung nicht erneuerbarer Energien, die für Umweltverschmutzung und Umweltvergiftung verantwortlich sind – Kohle, Öl und Atomkraft – durch „weiche“ und erneuerbare Energien: Wasser, Wind, Sonne.
Aber zusammen mit der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und dem Beginn eines Übergangs zum Sozialismus muss die gesamte Produktions- und Konsumptionsweise, die zum Beispiel auf dem individuellen Auto und anderen Produkten dieser Art basiert, transformiert werden. Es versteht sich von selbst, dass jede Umgestaltung des Produktions- oder des Transportsystems – die schrittweise Ersetzung der Straße durch die Schiene – mit Garantie der Vollbeschäftigung der Arbeitskräfte erfolgen muss.
Wie wird die Zukunft der Produktivkräfte in diesem Übergang zum Sozialismus aussehen – einem historischen Prozess, der nicht in Monaten oder Jahren zu zählen ist? Zwei Schulen stehen sich innerhalb der, wie man sie nennen könnte, ökologischen Linken gegenüber:
Mir scheint, dass diese beiden Schulen eine rein quantitative Auffassung von der Entwicklung der Produktivkräfte teilen. Es gibt eine dritte Position, die mir angemessener erscheint – zu der Mandel zu tendieren schien – und deren Haupthypothese die qualitative Veränderung der Entwicklung ist: der monströsen Ressourcenverschwendung durch den Kapitalismus ein Ende zu setzen, die auf der Produktion nutzloser oder schädlicher Produkte in großem Maßstab beruht, die Rüstungsindustrie ist ein offensichtliches Beispiel. Es geht also darum, die Produktion auf die Befriedigung authentischer Bedürfnisse auszurichten, angefangen bei jenen, die Mandel als „biblisch“ bezeichnete: Wasser, Nahrung, Kleidung, Wohnung.
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Wie kann zwischen echten Bedürfnissen und künstlichen und unechten Bedürfnissen unterschieden werden? Letztere werden durch ein System der mentalen Manipulation, das als „Werbung“ bezeichnet wird, hervorgerufen. Als unverzichtbarer Bestandteil des Funktionierens des kapitalistischen Marktes sollte Werbung in einer Gesellschaft des Übergangs zum Sozialismus verschwinden und durch Informationen ersetzt werden, die von Verbraucherverbänden geliefert werden. Das Kriterium, um ein echtes Bedürfnis von einem anderen künstlichen Bedürfnis zu unterscheiden, ist sein Fortbestehen nach der Abschaffung der Werbung (Coca-Cola!).
Das individuelle Auto hingegen erfüllt ein reales Bedürfnis, aber in einem ökosozialistischen Projekt, das auf einer Fülle von unentgeltlichen öffentlichen Verkehrsmitteln basiert, wird es eine viel geringere Rolle spielen als in der bürgerlichen Gesellschaft, wo es zu einem kommerziellen Fetisch, einem Statussymbol und zum Zentrum des sozialen, kulturellen, sportlichen und erotischen Lebens der Individuen geworden ist.
Sicher, werden Pessimist*innen reagieren, aber die Einzelne werden von unendlichen Wünschen und Sehnsüchten getrieben, die kontrolliert und gezügelt werden müssen. Der Ökosozialismus beruht jedoch auf einer Wette, die bereits bei Marx zu finden war und auf die Mandel oft betont hingewiesen hat: auf der Vorherrschaft des „Seins“ über das „Haben“ in einer klassenlosen Gesellschaft, d. h. die persönliche Erfüllung durch kulturelle, spielerische, erotische, sportliche, künstlerische, politische Aktivitäten, und nicht Verlangen nach einer unendlichen Anhäufung von Gütern und Produkten. Letzteres wird durch die bürgerliche Ideologie und die Werbung induziert, und nichts deutet darauf hin, dass solch ein Verlangen mit einer „ewigen menschlichen Natur“ zu tun habe.
Dies bedeutet nicht, dass es keine Konflikte zwischen den Anforderungen des Umweltschutzes und den sozialen Bedürfnissen, zwischen ökologischen Imperativen und den Bedürfnissen der Entwicklung, insbesondere in armen Ländern, geben wird. Es ist Aufgabe der von den Imperativen des Kapitals und des „Marktes“ befreiten sozialistischen Demokratie, diese Widersprüche zu lösen.
Quelle: Inprecor, Nr. 676, Juli 2020. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz