Frankreich

Die extreme Rechte in Frankreich

Zu den Begrifflichkeiten von Populismus, Neofaschismus ... und ihrer Anwendung auf die aktuelle Situation.

Bernard Schmid

Frankreich zählt zweifelsohne zu den Ländern, an die man am häufigsten denkt, wenn in den letzten Jahren das Wort „Rechtspopulismus“ fällt. Von der Präsidentschaftswahl am 21. April 2002, bei welcher Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl einziehen konnte (was damals als absoluter Überraschungserfolg gewertet wurde), bis zur im April und Mai 2017 anstehenden neuerlichen Wahl zieht der Front National/FN – inzwischen unter Marine Le Pen – viele Blicke auf sich. Dabei ist die Anwendung des „Populismus“-Begriffs auf diese Partei durchaus fragwürdig. Und benutzt man den Begriff „Populismus“ im Hinblick auf Frankreich, dann müsste er vielleicht zuerst auf den Gaullismus, jedenfalls den historischen Gaullismus der 1950er und 1960er Jahre Anwendung finden. Hat nicht er „das Volk“ als politische Kategorie aufgewertet und in diesem Zusammenhang die Einführung der Direktwahl des Staatspräsidenten durch das Wahlvolk gerechtfertigt, Volksabstimmungen das Wort geredet und Referenden durchgeführt, die „nationale Souveränität“ hochgehalten ...? Und dies, ohne faschistische Ursprünge zu haben? Wäre es nicht angemessener, den FN eingedenk genau solcher Ursprünge anders zu bezeichnen?

Ein kleiner Abriss zu einer notwendigen Debatte, gefolgt von einem Überblick über die aktuelle Situation.


Zur Anwendbarkeit des Populismus-Begriffs auf den Front National


In diesem Zusammenhang stellt sich die prinzipielle Frage nach der Anwendbarkeit der Kategorie des „Populismus“ auf jene Kraft, die sich seit 1984 fest auf dem Rechtsaußenflügel der französischen Parteienlandschaft verankert hat.

Dabei wirkt problematisch, dass dieser Begriff vor allem auf die Methoden und Diskursstrategien bestimmter Parteien abstellt, wodurch letztere aber nur auf eine oberflächliche, äußerliche Art und Weise definiert werden können. Herausgestrichen wird regelmäßig die Fähigkeit von Populisten, bestehende Unzufriedenheitspotenziale in der Gesellschaft (oft in demagogischer Weise) aufzugreifen, gegen die „politische Klasse“ in ihrer traditionellen Form zu bündeln und damit „uns da unten“ anzusprechen. Dabei handelt es sich aber im Kern lediglich um ein Instrument im politischen Kampf, nicht um ein Wesensmerkmal.

Als zentrales Wesensmerkmal des Front National kann und muss vor allem die Fähigkeit gelten, auf chamäleonartige Weise unterschiedliche gesellschaftliche Programmpunkte zu vertreten, welche die Partei sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Publikum zu eigen macht. Denn vor allem das Sozial- und Wirtschaftsprogramm des FN ist von widersprüchlichen Elementen, ja mitunter voneinander wechselseitig sich ausschließenden Logiken geprägt. Ultraliberale Elemente – beispielsweise die Forderung nach radikalen Steuersenkungen (besonders aber nach Abschaffung der zum Einkommen proportional gestaffelten Besteuerung) und nach einer Abschaffung der Besteuerung von Großvermögen – finden sich neben Versprechungen wieder, die in das Reich der sozialen Demagogie gehören. Etwa das Versprechen nach Anhebung der unteren Löhne, das durch die Ausweisung von Arbeitsimmigranten bzw. die Erhebung einer Sondersteuer auf „die Beschäftigung von Ausländern“ realisiert werden soll. Aber auch durch die Abschaffung von Sozialbeiträgen für die Kranken- oder Rentenversicherung, die stattdessen als Lohnbestandteil ausgezahlt werden sollen (womit aber das Krankheits-, Unfall- oder Altersrisiko auf die einzelnen Lohnabhängigen abgewälzt würde).

Diese Konzeption kann nicht ohne jenen Kerngedanken verstanden werden, der in FN-Programm und -diskurs im Ausdruck préférence nationale zusammengefasst wird (seit Antritt der jetzigen Parteichefin Marine Le Pen im Jahr 2011 mitunter auch umgetauft in priorité nationale oder „Inländervorrang“). Dieser Begriff steht im Mittelpunkt der Logik, die der gesamten Programmatik des FN zugrunde liegt. Der Wortschöpfer Jean-Yves Le Gallou, der den Begriff 1985 einführte [1], sollte einige Jahre später erklären: „Die préférence nationale ist der Atomkern unseres Programms“, was genau bedeutet, dass alles andere darum herumkreist. [2]

Deswegen sollte man in einer Analyse des Front National nicht so sehr darauf abstellen, was die Partei ihren Anhängern und Wählerinnen sowie Wählern „positiv“ verspricht. Denn in ihrer Logik steht vielmehr das „negative“ Element im Vordergrund: Wichtig ist, wem das Versprochene zuvor weggenommen werden soll! Alle Maßnahmen stehen nämlich unter dem Realisierungsvorbehalt, dass den „Eigenen“ gegeben werden soll, was den Anderen oder Fremden vorher weggenommen wird. Das Sozialprogramm ebenso wie die wirtschaftlichen Vorstellungen des FN sind daran aufgehängt, dass die beiden Hauptbedrohungen, „die Immigration“ und „die Globalisierung“, bekämpft werden sollen. Durch die Wiederaufrichtung (vermeintlich) undurchlässiger Grenzen, ökonomischen Protektionismus und, vor allem, die Reservierung von Sozialleistungen und Arbeitsplätzen für gebürtige Franzosen sollen nationales Kapital und nationale Arbeit gleichermaßen ihr Auskommen finden. Das ist natürlich eine Illusion, aber auf der Idee einer gegen äußere Feinde kämpfenden, „natürlichen“ Schicksalsgemeinschaft aufgebaut. Insofern ist die Charakterisierung des FN-Diskurses als rassistisch (und, eher im realen Diskurs denn im verschriftlichten Programm, oftmals auch als antisemitisch) mindestens ebenso zutreffend und von höherer Bedeutung als das Element des nach allen Seiten hin Versprechungen verheißenden Populismus.

Auch noch in anderer Hinsicht versagt die Populismus-Definition, geht es darum, den Front National oder das Verhalten seiner „Chefs“ zu beschreiben. Denn im Hinblick auf aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse positioniert der FN sich zwar oftmals in „populistischer“ Weise, d. h. so, dass er möglichst einen verbreiteten Unmut mit (tatsächlichen oder vermeintlichen) Missständen und Ungerechtigkeiten aufgreifen und auf seine Mühlen lenken kann. Diese Maxime trifft aber keineswegs beständig zu, d. h. die Suche nach möglichst taktisch geschickter und Zuspruch verheißender Positionierung charakterisiert die Politik dieser Partei keineswegs immer.

Als Beispiel seien die Positionen des damaligen Parteichefs Jean-Marie Le Pen während der beiden Kriege der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak, im Januar/Februar 1991 und im März/April 2003, herangezogen. Beide Male ergriff Jan-Marie Le Pen offensiv Partei für den damaligen irakischen Präsidenten, Saddam Hussein. Zumindest während des Konflikts Anfang 1991, an dem Frankreich auch militärisch teilnahm, war diese Position aber im Publikum allgemein, aber auch in der eigenen Wählerschaft des FN im Besonderen, durchaus nicht populär.

Im zweiten Golfkrieg von 1991 unterstützte eine Mehrheit von rund 70 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen, jedenfalls nach Beginn der kriegerischen Handlungen, die militärischen Operationen. Angesichts der Beteiligung ihres eigenen Landes schlossen sie mehrheitlich, nachdem die Kampfhandlungen einmal ausgebrochen waren, die Reihen hinter dem damaligen Präsidenten François Mitterrand. Und selbst unter den Wählern und Wählerinnen von Jean-Marie Le Pen meinten laut einer Umfrage nur 48 Prozent, die aktuellen Positionen des FN-Politikers nutzten „dem nationalen Interesse“.

