Der folgende Beitrag ist der erste von drei Teilen eines Artikels über die Zerschlagung des gemeinschaftlichen Besitzes durch den aufkommenden Kapitalismus und die Instrumentalisierung der Schuldenkrise zur Intensivierung der neoliberalen Politik, die eben die Zerstörung des Gemeinwesens zum Ziel hat.
Eric Toussaint
Seit dem Aufkommen des Kapitalismus wurden die Gemeingüter von der Kapitalistenklasse systematisch in Frage gestellt und der Kommerzialisierung und privaten Aneignung unterworfen. Als die Kapitalisten vor mehreren Jahrhunderten begannen, in Europa in die Fabriken zu investieren, verfolgten sie u. a. das Ziel, möglichst vielen Kleinbauern, die den weitaus größten Teil der Bevölkerung ausmachten, ihre elementaren Subsistenzmittel zu entziehen, um sie zu zwingen, in die Städte zu ziehen und dort für einen Hungerlohn in den Fabriken der Kapitalisten zu arbeiten. In den Ländern anderer Kontinente, die von den europäischen Mächten erobert worden waren, ging es ihnen u. a. darum, der einheimischen Bevölkerung ihr Land, ihre Rohstoffe und damit auch ihre lebenswichtigen Ressourcen zu rauben, Siedlungen zu errichten und die Bevölkerung der Zwangsarbeit zu unterwerfen.
Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert erlebten die verschiedenen Länder, deren Wirtschaft zunehmend vom kapitalistischen System beherrscht wurde, einen gewaltigen Zerstörungsprozess der Gemeingüter.
Autoren wie Karl Marx (1818-1883) in Das Kapital. Band I [1], Rosa Luxemburg (1871-1919) in ihrem Buch Die Akkumulation des Kapitals [2], Karl Polanyi (1886-1964) in The Great Transformation [3] und Silvia Federici (1942) in Caliban und die Hexe [4] haben dies eindrücklich dargelegt. Raoul Pecks ausgezeichneter Film über den jungen Karl Marx [5] zeigt am Anfang sehr eindringliche Bilder von der Zerstörung des gemeinschaftlichen Eigentums am Beispiel der brutalen Unterdrückung der Armen, die in den rheinischen Wäldern Totholz sammelten. Karl Marx stellte sich damals auf die Seite der Opfer, die gerichtlich verfolgt wurden, weil sie ein uraltes kollektives Recht ausübten, das aber der kapitalistischen Logik widersprach. Daniel Bensaïd hat diesem Thema ein kleines Buch gewidmet, Die Enteigneten: Karl Marx, die Holzdiebe und das Recht der Armen [6], in dem er den kontinuierlichen Zerstörungsprozess des Gemeinschaftsbesitzes aufzeigt.
Im Kapital fasst Karl Marx zusammen, wie das kapitalistische System in Europa in verschiedenen Formen durchgesetzt wurde: „Der Raub der Kirchengüter, die fraudulente Veräußerung der Staatsdomänen, der Diebstahl des Gemeindeeigentums, die usurpatorische und mit rücksichtslosem Terrorismus vollzogne Verwandlung von feudalem und Claneigentum in modernes Privateigentum, es waren ebenso viele idyllische Methoden der ursprünglichen Akkumulation. Sie eroberten das Feld für die kapitalistische Agrikultur, einverleibten den Grund und Boden dem Kapital und schufen der städtischen Industrie die nötige Zufuhr von vogelfreiem Proletariat.“ [7]
Während sich der Kapitalismus in Europa zunehmend als herrschende Produktionsweise durchsetzte, dehnte er zugleich seine Herrschaft auf den Rest des Planeten aus: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära.“ [8]
Marx fasst die vier Jahrhunderte vor der Durchsetzung der industriellen Revolution zur Zeit der Abfassung des Kapitals sehr prägnant zusammen: „Die verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun, mehr oder minder in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen.“ [9]
Seit damals hat der Kapitalismus seine Offensive gegen die Gemeingüter aus zwei Gründen fortgesetzt: Erstens sind sie noch nicht völlig verschwunden und limitieren daher die totale Herrschaft des Kapitals, die sie sich demnach aneignen oder auf das absolute Minimum reduzieren will. Zweitens konnten im 19. und 20. Jahrhundert durch soziale Kämpfe wieder bestimmte Bereiche in gemeinschaftliches Eigentum überführt werden. Diese Errungenschaften stehen jedoch unter ständigem Beschuss.
Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schuf die Arbeiterbewegung wieder gemeineigene Strukturen in Form von Solidarsystemen: Genossenschaften wurden gegründet und Streikkassen und Solidaritätsfonds eingerichtet. Der Sieg der russischen Revolution führte für eine kurze Zeit auch zur Wiederherstellung des Gemeinwesens, bevor die stalinistische Degeneration die Diktatur und dreiste Privilegien zugunsten der bürokratischen Kaste durchsetzte, wie Leo Trotzki 1936 in Verratene Revolution [10] so treffend beschrieben hat.
In gewisser Weise – um auf die kapitalistischen Länder zurückzukommen – führten die politischen und sozialen Kämpfe im 20. Jahrhundert (zu unterschiedlichen Zeiten von Land zu Land) zur Entwicklung des sog. Wohlfahrtsstaates, als die kapitalistischen Regierungen begriffen, dass der Arbeiterbewegung Zugeständnisse gemacht werden mussten, um den sozialen Frieden zu wahren und mitunter auch, um das Wiederaufflammen revolutionärer Kämpfe zu vermeiden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, von Ende der 1940er bis Ende der 1970er Jahre, führte die Welle der Entkolonialisierung, vor allem in Afrika, im Nahen Osten und in Asien, zusammen mit den siegreichen Revolutionen wie in China (1949) und Kuba (1959), zur Entstehung von Gemeineigentumsstrukturen, insbesondere durch die Welle der Verstaatlichung bestimmter Infrastrukturen (z. B. in den Vereinigten Staaten). Neben den Siegen von Revolutionen wie in China (1949) und Kuba (1959) führte dies zur Umwidmung bestimmter Gemeinschaftsgüter, insbesondere durch die Verstaatlichungswelle bestimmter Infrastrukturen (Suezkanal 1956 unter Nasser) und Rohstoffquellen (Kupfer unter Allende Anfang der 1970er Jahre) und fossiler Energiequellen (Algerien, Libyen, Irak, Iran etc.)
Diese Wiederaufwertung des Gemeineigentums schlug sich in einer Reihe von Dokumenten der Vereinten Nationen nieder, von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 bis zur Erklärung des Rechts auf Entwicklung 1986. Dort heißt es in Artikel 1, Absatz 1: „Das Menschenrecht auf Entwicklung bedingt auch die volle Verwirklichung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, wozu […] auch die Ausübung ihres unveräußerlichen Rechts auf uneingeschränkte Souveränität über alle ihre natürlichen Reichtümer und Ressourcen gehört.“ [11] Dieses unveräußerliche Recht der Völker „auf uneingeschränkte Souveränität über alle ihre natürlichen Reichtümer und Ressourcen“ wird seitens solcher Institutionen wie der Weltbank oder des IWF und von den meisten Regierungen beständig infrage gestellt – und zwar im Interesse der privaten Großkonzerne.
Im Rahmen dieses Artikels wird auf eine systematische Darstellung der Gemeingüter verzichtet und stattdessen der Begriff in einem sehr weiten, allgemeinen Sinne verwendet. Das reicht vom kollektiven Eigentum an Grund und Boden, das in verschiedenen Formen die gesamte Menschheitsgeschichte bis heute geprägt hat, bis hin zu neueren Formen des Gemeineigentums. Dazu gehören zum Beispiel die öffentlichen Dienstleistungen, die soziale Errungenschaften sind, die in einen rechtlichen Rahmen gefasst und durch Steuern finanziert werden und hauptsächlich auf die Arbeiterkämpfe des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Zu den Gemeingütern gehören auch die Errungenschaften, die in Eigeninitiative der Arbeiterbewegung seit Beginn des Kapitalismus entstanden sind, wie Solidaritätsfonds, Streikkassen, Genossenschaften, Genossenschaftsbanken und natürlich in jüngerer Zeit das Lohn- und Sozialversicherungssystem, das von der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert durchgesetzt wurde […]. Innerhalb dieses Gemeineigentums sind Marktbeziehungen entweder ausgeschlossen oder auf ein Minimum reduziert.
