Wie konnte es dazu kommen, dass ein faschistoid gewirktes Aushängeschild eines ultrarechten Medienimperiums zu einem Präsidentschaftskandidaten wird, der von vielen Mainstream-Medien beweihräuchert wird? Was veranlasst Zemmour, auf rechtsextremem Terrain zu wildern und dem durch seine jüngste Wahlniederlage geschwächten und intern zerrissenen Rassemblement National Konkurrenz zu machen?
Stathis Kouvelakis
Der Aufstieg von Éric Zemmour auf die politische Bühne ist nicht vom Himmel gefallen, so rasant er auch erscheinen mag. Wie Ugo Palheta schreibt, verdichtet sich in dem Übertritt des medial gewichtigsten Rechtsextremisten aus der Medienwelt in die Wahlarena der gegenwärtig vorherrschende Trend nach rechts: Er ist quasi „das Symptom“ und gleichsam das Produkt dieser Entwicklung.
Seit der Ära Sarkozy hat sich der Schwerpunkt des politischen Lebens und der öffentlichen Debatte – vielmehr dessen, was dafür herhalten muss – weit nach rechts verschoben. Themen, die man früher nur von der extremen Rechten kannte, sind inzwischen im politisch-medialen Mainstream-Diskurs dauerpräsent und besetzen einen Raum, der von der (angeblich) „republikanischen“ Linken um Manuel Valls und Laurent Bouvet über die bürgerliche Rechte und die Vertreter des Macron-Regimes, die sich nun im Kampf gegen den „Links-Islamismus“ [Entstehung sog. islamischer parallelgesellschaftlicher Strukturen, AdÜ] und den „Separatismus“ wiedervereint haben, bis hin zum Rassemblement National (RN) reicht. Ihr Gegenstand ist ein enthemmter Rassismus, der dezidiert islamophob ist und den Mythos des „großen Bevölkerungsaustauschs“ beschwört, was von erheblichen Vernichtungsphantasien zeugt. Éric Zemmour ist einer der markantesten Vertreter dieser Faschisierungstendenz und seine mediale Dauerpräsenz ist das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses, den er zugleich begleitet und geschickt anheizt.
Éric Zemmour (2010) Foto: Esby |
Die Versuchung ist also groß, Zemmours Aufstieg als oberflächliches Epiphänomen, als Übertreibung der Meinungsforschung oder als „Kunstprodukt der Medien“ abzutun. Dennoch ist die Metamorphose von einem medial omnipräsenten Polemiker zu einem Präsidentschaftskandidaten, der es laut einigen Umfragen sogar in die zweite Runde schaffen könnte, alles andere als selbstverständlich. Wer hätte dies noch vor wenigen Monaten für möglich gehalten? Wer hätte gedacht, dass ein Zemmour in der Lage sein würde, Marine Le Pen und ihre Partei zu destabilisieren, die seit vier Jahrzehnten über ein solides rechtsextremes Wählerpotential verfügen, bereits zweimal in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen eingezogen sind und laut nicht allzu alten Umfragen sogar auf dem besten Weg sind, den Abstand zu Macron aufzuholen, falls es 2022 zu einer Stichwahl kommt? Um es anders auszudrücken: Zwar lässt sich das Phänomen Zemmour nur verstehen, wenn man die langfristige Dynamik zugrunde legt, aber die politische Wendung, die es anscheinend momentan nimmt, wäre nicht erklärbar, wenn es in den letzten Monaten nicht auch zu einer konjunkturellen Änderung gekommen wäre.
Denn tatsächlich ist „etwas“ bei den letzten Regionalwahlen passiert oder genauer gesagt zu Tage getreten, als die RN schlechter als erwartet abgeschnitten hat und es ihr nicht gelungen ist, auch nur eine einzige Region zu erobern oder auch nur ernsthafte Chancen darauf zu haben. Ein solcher Misserfolg – trotz eines hohen Ergebnisses auf nationaler Ebene – war ein schlechtes Omen für die Präsidentschaftswahlen, da er deutlich machte, dass die RN unabhängig von der Konstellation des zweiten Wahlgangs zum Scheitern verurteilt ist. Damit wäre auch die sog. Strategie der „Entteufelung“ gescheitert, die die RN-Führerin in den vergangenen Jahren verordnet hatte und die nur als „Zweitrundenstrategie“ sinnvoll ist, da sie darauf abzielt, eine Mehrheit für die als sicher angenommene Präsenz in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen zu gewinnen.
Dieses Streben nach Respektabilität ist im Übrigen unumgänglich für jede Formation, die den bürgerlichen Staat und die Geschäfte des Kapitals zu verwalten sich anschickt – daher die zahlreichen Reverenzen in den letzten Monaten in Richtung der herrschenden Klassen in Frankreich und Europa (Aufgabe des Euro-Austritts, Verpflichtung zur Rückzahlung der Schulden, Erklärung über die Vereinbarkeit einer Politik der „Priorität der eigenen Nation“ und der wesentlichen Rahmenbedingungen der EU). Anfang 2021 schien die RN auf dem Weg zu sein, ihre Umwandlung in eine potenzielle „Regierungspartei“ erfolgreich zu vollziehen, und ihre Regierungsübernahme, natürlich im Bündnis mit einem Teil der bürgerlichen Rechten, wurde weithin als durchaus plausibel erachtet.
Das schwache Abschneiden jedoch bei den Regionalwahlen hat diese Orientierung komplett durcheinander gebracht und den Austritt von Abgeordneten, Leitungskräften und Mitgliedern verursacht oder beschleunigt. Es wird deutlich, dass die RN trotz ihrer hohen Wahlergebnisse und ihres Einflusses in den entscheidenden Wählerschichten (Jugendliche, Berufstätige, Arbeiterklasse) als Partei und sogar als Zugpferd bei den Wahlen eine bescheidene Größe bleibt. Eine solche Formation erweist sich daher als besonders anfällig für einen Rückschlag bei den Wahlen, und das trifft deren Führerin, die das Rückgrat einer auf eine Führungsperson zentrierten politischen Strömung bildet, besonders hart. Dieser Effekt wird durch den organisatorischen Dilettantismus und die Vetternwirtschaft, die in der Handhabung der internen Angelegenheiten vorherrschen, noch verstärkt. Vor dem Hintergrund einer als möglich erachteten Machteroberung wird eine (relative) Wahlniederlage gleich zu einem strategischen Scheitern.
Doch wie lässt sich dieser Rückschlag erklären? Hier kommt der „Faktor Zemmour“ ins Spiel, genauer gesagt sein Wandel von einem Medienstar im Dienste des Rechtsextremismus zu einem Akteur im Parteienspektrum der kommenden Wahlen. Denn Zemmour liefert eine treffende Analyse dieses Scheiterns aus der Sicht seines politischen Lagers. Bereits am Tag nach den Wahlen verweist er auf die Wechselwirkung des unter Le Pen „normalisierten“ Diskurses einerseits und der drastischen Rechtsentwicklung des politischen Mainstream-Lagers: „Tatsächlich gibt es mittlerweile keinen Unterschied mehr zwischen ihrer Rhetorik und der von Emmanuel Macron oder Xavier Bertrand. […] Marine Le Pen spricht wie Emmanuel Macron, Emmanuel Macron spricht wie Marine Le Pen, sie befinden sich bereits im zweiten Wahlgang, den niemand außer ihnen bestreiten könnte, und dann sieht man plötzlich, dass die Wähler dieses Zwangsszenario ablehnen“. Diese doppelte Banalisierung des Le Pen‘schen Diskurses (sie spricht „wie alle anderen“ und hat „alle anderen“ dazu gebracht, wie sie zu sprechen), ein paradoxer Effekt dieser „Lepenisierung der Hirne“, auf die Le Pen Senior einst stolz war, zehrt nachdrücklich an ihrer Fähigkeit, die Wut und die verschiedenen Ressentiments für sich so zu instrumentalisieren, wie in der Vergangenheit erfolgreich praktiziert.
Hier liegt die Erklärung für den Misserfolg bei den Regionalwahlen: Entgegen allen Erwartungen war die Wählerschaft des RN genauso stark oder sogar stärker von der Wahlenthaltung betroffen wie die der anderen Gruppierungen (abgesehen von der Wählerschaft von der ebenfalls gescheiterten La France insoumise) [1]. Was die anderen Parteispitzen oder zumindest einen erheblichen Teil von ihnen betrifft, so sehen sie die Aussicht auf einen Wahlsieg in weite Ferne rücken und kritisieren zunehmend die angebliche „Verweichlichung und Verbürgerlichung ihrer Partei“. Wie ein ehemaliger Funktionär des Verbands Deux-Sèvres erklärte: „Der Graben wurde nach und nach immer tiefer. Man hat uns verboten, zu [der homophoben Kundgebung] La Manif pour tous zu gehen, dann hat man uns verboten, die [inzwischen verbotene rechtsextremistische] Génération identitaire zu unterstützen. Marine Le Pen sagt, dass der „große Bevölkerungsaustausch“ eine Verschwörungstheorie sei, dass der Islam mit der Republik vereinbar sei, dass sie nicht aus Schengen oder der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten werde … Sie ist eine Linke, die in einem Schloss aufgewachsen ist und die Le-Pen-Filiale geerbt hat“.
Damit war der politische Boden für Zemmour bereitet. Kraft dieser Erkenntnis und seiner medialen Omnipräsenz, die ihn zu einem der kraftvollsten Motoren der Rechtsradikalisierung der politischen Landschaft werden ließ, scheint Zemmour von den Problemen der bis dahin anerkannten Vertreterin der extremen Rechten profitieren zu können. Jetzt kann er sich selbst auch in der wahlpolitischen Arena als legitimes Sprachrohr dieser Radikalisierung, die er in den Medien maximal vorangetrieben hat, inszenieren.
Dies spiegelt sich in einigen aktuellen Umfragewerten wider, die auf einen rasanten Anstieg seiner Zustimmung unter den Wählern hindeuten. Zemmour schafft es, unter der Wählerbasis sowohl der etablierten Kandidat*innen der extremen Rechten (Marine Le Pen und ihr Satellit Dupont-Aignan) als auch der klassischen Rechten zu wildern. Mehr noch: Anders als die ersten Umfragen vermuten ließen, scheint er auch unter der einfachen Bevölkerung (und in geringerem Maße auch bei den Jungwähler*innen) auf substantielle Zustimmung zu stoßen. Diese Wählerschaft tendiert seit einigen Jahren zunehmend zur extremen Rechten – selbst wenn man die hohe Wahlenthaltung in ihren Reihen berücksichtigt. Noch bevor Zemmour seinen Hut in den Ring warf, zeigten Umfragen, dass die extreme Rechte unter der Arbeiterklasse in einem Maße verfängt, das noch über die Rekordwerte der letzten Präsidentschaftswahlen hinauszugehen scheint: Die drei zur Wahl stehenden Kandidat*innen der extremen Rechten können unter den „Arbeiter*innen“ und „Angestellten“ mit rund 50 % der Stimmen rechnen, während die Kandidat*innen der Linken in diesen Kategorien zwischen 22 und 25 % liegen. [2]
Mit der Kandidatur von Zemmour zeichnet sich die Bildung eines potenziellen Mehrheitsblocks ab, der einen Teil der klassischen bürgerlichen Rechten um eine erstarkte und nunmehr hegemoniale extreme Rechte herum zusammenschweißt. Wenn es dazu kommt, könnte dies den Zerfall der bürgerlichen Rechten beschleunigen, von denen sich bereits ein Teil Macron angeschlossen hat oder dies in der nächsten Zeit tun wird, wobei die neu gegründete Partei von Edouard Philippe wohl als Auffangbecken dient.