Etwas verändert lagen die Dinge im dritten Golfkrieg von 2003: Dieses Mal lehnte eine Dreiviertelmehrheit der französischen Bevölkerung den erneuten Einsatz militärischer Gewalt gegen den Golfstaat ab, und Frankreich war nicht an den militärischen Handlungen im Mittleren Osten beteiligt. Doch auch die Positionen Le Pens, der (anders als die anderen politischen Kräfte in Frankreich, die zum überwiegenden Teil ebenfalls das kriegerische Projekt der US-Administration ablehnten) explizit die irakische Diktatur unterstützt hatte, blieben unpopulär. Und das vor allem in den Reihen seines eigenen Publikums. Denn die FN-Wählerschaft unterstützte mehrheitlich den Krieg George W. Bushs, deutlich stärker als andere Teile des französischen Publikums. Sei es, dass gerade diese Wählerschaft eine prinzipielle Nähe zur Faszination gegenüber militärischer Gewalt aufweist, oder sei es, dass ihr antiarabischer Rassismus dabei eine erhebliche Rolle spielte. Nach Kriegsausbruch im März 2003 stieg der Anteil der Befürworter unter den FN-SympathisantInnen und WählerInnen auf 53 Prozent, während generell in Frankreich die Ablehnung dominierte und Werte um die 80 Prozent erreichte.

Insofern lässt sich festhalten, dass Populismus (vor allem in dem banalen Sinne, den die Alltagssprache ihm verleiht, im Sinne von „dem Volk nach dem Munde reden“) den Front National jedenfalls nicht hinreichend charakterisiert.


Faschistisch?


Nun ist die Frage aufzuwerfen, ob eine andere Bezeichnung die Partei der extremen Rechten treffender beschreibt. Insbesondere wäre die Frage aufzuwerfen, ob der Begriff des Faschismus oder Neofaschismus sich auf eine Partei wie den FN anwenden lässt. Das setzt zunächst einmal voraus, dass der Begriff nicht (wie mitunter im politischen Schlagabtausch üblich) als bloße Schimpfvokabel ohne analytischen Hintergrund benutzt wird, unter die sich alle erdenklichen politischen Phänomene fassen lassen.

Das besondere Charaktermerkmal des historischen Faschismus respektive seiner Vorläuferbewegungen war es, Elemente aus der bisherigen politischen Linken und den Bewegungen sozialen Fortschritts herausgebrochen und für eine (in ihrem Kern autoritäre, hierarchische und insofern reaktionäre) Gegenbewegung erfolgreich eingebaut zu haben. Von der Form her modern, konnte diese auf soziale Massenbewegung und -mobilisierung setzen, zugleich aber antidemokratische Parteiformen oder Regime errichten. Diese Janusköpfigkeit erlaubte es ihnen, gleichzeitig als Kampfpartei und als Partei der Ordnung, als Schützer der Besitzenden und Rächer der Verarmten aufzutreten und so ein Bündnis von Anhängern aus unterschiedlichen, ja eigentlich einander feindlich gegenüberstehenden Klassen zu schweißen.

Wichtige Merkmale, die es erlauben würden, mit einiger Berechtigung von (Neo- oder modernisiertem) Faschismus zu sprechen, fehlen dem FN derzeit. Dennoch sind sie im Kern, sozusagen in der Keimzelle, angelegt.

Zwar versuchte die Organisation in den 1990er Jahren, sich verstärkt im gesellschaftlichen Leben als eine Art „sozialer Bewegung“ zu verankern und nicht nur an Wahltagen auf dem Stimmzettel präsent zu sein, etwa mit der Gründung eigener „Gewerkschaften“. Solche Ableger des FN entstanden erstmals 1995, doch ein Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs (Kassationshofs) im April 1998 verbot ihnen, sich selbst als Gewerkschaften zu bezeichnen. Die Partei bemühte sich um außerinstitutionelle Aktivitäten, mit deren Hilfe die soziale Unzufriedenheit kanalisiert und mobilisiert werden könnte. Insofern konnte man sie als wirkliche Keimzelle einer faschistischen Bewegung bezeichnen, auch wenn gerade der „Bewegungs“charakter (angesichts der vergleichsweise geringen Mitgliederzahlen in den rechtsextremen Pseudo-Gewerkschaften oder Arbeitslosenfronten, verglichen mit „echten“ sozialen Organisationen) noch keineswegs ausgereift war. An eine Kontrolle der Straße, oder der Betriebe, durch eine rechte und autoritäre Massenbewegung, die es erlauben würde, von „marschierendem Faschismus“ zu sprechen, war damals wie heute jedoch nicht zu denken. Aber die Zustimmung auf der Ebene von Wahlen, gekoppelt an diese ersten Ansätze einer Bewegung außerhalb bürgerlicher Institutionen, hatte erstmals in den 1990er Jahren ein bedenkliches Niveau erreicht. Bislang dominiert allerdings die Ausrichtung auf Wahlen und auf Stimmerfolge die Strategie des FN, auch im Hinblick auf die 2017 anstehenden Wahlen in Frankreich.


Aktuelle Situation


Bis kurz vor dem Jahresende 2016 sah es zunächst scheinbar eindeutig so aus, als werde die konservativ-wirtschaftsliberale Rechte in Frankreich wohl die kommende Präsidentschaftswahl am 23. April und 07. Mai 2017 gewinnen – und der rechtsextreme Front National (FN) werde zugleich ins Hintertreffen geraten, da er seiner Wahlchancen durch die neu aufstrebende bürgerliche Rechte beraubt werde. Die Teilnahme von rund 4,3 Millionen Personen an den Vorwahlen im bürgerlich-konservativen Lager vom 20. und 27. November 2016 sorgte dafür, dass deren wichtigste Partei, Les Républicains (LR), ihre Basis in hohem Maße mobilisieren konnte. In den Umfragen schnellten die Beliebtheitswerte des am 27. November auf diese Weise designierten konservativen Präsidentschaftskandidaten, Ex-Premierminister François Fillon, daraufhin nach oben.

Doch nun erscheint dessen so sicher geglaubte Erfolgsgrundlage zum Jahreswechsel 2016/17 doch fragiler und instabiler, als es zunächst den Anschein hatte. Einer Umfrage, deren Ergebnisse am 18. Dezember 2016 in der Sonntagszeitung (JDD) publiziert wurden, zufolge „wünschen“ demnach nur 28 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen einen Sieg François Fillons. Ihm waren zuvor durch Umfrageinstitute in der „Sonntagsumfrage“ regelmäßig rund 35 Prozent der Stimmen prognostiziert worden. Doch würden ihn nur 28 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung wählen, läge er damit auf gleicher Höhe mit dem Stimmenanteil, den dieselben Institute der FN-Chefin Marine Le Pen vorhersagen. Allerdings nutzt der Rückgang der Beliebtheitswerte François Fillons keineswegs nur Marine Le Pen. Vielmehr erhält dadurch auch ein weiterer Konkurrent Auftrieb wie der parteilose frühere Wirtschaftsminister François Hollandes, Emmanuel Macron, welcher mit einem Profil als ehemals erfolgreicher Geschäftsbanker und „idealer Schwiegersohn“, doch ohne gefestigte Organisation, in den (Vor-)Wahlkampf zieht.

Was unter anderem der rechtsextremen Politikerin Marine Le Pen – doch nicht nur ihr – nutzt und dem konservativen Bewerber schadet, sind die wirtschaftspolitischen Positionierungen des konservativen Spitzenmanns und die Debatte darum. In dieser Auseinandersetzung ist es Marine Le Pen gelungen, sich mit einigen Positionierungen öffentlich zu profilieren, die von Seiten des FN (trotz einer seit den frühen 1990er Jahren dick aufgetragenen sozialen Demagogie) eher ungewohnt erscheinen. Dazu zählt insbesondere der durchschaubare, doch jedenfalls im Hinblick auf die Aufmerksamkeit der Medien erfolgreiche Versuch, sich zum Verteidiger des Widerstandserbes in Frankreich aufzuschwingen.

Fillon tat sich unter anderem dadurch hervor, dass er die Bilanz der vormaligen britischen Regierungschefin Margaret Thatcher zu seinem Vorbild erklärte (was in Frankreich jedenfalls bislang ausgesprochen unpopulär war) und in seinem Vorwahlprogramm eine faktische Privatisierung der Krankenversicherung propagierte. Die gesetzliche Krankenversicherung oder Sécurité sociale, tönte Fillon, solle künftig ausschließlich auf die Feststellung von Krankheiten sowie die Therapie von Langzeiterkrankungen wie Krebs oder Alzheimer beschränkt werden. Den Rest sollten private Krankenversicherungen übernehmen. Bislang verfügen fünf Millionen abhängig Beschäftigte in Frankreich über keine private Zusatzversicherung, überwiegend aus finanziellen Gründen, und Experten errechneten, ihre Kosten würden sich bei einer Anwendung von Fillons Programm verdoppeln.

Fillons Sieg in der zweiten Runde der Vorwahl – der Stichwahl vom 27. November 2016– ließ die Bedenken diesbezüglich in der Öffentlichkeit laut werden. Doch François Fillon wartete danach noch geschlagene drei Wochen, zur Verzweiflung mancher seiner Berater, bis er dann doch noch verbal ein bisschen zurückruderte. Am 14. Dezember 2016 absolvierte Fillon einen Besuch in einem Krankenhaus – der Klinik Marie-Lannelongue im südlich von Paris gelegenen Vorort Plessis-Robinson – und nutzte diesen Anlass, um zu erklären, nein, es stimme nicht, er wolle die Krankenversicherung gar nicht privatisieren (oder zerschlagen). Allerdings dementierte er mit keinem Wort, er wolle Einsparungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung vornehmen.

Doch die Sécurité sociale in Frankeich, die 1945 geschaffen wurde, ist ein direktes Ergebnis des berühmten „Programms des Conseil national de la résistance (CNR)“, des Nationalen Widerstandsrats, in dem unter anderem Gaullisten und Kommunisten im Kampf gegen die Besatzung durch Nazideutschland zusammengefasst waren und der Grundlinien für die künftige Gesellschaft nach der Befreiung entworfen hatte.

Marine Le Pen ließ die Gelegenheit nicht verstreichen, ihrerseits die Französinnen und Franzosen dazu aufzurufen, das Erbe des Conseil national de la résistance zu verteidigen. Auch wenn die Ursprünge ihrer Partei in Wirklichkeit weit eher in der Kollaboration mit Nazideutschland als bei der Résistance liegen. So zählten ehemalige Kollaborateure zu den Führungsmitgliedern des FN in den ersten Jahren nach seiner Gründung (1972). Ein gewisser Pierre Gérard, Generalsekretär der Partei in den Jahren 1980/81, war etwa unter der Besatzung „stellvertretender Direktor für wirtschaftliche Arisierung“ des Vichy-Regimes und Mitarbeiter von dessen „Generalkommissar für Judenfragen“, Louis Darquier de Pellepoix.

Parallel dazu behauptete Marine Le Pen am 11. Dezember 2016 in einer Fernsehsendung, François Fillon verteidige private Sonderinteressen, etwa die von Versicherungskonzernen – sein führender Berater Henri de Castries leitete früher den Versicherer AXA –, sie selbst dagegen sei „die Verteidigerin des Allgemeininteresses, des nationalen Interesses, des übergeordneten Interesses“.

Kritik an Fillons wirtschaftspolitischen Plänen kam natürlich auch von anderer und insbesondere von linker Seite, aber Marine Le Pen schaffte es so aussehen zu lassen, als schreie sie als eine der Ersten und am lautesten. Dies sollte niemanden vergessen lassen, dass ihre Partei selbst in den 1980er Jahren lauthals die Zerschlagung der gesetzlichen Sozialversicherung propagierte. Diese Position hat sie heute verworfen, allerdings zählt der Kampf gegen einen angeblichen „massiven Sozialbetrug“ zur Programmatik Marine Le Pens.

Auch ihre eigene Partei kam jedoch zugleich in die Kritik, und die öffentliche Meinung wurde dabei an den fundamentalen Rassismus ihrer Partei erinnert. Ein FN ohne den gegen Einwanderer gerichteten Rassismus, der den Kern seiner „Geschäftsgrundlage“ und ein konstitutives Element bildet, wäre tatsächlich nicht vorstellbar.

      
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Am 08. Dezember 2016 schlug Marine Le Pen, die an dem Tag als Präsidentschaftskandidatin beim Meinungsforschungsinstitut BVA angehört wurde und Fragen beantwortete, einen Ausschluss „ausländischer Kinder“ vom kostenlosen und obligatorischen Schulbesuch im öffentlichen Bildungswesen vor. „Ich habe nichts gegen Ausländer“, führte die FN-Chefin dabei aus – ihr Satz fing tatsächlich wie eine x-beliebige Satire an –, aber, so fügte sie hinzu, „aber ich sage zu ihnen: Wenn Ihr in unser Land kommt, dann erwartet nicht, dass Ihr versorgt werdet, dass Ihr ärztlich behandelt oder dass Eure Kinder kostenlos unterrichtet werden, damit ist jetzt Schluss, die Schönwetterperiode ist zu Ende.“

Die entscheidende Trennlinie zwischen François Fillon und Marine Le Pen, die am 23. April 2017 wohl alle beide unter den zwei, jedenfalls unter den drei bestplatzierten Präsidentschaftsbewerbern liegen dürften, verläuft derzeit auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Auf anderen Feldern dagegen ist der konservativ-wirtschaftsliberale Bürgerblock rund um die (LR) selbst weit nach rechts gerückt und macht so dem FN ideologisches Terrain streitig. Das gilt etwa für den Kampf gegen Abtreibung, da Fillon selbst als deren Gegner in Erscheinung trat, und ähnlich beim Thema Homosexuellen-Ehe.

Zugleich tobt derzeit innerhalb des FN selbst derzeit ein heftiger Kampf um die Linie beim Thema Schwangerschaftsabbrüche. Dabei stehen sich als Antagonisten die katholisch-reaktionäre junge Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen einerseits und der eher „nationalrepublikanisch“ auftretende Vizechef der Partei, Florian Philippot, andererseits gegenüber. Nachdem Philippot am 07. Dezember 2016 äußerte, Maréchal-Le Pen stehe mit ihrer scharfen Anti-Abtreibungs-Position angeblich „allein und isoliert“ da, entbrannte eine heftige Debatte, und viele Parteimitglieder oder –funktionäre riefen in den sozialen Netzwerken zur Solidarität mit der 27jährigen auf.

Im Kontext der aus Sicht des FN nach wie vor weitestgehend ungeklärten Bündnisfrage werden sich diese Fragen nach strategischer Orientierung auch weiterhin stellen.

Anmerkung der Redaktion: Die Langfassung dieses Artikels findet ihr auf unserer Website: http://intersoz.org



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2017 (Januar/Februar 2017). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] mit seinem Buchtitel La préférence nationale: réponse à l’immigration (Die nationale Bevorzugung: Antwort auf die Einwanderung). Jean-Yves Le Gallou war damals einer der Köpfe des rechtsintellektuellen und elitären Club de l’Horloge und Führungsmitglied einer der Komponenten im christdemokratisch-liberalen Parteienbündnis UDF, das inzwischen auf die derzeit bestehenden Parteien UDI und Modem aufgesplittet ist. Im Herbst 1985 trat Le Gallou zum Front National über. Ihn verließ er im Zuge der Abspaltung unter Bruno Mégret, zum Jahreswechsel 1998/99; in der Folgezeit wurde Le Gallou zur „Nummer Zwei“ in der bis 2008 von Mégret angeführten neuen Partei, dem MNR (Mouvement National Républicain. Die anhaltende Erfolglosigkeit des Spaltprodukts MNR veranlasste ihn drei Jahre später, alle innerparteilichen Ämter niederzulegen. Seit einigen Jahren ist Le Gallou nunmehr Vorsitzender einer Stiftung unter dem Namen Polemia, die sich die ideenmäßige Erneuerung im Rechtsaußenspektrum zum Ziel gesetzt hat.

[2] Interview in der damaligen, bis 2008 bestehenden Partei-Wochenzeitung National Hebdo (NH) vom 10. April 1997 aus Anlass des 10. Parteitags des FN in Strasbourg