In Anlehnung an eine Passage aus dem Buch von Jean-Marie Harribey: La richesse, la valeur et l‘inestimable (Reichtum, Wert und Unschätzbares) kann man sagen, dass vor dem Hintergrund einer immer schwerwiegenderen ökologischen Krise das wiedererwachte Interesse am „Begriff des Gemeinwesens aus dem Bewusstsein erwachsen ist, dass es ein gemeinsames Erbe der Menschheit gibt und damit bestimmte materielle Güter (Wasser, Luft, Boden, Wälder, Rohstoffe) und auch immaterielle Güter (Klima, Wissen, Kultur, Gesundheit, finanzielle Stabilität, Frieden etc.) bewahrt werden müssen.“ [12]
Auch die soziale Reproduktionstätigkeit zählt zu diesen Gemeingütern, wie die Frauenbewegung nicht müde wird, zu betonen. Wie Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser in ihrem Manifest Feminismus für die 99 % schreiben, beherbergt der Kapitalismus „einen Widerspruch, der die gesellschaftliche Reproduktion betrifft: eine Tendenz, im Interesse des Kapitals so viel ‚kostenlose‘ Reproduktionsarbeit wie möglich zu kommandieren, ohne jedwede Sorge um die Wiederherstellung des dadurch verbrauchten Arbeitsvermögens. Das Ergebnis: Der Kapitalismus führt regelmäßig zu ‚Sorgekrisen‘, die Frauen erschöpfen, Familien zerrütten und die Kräfte der Gesellschaft bis zur Grenze der Belastbarkeit beanspruchen.“ [13]
Die Verfasserinnen definieren gesellschaftliche Reproduktion so: Sie „umfasst Tätigkeiten, die Menschen als verkörperte, gesellschaftliche Wesen erhält: als Wesen, die nicht nur essen und schlafen, sondern auch ihre Kinder aufziehen, für ihre Familien sorgen und ihre Gemeinschaften pflegen müssen, all das, während sie zugleich ihre Hoffnungen für die Zukunft zu verwirklichen suchen.
Diese Tätigkeiten des Menschenmachens sind in der einen oder anderen Form in jeder Gesellschaft anzutreffen. In kapitalistischen Gesellschaften haben sie jedoch noch einem anderen Herrn zu dienen: dem Kapital, das von der gesellschaftlich-reproduktiven Arbeit die Produktion und Erneuerung von Arbeitskraft fordert.“ [14]
Die Autorinnen verweisen auf die sozialen Zusammenhänge, die durch die aktuelle multidimensionale Krise des Kapitalismus und die Corona-Pandemie nochmals unterstrichen werden: Im Kapitalismus „wird angenommen, dass es immer ausreichend Kraft geben wird, um Arbeiter zu produzieren und die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erhalten, auf denen die wirtschaftliche Produktion und sogar die Gesellschaft im Allgemeinen beruhen. Tatsächlich sind die für gesellschaftliche Reproduktion zur Verfügung stehende Kapazitäten nicht unbegrenzt und können über die Belastbarkeitsgrenze beansprucht werden.“ [15]
Was die Autorinnen hier kritisieren, erlaubt ein besseres Verständnis, warum die kapitalistische Gesellschaft so anfällig auf das Coronavirus reagiert und die Regierungen außerstande sind, rechtzeitige Vorkehrungen zum besseren Schutz der Bevölkerung gegenüber der Pandemie zu treffen, und warum sie stattdessen die sog. „systemrelevanten“ Sektoren unter Druck setzen, ihren Mitmenschen beizustehen, während just die dort Beschäftigten infolge von Beschlüssen eben dieser Regierungen unterbezahlt, geringgeschätzt und personell ausgeblutet werden. Das Gleiche gilt für die Nachlässigkeit der Regierungen gegenüber den Folgen des Klimawandels und für die mangelnde Ausstattung und personelle Besetzung des Katastrophenschutzes angesichts der sich häufenden „Naturkatastrophen“.
Seit den 1970er und 1980er Jahren wird die Staatsverschuldung systematisch dafür genutzt, die Gemeingüter sowohl im globalen Norden als auch im Süden zunehmend unter Beschuss zu nehmen. Genau dies prangern die CADTM und andere Bewegungen, die sich gegen unrechtmäßige Schulden wenden, seit den 1980er Jahren an. Ich habe diesem Thema ein Dutzend Bücher [16] und Hunderte von Artikeln gewidmet. Es ist sehr ermutigend, dass immer mehr Autor*innen ebenfalls die Instrumentalisierung der Schulden zum Angriff auf Gemeingüter und öffentliche Dienstleistungen unterstreichen.
Lassen wir noch einmal in diesem Zusammenhang die Autorinnen des Feminismus für die 99 % zu Worte kommen: „Weit davon entfernt, Staaten zu befähigen, die gesellschaftliche Reproduktion durch öffentliche Zuwendungen zu stabilisieren, autorisiert er das Finanzkapital, Staaten und Bevölkerungen zu disziplinieren, im unmittelbaren Interesse der Privatinvestoren, Schulden sind seine Waffe der Wahl. Das Finanzkapital lebt von der öffentlichen Verschuldung, die es einsetzt, um selbst noch die mildeste Form sozialdemokratischer Fürsorge zu verbieten. Es zwingt Staaten, ihre Wirtschaften zu liberalisieren, ihre Märkte zu öffnen und schutzlosen Bevölkerungen ‚Austerität‘ aufzuoktroyieren.“ [17]
Im Zuge der weltweiten neoliberalen Offensive seit den 1980er Jahren nutzten die Regierungen und verschiedene internationale Organisationen wie die Weltbank und der IWF die Staatsverschuldung, um eine Welle von Privatisierungen strategischer Unternehmen, öffentlicher Dienstleistungen und natürlicher Ressourcen sowohl im globalen Norden als auch im Süden zu loszutreten. Damit wurde, wie bereits erwähnt, ein Trend umgekehrt, der die Entwicklung der vorangegangenen Jahrzehnte geprägt hatte, in denen es unter dem Druck von unten zu einer Aufwertung des Gemeinwesens gekommen war.
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Im Namen der Schuldentilgung wurden zahlreiche Angriffe auf das Gemeinwohl gerechtfertigt. Einige davon haben die ökologische Krise und die Entwicklung von Zoonosen beschleunigt: zunehmende Entwaldung, Massentierhaltung und Monokulturen, um Deviseneinnahmen zur Rückzahlung der Staatsschulden im Ausland zu erzielen. All dies geschieht unter Befolgung der vom IWF und der Weltbank empfohlenen Strukturanpassungspolitik.
Einige dieser Maßnahmen der „Devisenbeschaffung“ haben auch direkte Auswirkungen auf die Fähigkeit der Staaten und der Bevölkerung, der Corona-Pandemie und anderen Gesundheitskrisen zu widerstehen: Stagnation oder Kürzung der öffentlichen Gesundheitsausgaben, Durchsetzung von Patenten auf Medikamente und Behandlungen, Verzicht auf die Herstellung von Generika, Aufgabe der lokalen Produktion von medizinischen Ausrüstungsgütern, Förderung der Privatisierung im Gesundheitswesen, Abschaffung des freien Zugangs zur Gesundheitsversorgung in zahlreichen Ländern, prekäre Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen, Entwicklung öffentlich-privater Partnerschaften etc.
Marx hatte dies bereits vor über 150 Jahren trefflich formuliert: „Die Staatsschuld, d. h. die Veräußerung des Staats ‒ ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch ‒ drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf.“ [18] Wenn man die Instrumentalisierung der Staatsverschuldung zur Legitimierung der neoliberalen Politik ins Auge fasst, gelangt man unweigerlich zur Schlussfolgerung, dass die ungerechtfertigten Schulden annulliert werden müssen.
Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz