Bundestagswahl

Zweieinhalb Jubiläen

In diesem Jahr begehen wir – ganz im Stillen – zwei runde Jubiläen. Und ein eher statistisches.

Björn Mertens

Blicken wir zunächst zurück ins Jahr 1971. Die Welt ist im Aufruhr. Arbeiter*innen und Student*innen auf den Straßen, Proteste gegen den Krieg in Indochina, Kämpfe für einen demokratischen Sozialismus in Osteuropa. Die Jugend sucht Perspektiven; nach den bleiernen Nachkriegsjahrzehnten erlebt die Vierte Internationale einen gewaltigen Aufschwung.

In diesen Tagen beginnt in Stuttgart Ingo Speidel damit, die Presse der anderen Sektionen nicht nur zu lesen, sondern wichtige Artikel zu übersetzen, zu vervielfältigen und an ausgewählte Genossinnen und Genossen zu verschicken. „Das musste man doch verbreiten“, sagte er dazu später, und meinte wichtige Erfahrungen und Diskussionen. Die kleine Presseschau stieß auf großes Interesse, und ältere Genossen sagten dazu: „Das ist doch Inprekorr!“. [1] Den Jüngeren sagte das nichts, und wir erklären es später.


Kritischer Blick


Inprekorr Nr. 1, 1971

Am 15. März 1971 erschien dann erstmals das „Informationsbulletin des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale“ mit großem Namen „Inprekorr“ und eher bescheidener Aufmachung: handgemalter Titel, Schreibmaschinenschrift, Klammerheftung. [2] Die Themen umfassten das, was wir damals die „3 Sektoren der Weltrevolution“ nannten (andere sprachen von der „Ersten“, „Zweiten“ und „Dritten Welt“): Der Prozess in Prag gegen Petr Uhl und andere (laut Anklage wegen „Verbreitung des echten Sozialismus“), Kämpfe von Arbeiter*innen und Schüler*innen in Frankreich, Proteste gegen den Krieg in Indochina sowie der bewaffnete Kampf in Lateinamerika.

Doch schon in der ersten Nummer ist statt einer blinden Berauschung an Erfolgen in fernen Ländern eine kritische Sicht zu bemerken, der wir uns heute noch verpflichtet fühlen: Sicher war es mutmachend von Arbeiter*innen zu lesen, die ihre Fabriken besetzen und die Chefs im Direktionsbüro einsperren, aber es wurde auch nicht ausgeblendet, dass in anderen Kämpfen das Bewusstsein noch sehr niedrig war und nicht einmal Streikposten aufgestellt wurden.

Aus Argentinien wurde ein Fall geschildert, bei dem bewaffnete ERP-Kämpfer in eine Fabrik kamen, um den Kampf gegen die Entlassung von 200 Vertrauensleuten zu unterstützen; die Arbeiter*innen traten in den Streik, besetzten ihre Fabrik und bereiteten militanten Widerstand gegen die angedrohte Räumung vor, bis die Entlassungen zurückgezogen wurden. Also das genaue Gegenteil des damals in Europa gepflegten Zerrbilds des „bewaffneten Kampfs“, bei dem einsame Helden mit ein paar gezielten Schüssen die Welt verändern und den Massen zugedacht ist, sich klammheimlich freuen.


Themen


Inprekorr Nr. 1, 1921

 

Im Laufe der 1970er Jahre nahm dann das Ende der Diktaturen in Griechenland, Portugal, Spanien und dem Iran breiten Raum ein, ebenso wie die Unabhängigkeit der letzten Kolonien in Afrika. Und natürlich der Putsch des Militärs in Chile, von dem der sozialistische Präsident glaubte, es habe eine „demokratische Tradition“ und man sollte es nicht durch Gründung unabhängiger Soldatenkomitees „beunruhigen“.

In den 1980er Jahren tauchen ganz neue Themen auf: die Frauenbewegung, Kämpfe gegen AKW, atomares Wettrüsten und die Sparauflagen des Internationalen Währungsfonds. Und ganz besonders die sandinistische Revolution in Nikaragua und die Solidarnosc-Bewegung in Polen. Und in den 1990er Jahren: Abwehrkämpfe gegen die Folgen des Kapitalismus in Osteuropa und der Krieg im zerfallenden Jugoslawien. In Brasilien richten sich große Hoffnungen auf die „Arbeiterpartei“ (PT), doch führt ihr Präsident Lula dann am Ende doch nicht die großen Umwälzungen durch, die sich manche erträumt hatten.


Wieso „Inprekorr“?


Das zweite Jubiläum, das wir in diesem Jahr begehen, ist der hundertste Geburtstag der „Internationalen Pressekorrespondenz“, die am 24. September 1921 in Berlin als Pressedienst der Kommunistischen Internationale erstmal erschien – wie damals üblich wurden „sprechbare“ Abkürzungen verwendet, also „InPreKorr“ und „KomIntern“. Nach dem Sieg des Faschismus folgte eine lange Odyssee unter wechselnden Namen durch verschiedene europäische Städte (Basel, Paris, London u.a.), die dann 1943 in Stockholm mit der Auflösung der Komintern endete. [3] Doch der Schlusssatz der ersten Ausgabe gilt auch für uns heute noch: „Wegen Stoffandrangs, namentlich an Artikeln allgemeinen Inhalts, erscheint diese Nummer stärker, als es sonst für die IPK vorgesehen ist.“ [4]

      
Mehr dazu
Thies Gleiss: Ein Parteiorgan der besonderen Art, Inprekorr Nr. 400/401 (März/April 2005)
Interview mit Ingo Speidel: „Das muß man doch verbreiten“, Inprekorr Nr. 300 (Oktober 1996)
Angela Klein: Inprekorr in den Zeiten der Globalisierung, Inprekorr Nr. 300 (Oktober 1996)
Björn Mertens: Die erste Inprekorr, Inprekorr Nr. 299 (September 1996)
 

Und wieso „die internationale“?


Dieser Name geht zurück auf die von Rosa Luxemburg und Franz Mehring 1915 gegründete theoretische Zeitschrift, die allerdings sofort von der Polizei verboten wurde. Seit 1919 wurde sie von der KPD herausgegeben. Die deutsche Sektion der Vierten Internationale knüpfte 1948 an diese Tradition mit einer Zeitschrift gleichen Namens an. Seit 1986 wurde sie zur Beilage der Inprekorr. 2017 wurde Inprekorr zur Beilage der Internationale, die seither als Magazin der „Internationalen Sozialistischen Organisation“ erscheint.

Und dann feiern wir noch ein Jubiläum, das nur noch Buchhaltung und IT interessiert: Bei durchgehender Zählung ist dieses Heft die Nummer 600 seit 1971.


Vorabdruck aus die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (Online-Vorabdruck). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Ingo Speidel: „‚Das muß man doch verbreiten‘”, Inprekorr Nr. 300 (Oktober 1996).

[2] Ein Scan ist verfügbar unter: https://www.mao-projekt.de

[3] Björn Mertens: „Die erste Inprekorr”, Inprekorr Nr. 299 (September 1996)

[4] Inprekorr Nr. 1, 24. September 1921, S. 12