Das Übergangsprogramm von 1938 – über 80 Jahre alt und dennoch aktuell
Heinrich Neuhaus
Der Kapitalismus befindet sich dreißig Jahre nach seinem vermeintlichen „Endsieg“ in einer historischen Krise. Wirtschaftlich, sozial, ökologisch, politisch, kulturell und moralisch.
Zum Glück für die Herrschenden ist aber die Klasse, die ihn alleine überwinden kann, nach wie vor nicht auf der Höhe der Zeit. Die Überreste der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung kranken weiter an dem vergifteten Erbe des 20. Jahrhunderts, an dem Scheitern von Sozialdemokratismus und Stalinismus sowie an den Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus.
Zwar hat Kapitalismuskritik wieder eine gewisse Konjunktur, aber Vorstellungen von dem Weg zu einer sozialistischen Alternative sind nur bei einer winzigen Minderheit ansatzweise vorhanden.
Dieser Zustand ist umso bemerkenswerter, als die heutige Welt im Überfluss über alle Mittel verfügt, um der Menschheit die Befriedigung aller Grundbedürfnisse garantieren zu können: Ernährung und Kleidung, Gesundheitsvorsorge, Bildung und Ausbildung, sinnvolle Arbeit, Wohnen, ökologische Energieerzeugung und Verkehrsmittel sowie nicht zuletzt freien Zugang zu Kultur und Medien.
Erst in der imperialistischen Phase des Kapitalismus gewann der Kampf um die Macht aktuelle Bedeutung. Die revolutionären Jahre von 1917 bis 1923 führten folglich auch zur Wiederaufnahme der schon von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest entwickelten Idee eines Übergangsprogramms sowohl durch Lenin in den Aprilthesen (1917) als auch durch Luxemburg auf dem Gründungsparteitag der KPD (1918/19).
Auf dem III. und IV. Weltkongress der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale (Komintern) wurde endlich der Gedanke eines Übergangsprogramms klar formuliert:
„An Stelle des Minimalprogramms der Reformisten und Zentristen setzt die Kommunistische Internationale den Kampf um konkrete Bedürfnisse des Proletariats, um ein System von Forderungen, die in ihrer Gesamtheit die Macht der Bourgeoisie zersetzen…[und] das Proletariat organisieren“. [1]
Der Prozess der bürokratischen Degenerierung der Sowjetunion in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts führte zur Aufgabe dieser Strategie von Übergangsforderungen durch die Komintern.
Erst das Übergangsprogramm der IV. Internationale, das auf ihrem Gründungskongress 1938 angenommen wurde, knüpfte an diesem Erbe wieder an: „Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten ‚Minimal’-Programms, soweit sie noch ein wenig an Sprengkraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte der Arbeiter und ihre sozialen Errungenschaften.” [2]
Aber das Übergangsprogramm fordert auch, die Trennung zwischen Minimal- und Maximalprogramm zu überwinden. Das revolutionäre Programm müsse um ein System von Übergangsforderungen errichtet werden, die aus den täglichen Lebensbedingungen und dem täglichen Bewusstsein breiter Schichten der arbeitenden Klasse abgeleitet sind und unablässig auf den einen Schluss hinführen: die Machteroberung durch das Proletariat.
Anders ausgedrückt: Der Kern eines Übergangsprogramms ist ein System von Forderungen, die miteinander so verbunden sind, dass sie den Klassenkampf vorantreiben und auf eine höhere Ebene führen können.
Ein Übergangsprogramm beansprucht also, ein politisches Aktionsprogramm zur Mobilisierung der Massen zu sein. Es knüpft an ihrem jeweiligen Bewusstsein an und versucht, über das Lernen aus den eigenen Kampferfahrungen eine Brücke zur Einsicht in die revolutionäre Notwendigkeit zu schlagen – nämlich, dass die „Befreiung der Arbeiterklasse […] das Werk der Arbeiterklasse selbst sein“ muss. [3]
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Ein radikaler Bruch mit der herrschenden Logik der Profitmaximierung ist die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Alternative ohne Ausbeutung und Unterdrückung.
Es gibt keine Abkürzungen und Wundermittel auf dem langen und oft mühseligen Weg zum Aufbau einer sozialistischen Alternative. Weder das Hoffen auf Linksentwicklungen in Parteien, die dem bürgerlichen Parlamentarismus und den gut dotierten Zwängen der Sphäre der Berufspolitik verpflichtet sind, noch das Kopieren von Parteiaufbaukonzepten aus anderen Ländern oder das Zusammendenken von kleinen, sich radikal gebenden Gruppen ohne soziale Verankerung und praktische Klassenkampferfahrung und schon gar nicht der Glaube an die revolutionäre Kraft des geschriebenen Wortes an sich.
Nur die gemeinsame Beteiligung von revolutionären Sozialistinnen und Sozialisten am Aufbau einer wirksamen außerparlamentarischen Opposition gegen die Krisenpolitik der Herrschenden, die geduldige Verankerung in den bewussteren Sektoren der arbeitenden Klasse und die Offenheit für die Entwicklungsmöglichkeiten radikaler Organisationen und Blöcke wird reale Schritte zur Veränderung der Kräfteverhältnisse ermöglichen.
Ein Übergangsprogramm für das 21. Jahrhundert ist hierfür unabdingbar.
Dieser Artikel ist der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 6/2013 (November/Dezember 2013) (nur online) entnommen. Er wurde für die Theoriebeilage von Avanti² leicht überarbeitet. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021). | Startseite | Impressum | Datenschutz