Auch wenn der der Aufstieg von Zemmour tatsächlich das Symptom eines faschistoiden Radikalisierungsprozesses der politischen Landschaft ist, signalisiert er auch, dass dieser Prozess nunmehr diejenigen überholt oder zumindest überrumpelt, die bislang seine Hauptträger und Nutznießer auf dem Feld der politischen Institutionen waren. Mehr als eine „Alternative der Bourgeoisie“, wie Ugo Palheta meint, in dem Sinne, dass die Bourgeoisie mehrere Optionen parat hat, um zu gegebener Zeit die beste (für ihre Interessen) auswählen zu können, erscheint uns das Phänomen Zemmour in gewisser Weise als eine „Autonomie der Politik“, oder, anders ausgedrückt, ein Prozess, der sich seinen Initiatoren entzieht. Dadurch wirkt es als ein Faktor, der die Fragmentierung und damit die Instabilität und Unvorhersehbarkeit einer aus den Fugen geratenen politischen Landschaft beschleunigt – was nicht unbedingt im Sinne der Bourgeoisie ist, die nichts so sehr liebt wie Ordnung und ruhige Übergänge.
|
|||||
Diese Autonomie ist jedoch relativ. Und das nicht nur in dem Sinne, dass Zemmours politische Optionen offensichtlich genauso im Dienste der kapitalistischen Interessen stehen wie die der anderen Vertreter des bürgerlichen Blocks. Um seine mediale Popularität auch in der Wahlarena erfolgreich ummünzen zu können, muss er auch in der Lage sein, die „Eintrittsgebühren“ dafür zu zahlen. Und die sind hoch, insbesondere für einen Präsidentschaftswahlkampf: Unterschriften, Finanzen, Meetings, die Verpflichtung zu einer gewissen Präsenz bei den Wähler*innen vor Ort. Der Zerfall der Parteien begünstigt zwar den kometenhaften Aufstieg von Außenseitern in der Politik – Macrons Blitzsieg ist der Beweis dafür – oder den Erfolg von Wahlkampagnen, die mit einem minimalen Apparat betrieben werden, wie die von Mélenchon 2017. In beiden Fällen konnten die Kandidaten jedoch erhebliche Ressourcen mobilisieren: der derzeitige Präsident konnte auf die Unterstützung von Seiten der wirtschaftlich Mächtigen zählen und der Führer von La France insoumise profitierte von seiner langen politischen Laufbahn innerhalb der Regierungslinken. Es bleibt abzuwarten, ob Zemmour in der Lage ist, eine solche Unterstützung zu mobilisieren […].
Als Ausdruck einer (relativen) Autonomie des Politischen vor dem Hintergrund der organischen Krise der politischen Institutionen und der schleichenden Faschisierung ist der kometenhafte Aufstieg von Zemmour ein Ausdruck von Stärke und Schwäche zugleich. Stärke, weil er zeigt, dass dieser faschistoide Radikalisierungsprozess tiefe Wurzeln hat und über eine Dynamik und Ressourcen verfügt, die über das hinausgehen, was den angestammten Vertretern dieser Couleur zur Verfügung steht. Schwäche, weil erst noch bewiesen werden muss, dass ein solcher Kandidat mehr Menschen hinter sich vereinen kann als Marine Le Pen und dass eine extreme Rechte, die in zwei etwa gleich große Flügel gespalten ist, glaubwürdiger ist als die relativ einheitliche Formation, die bisher dominant war.
In diesem Zusammenhang stellt sich zwangsläufig die Frage des cui bono. Letztendlich könnte es nützlich sein, dass die – bewusst übernommene oder einfach „objektive“ – Doppelfunktion diese Ausgeburt des reaktionären Flügels der bürgerlichen Rechten, nämlich aus den Zeitungskolumnen des Figaro, darin besteht, den einzigen Pol zu destabilisieren, der angesichts des derzeitigen Zerfalls der Linken bislang den Eindruck vermittelte, als könnte er den Champion des bürgerlichen Blocks (wahlpolitisch) in Schwierigkeiten bringen und gleichzeitig seinen (faschistischen) Positionen ein ungeahntes Maß an Aufmerksamkeit und Akzeptanz verschaffen.
Ungeachtet des Ausgangs steht Zemmour bereits jetzt als Gewinner fest.
Aus: Contretemps vom 16. Oktober 2021, also noch vor der Bekanntgabe von Zemmours Kandidatur. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz