Covid-19-Pandemie

Natur, Staat und Leben

Warum haben Linke so Mühe, die Pandemie zu verstehen?

Christian Zeller

Zum Jahreswechsel blicken wir auf zwei Jahre Pandemie zurück. Zu Beginn der Pandemie im März 2020 argumentierten Verena Kreilinger und ich in unserem ersten Diskussionsbeitrag [1], „dass die Coronakrise ein historisches Ausmaß globaler Reichweite annehmen wird. Die Gewissheiten, die unsere Gesellschaften seit 1945 kennen, werden der Vergangenheit angehören. Die anrollende Wirtschaftskrise wird brutale Verteilungskämpfe mit sich bringen und große geopolitische Verschiebungen begünstigen. Die Gesundheitskrise und die Wirtschaftskrise entwickeln sich im Kontext der sich rasch verschärfenden globalen Klimakrise. Das Zusammentreffen dieser Krisenprozesse wird zu überraschenden Brüchen, Einschnitten und Zusammenbrüchen führen und zugleich solidarische Verhaltensweisen hervorrufen und neue Widerstandspotentiale ermöglichen.“ Wir stellten aber auch fest, dass „diese Krise auf politisch und organisatorisch komplett unvorbereitete emanzipatorische Bewegungen [trifft]. Noch bis Mitte März haben viele kritische Zeitgenoss*innen die Corona-Krise ignoriert, verharmlost, sich lustig über besorgte Menschen gemacht und haben die Maßnahmen der Regierungen nur unter dem Blickwinkel individueller Freiheitsrechte betrachtet. Das sind unverzeihliche Fehler.“

Die zwei Jahre Pandemie haben in der Tat tiefe Spuren in die Wege gefahren und etliche linke Zusammenhänge auseinandergerissen. Dem Zynismus der Regierungen, die von Anfang an viele Tote eingeplant haben, setzten linke Organisationen und Gewerkschaften bis heute eigentlich nur ihre Ratlosigkeit entgegen. Schlimmer: Nicht wenige kritische Intellektuelle kritisieren die Regierungen nicht wegen ihrer ungenügenden Maßnahmen gegen das Sterben, sondern werfen den Regierungen vor, die Pandemie zu übertreiben. Sie befinden sich damit auf derselben Seite wie jene Vertreter*innen des Kapitals, die möglichst wenig Einschränkungen wollen.


Ein Virus als Vorwand zur Durchsetzung eines autoritären Regimes?


Die Verharmlosung der Pandemie bediente sich unangemessener und absurder Vergleiche. Verkehrstote, Tabaktote, Malariatote, Klimatote mussten auch in linken Zeitungen dafür herhalten, die an Covid-19 verstorbenen Menschen zur relativieren. [2] Waren diese Vergleiche von Anfang an absurd, weil sie die exponentielle Ausbreitung des Virus nicht berücksichtigten, so zeigt sich nach zwei Jahren Pandemie mit weltweit gemäß offiziellen Angaben 5,4 Millionen Toten der ganze Irrsinn solcher Vergleiche. Eine Auswertung nationaler Übersterblichkeitsstatistiken lässt Schätzungen des Economist, wonach die Pandemie bereits zwischen 11,6 und 21,6 Millionen Tote gefordert hat, realistischer erscheinen als die offiziellen Angaben.

Bereits früh haben Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy die Pandemie als Propaganda-Produkt der Regierungen im Dienste eines neuen informationsbasierten biotechnisch-pharmazeutischen Komplexes abgetan. [3] Hofbauer wiederholte diese Einschätzung oft und betrieb systematisch den politischen Schulterschluss mit tendenziell reaktionären Kreisen. Der kritische Staatstheoretiker Joachim Hirsch will in der Pandemiepolitik der Regierungen primär ein autoritäres Projekt erkennen. [4] Alex Demirovic, Fellow des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, plädierte für eine Güterabwägung zwischen einschränkenden Maßnahmen und den durch diese verursachten Kollateralschäden. [5] Wie sich lineare und exponentielle, physische und psychische, materielle und immaterielle gleichnamig machen und vergleichen lassen, blieb er allerdings schuldig. Thomas Rudhof-Seibert mochte die „Einschränkung der freien Bewegung“ und die „Einschränkung der freien Begegnung“ zur Verteidigung des „bloßen Lebens“ nicht akzeptieren, dafür aber den Tod vieler Menschen. [6] Die gerne mit marxistischen Begriffen argumentierende Feministin Tové Soiland [7] übernahm direkt die reaktionäre Position der Great Barrington Declaration [8], die forderte, man müsse die vulnerablen Gruppen der Bevölkerung schützen und ansonsten die Ansteckungen bis zur Herdenimmunisierung durchrauschen lassen. Hätten sich die Regierungen auf diese verrückte Vorstellung eingelassen, hätten wir alleine in Europa Millionen von Toten mehr. Soiland verstieg sich zur Behauptung die Lockdowns dienten dazu, einem neuen Reproduktionsregime zum Durchbruch zu verhelfen.

Derart dumme Interpretationen können wohl nur entstehen, wenn man einerseits meint, die eigene „Staatstheorie“, „Demokratietheorie“ „feministische Ökonomie“ oder gar „Weltsystemtheorie“ sei relevanter als die Gesetze der Evolution. Den Vertreter*innen dieser Vorstellungen ging die Empathie für die Erkrankten und die Arbeiter*innen im Gesundheitswesen sowie überhaupt die Wahrnehmung für das Leid in unseren Krankenhäusern und die Auslöschung unzähliger Menschen in den armen Ländern abhanden. Diese Autor*innen blenden das Leid und die Millionen von Toten entweder aus oder nehmen diese gewissermaßen als naturgegeben hin. Die Verteidigung der angeblich bedrohten bürgerlichen Demokratie und individuellen „freien Bewegung“ wiegt ihnen schwerer.

Daher erstaunt es nicht, dass bekannte „Linkskonservative“, „Linksliberale“ und sogar „Sozialist*innen“ sowie etliche linke Gruppierungen sich wiederholt gegen Maßnahmen aussprachen, die dazu beitragen, die Infektionen zu reduzieren. Anstatt den Regierungen, die sich primär um die Aufrechterhaltung der Kapitalzirkulation und Mehrwertproduktion sorgten, entgegenzutreten, argumentierten diese Kreise zumeist mit einem abstrakten und individualistischen Freiheitsverständnis.


Krankenhäuser zur Pandemiebekämpfung


Nicht wenige Linke beschränken sich darauf, den Ausbau der Gesundheitsversorgung und die Aufhebung der Impfstoffpatente zu fordern. „Wir kamen zu der Ansicht, und sind es bis heute, dass ein gut ausgebautes Gesundheitssystem einen Lockdown nicht nötig hätte werden lassen.“ Mit dieser Aussage leugnet Tové Soiland, dass auch Menschen bei bester Pflege und Behandlung an Covid19 sterben „Es ist nicht das Virus, sondern der permanente Pflegenotstand, der tötet.“ [9] Wer so argumentiert, schließt sich grundsätzlich der Politik der Regierungen an, die Krankenhausbelastungen als Kriterium zur Ergreifung von Maßnahmen herbeiziehen. Der Unterschied besteht nur darin, dass diese Kritiker*innen, ebenso wie die Reaktionäre der Corona-Verharmloser*innen, die Zahl der akzeptabel erkrankenden Menschen zynischer Weise noch höher ansetzen als die Regierungen.

Selbstverständlich sind gute Krankenhäuser mit guten Arbeitsbedingungen und geleitet unter demokratischer Beteiligung der Beschäftigten sowie freier Zugang zur Impfstoffproduktion zentrale Anliegen. Doch auch die besten Krankenhäuser tragen nicht dazu bei, die Pandemie zu beenden. Mit mehr und leistungsfähigeren Krankenhäusern würde man noch mehr Menschen erkranken und sterben lassen. Die Kapazität der Krankenhäuser hat mit der Ausbreitungsdynamik des Virus nur am Rande zu tun. Unter den herrschenden politischen Kräfteverhältnissen würden leistungsfähigere Krankenhäuser bedeuten, dass die Schwelle der von den Regierungen noch akzeptierten Erkrankungen noch höher wäre. Damit würden aber auch mehr Menschen sterben. Die Pandemie hat ursächlich mit der Kapazität der Krankenhäuser nichts zu tun, sondern mit der Ausbreitungsdynamik eines Virus. Und diese Dynamik gilt es zu brechen und zwar durch gesamtgesellschaftliche massive Reduktion der Kontakte sowie durch eine möglichst vollständige Impfung der Bevölkerung. Das ist das kleine Einmaleins der Pandemiebekämpfung.

Krankenhäuser sind nicht dafür da, dass sie optimiert mit Menschen gefüllt werden. Sie müssen vielmehr eine allgemein gute Versorgung garantieren und viele freie Reserven haben. Gemäß dem Grundsatz der Prävention geht es darum Ansteckungen, Erkrankungen und Sterbefälle zu verhindern, nicht auf einem bestimmten Niveau einzupendeln und die Beschäftigten in den Krankenhäusern zum unmenschlichen Management der Pandemie zu degradieren.


Natur, Staat und fehlende Alternativen


Das Unverständnis vieler kritischer Autor*innen gegenüber der Pandemie lässt sich auf drei grundsätzliche Probleme zurückführen.

Plakat in München, Foto: Martinus KE

Das erste Problem: Zunächst ist das mangelnde Verständnis gegenüber Prozessen der Natur und des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur zu nennen. [10] Das SARS-CoV-2 Virus ist Teil der Natur und folgt den Gesetzen der Evolution und Ökologie. Das Virus ist auf Wirtszellen angewiesen, um sich zu vermehren. Es muss rasch auf den nächsten Menschen überspringen und zwar bevor das Immunsystem des infizierten Menschen es unschädlich macht. Das Virus verbreitet sich in Lebewesen. Die Pandemie ist hingegen gesellschaftlich produziert. Sie ist Ergebnis und Ausdruck des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur. Zahlreiche biologische Studien zeigen, dass die Häufigkeit von Zoonosen zugenommen hat. In funktionierenden Ökosystemen regulieren sich die Tiere, die als Wirte von Viren dienen können, in einem komplexen System gegenseitig, beispielsweise über Nahrungsketten, und halten sich somit gegenseitig in einem gewissen Gleichgewicht. Die durch die kapitalistische Expansion getriebene Erschließung neuer Gebiete, die Entwaldung, großflächige Landnutzungsänderungen und die Zerstörung von Ökosystemen begünstigt, dass Viren von Tieren auf Menschen überspringen. Auch die industrielle Landwirtschaft fördert die Ausbreitung von Viren unter den massenhaft gehaltenen Tieren, was ebenfalls Zoonosen begünstigt [11]. Die Erderhitzung und die durch sie bewirkten Veränderungen der Landschaften können zudem Ökosysteme derart verändern, dass Tiere in andere, dichtbesiedelte Lebensräume ausweichen.

Ein Virus verbreitet sich über die Menschen, die sich mit globalen Logistikketten und Verkehrsströmen bewegen, über den ganzen Globus. [12] Das zur rastlosen und endlosen Zirkulation gezwungene Kapital saugt nicht nur die menschliche Arbeitskraft in den Produktionsprozess ein, sondern zwingt die Gesellschaft auch zu einem irrationalen Stoffwechsel mit der Natur. Zoonosen und die Ausbreitungsdynamiken von Viren sind Teil dieses gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur.

Ein Aspekt dieser gegenseitig verschränkten Prozesse ist das exponentielle Wachstum der Virusausbreitung, sobald die Reproduktionszahl über 1 liegt. Viele Prozesse in der Natur vollziehen sich nicht linear oder kontinuierlich, sondern exponentiell oder ruckartig. Gerade in Gesellschaften, die sich scheinbar eine lange Zeit nur graduell verändert haben, fällt es schwer exponentielle Prozesse zu verstehen. Vergleicht man die exponentielle Virusausbreitung mit linearen Prozessen, kommt man grundsätzlich zu irreführenden Schlussfolgerungen.

Ein dialektisches Verständnis der miteinander verwobenen Wirkungen von Naturgesetzen und gesellschaftlichen Prozessen hilft, einer Pandemie durch entschlossenes gesellschaftliches Handeln entgegenzutreten. Die Dynamik der Pandemie offenbart aber auch, dass sich die Naturgesetze der Evolution und die gesellschaftlichen Widersprüche nicht technokratisch auf eine bestimmte Temperatur einstellen lassen, wie das sowohl die Regierungen als auch viele Linke gehofft hatten. Solange keine genügend wirksamen Impfstoffe existieren, lässt sich eine Pandemie nur durch nicht-pharmazeutische, also gesellschaftliche Maßnahmen, beenden.

Das zweite Problem: Ein aus den gesellschaftlichen Verhältnissen losgelöster Blick auf den Staat führt zu weiteren Fehlschlüssen. Wer die Welt nur durch eine Brille anschaut, die den autoritären Staat durchschimmern lässt und alles andere ausblendet, bekommt notgedrungen die Prozesse der Natur und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nur eingeschränkt mit. Wer die Politik als Manöver und den Staat als Plattform dunkler Mächte interpretiert, vermag nicht nur Naturgesetze und gesellschaftliche Widersprüche nicht zu verstehen, sondern riskiert geradezu einem Staatsfetisch zu erliegen.

Viele kritische Beobachter*innen und linke Aktivist*innen verstehen nicht, dass die grundlegenden Aufgaben des bürgerlichen Staates in der Aufrechterhaltung der Akkumulationsbedingungen des Kapitals und der ständigen Legitimation der bestehenden Herrschaftsverhältnissen liegen. Je nach politischen Kräfteverhältnissen geht die herrschende Klasse dafür allerlei Kompromisse ein. Das gilt auch für Pandemiepolitik. Die Regierungen ergriffen Maßnahmen zur Virusausbreitung zumeist dann, wenn aus der Bevölkerung, dem Wissenschaftsbetrieb und den Medien ein entsprechender Druck entstand. Sie verfolgten nicht einen autoritären Plan, sondern nahmen Zuflucht zu autoritären Maßnahmen, wenn die Eigendynamik der Pandemie und die gesellschaftlichen Widersprüche, beispielsweise der Notstand in den Krankenhäusern, ihnen aus den Händen zu geraten drohte.

Im Sinne der Aufrechterhaltung der Akkumulationsbedingungen und der politischen Stabilität haben sich gerade die Regierungen in den deutschsprachigen Ländern vergleichsweise gut durch die pandemischen Herausforderungen hindurch manövriert. In der Ausrichtung ihrer Strategien vergleichen die Herrschenden unterschiedliche Szenarien, die ihnen eigene Fachleute und die Wissenschaftswelt zur Verfügung stellen. Sie wissen was sie tun. Sie planen bewusst und zynisch eine große Anzahl Opfer und die übermenschliche Belastung der Beschäftigten in den Krankenhäusern in ihren Kalkülen ein. Die Vertreter*innen der Kapitalinteressen in der Schweiz sprechen diesen „trade off“ zwischen Opfern und Maßnahmen ziemlich offen aus. Mit den verhältnismäßig geringen Beeinträchtigungen der Kapitalakkumulation sehen sie sich in ihrer Politik bestätigt. Ihr Kalkül würde erst dann nicht aufgehen, wenn sich ihnen ein zu großer gesellschaftlicher Widerstand entgegenstellen würde.

      
Mehr dazu
Clifford D. Conner: Kritik an der „linker“ Impfgegner-DesinformationImpfgegner*innen aller Richtungen sind eine ernsthafte Gefahr für unsere Gesundheit., die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
Frank Prouhet und Pierre Rousset: Pandemie-Bekämpfung: Erfahrungen in Asien und Europa, die internationale Nr. 4/2021 (Juli/August 2021)
Winfried Wolf: Zwölf Thesen zur Pandemie, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021)
Sascha Stanicic: Corona-Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021)
Sekretariat der ISO: Für einen solidarischen europäischen Shutdown gegen die Pandemie von unten, die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021)
Christian Zeller: Für eine europäische Strategie gegen die PandemieUnterstützen wir die Initiative aus der Wissenschaft!, die internationale Nr. 1/2021 (Januar/Februar 2021) (nur online)
Büro der Vierten Internationale: Zusammenlaufende Krisen, beherrscht von der Covid-19-Pandemie, die internationale Nr. 1/2021 (Januar/Februar 2021)
 

Wenn Linke sich darauf beschränken, die Staaten und Regierungen für relativ beschränkte Grundrechtseinschränkungen zu kritisieren, allerlei autoritäre Manöver anzuprangern und sich zu historisch absurden Faschismusvergleichen hinreißen lassen [13], zielen sie am Kern der Sache vorbei. Es geht vielmehr darum die Rolle des Staates als ideeller Gesamtkapitalist zu erkennen und einen gesellschaftlichen Widerstand gegen eben diesen Kern zu organisieren. Wer die Pandemie relativiert oder gar für harmlos erklärt, stellt sich unweigerlich auf die Seite des Kapitals statt auf die des Lebens.

Das dritte Problem resultiert aus einer Verinnerlichung der Niederlage und einer Verfestigung neoliberaler Denkweisen. Das erste Mal seit Jahrzehnten, eigentlich seit dem Zweiten Weltkrieg, werden bislang als sicher geglaubte Zustände unsicher, und zwar bis in die Gestaltung des Alltags hinein. Das mündet in eine tiefe und weitreichende Verunsicherung. Auch linke „Individualist*innen“ müssen sich dem „Kollektiv“ bzw. dem gesellschaftlich sinnvollen Verhalten (Abstandsregeln, Maske etc.) einordnen. Das mag auch ein wesentlicher Aspekt sein, warum das Kleinbürgertum verrücktspielt. Für große Teile der Lohnabhängigen ist Unterordnung und Einordnung in die Zwänge des kapitalistischen Unternehmens gelebter Alltag. Doch für viele liberale und linke Intellektuelle ist das eine neue Erfahrung, die Angst macht.

Weite Teile der Linken haben letztlich liberale herrschaftsförmige Abwägungsprozesse verinnerlicht. Das verleitet sie dazu, mechanische Gegenüberstellungen anzustellen. Die Beispiele sind zahlreich: Lockdown versus individuelle Freiheit, individuelle Bewegungsfreiheit versus Erhalt eines unfreien Lebens, physische Erkrankung versus psychisches Leiden durch Lockdown, Corona-Tote versus „Kollateralschäden“ der Maßnahmen, Impfen versus nicht-pharmazeutische Maßnahmen, Kosten des Lockdowns versus Erkrankte und Tote, Industriearbeit versus Care-Arbeit. Dieses Vorgehen ist in der neoklassischen Ökonomie beispielsweise mit dem Konzept des Pareto-Optimums normal. Doch auch gestandene marxistische Politikwissenschafter griffen mit solchen Gedankengängen in die Debatten ein und kamen damit zu absurden Schlussfolgerungen. [14]

Hinter derartigen Abwägungen steht der Glaube, es sei aussichtslos die Kräfteverhältnisse wirklich zu verändern. Das lässt beispielsweise Thomas Rudhof-Seibert im bereits zitierten Artikel den Tod relativieren und das scheinbar entleerte Leben unter den gegenwärtigen Verhältnissen geringschätzen.

Ironischerweise wird dabei die emanzipatorische und radikale Alternative „Leben statt Kapital“ oder in der Sprache von Rosa Luxemburg „Sozialismus oder Barbarei“ entsorgt. Diese radikale Gegenüberstellung sprengt das Korsett der bestehenden Ordnung. Sie lässt die geschichtliche Entwicklung offen und betont nicht nur den emanzipatorischen Imperativ, gegen alle Verhältnisse zu kämpfen, die den Menschen ausbeuterische und diskriminierende Bedingungen auferlegen, sondern auch dessen Verwirklichbarkeit.

Tragisch ist, dass es die Linke und die Gewerkschaften auch in dieser vierten bzw. fünften Pandemiewelle abermals verpassen, sich unmissverständlich, bedingungslos und wirksam auf die Seite der Gesundheit und des Lebens zu stellen und damit das Kapital und dessen Herrschaft infrage stellen. Nur eine großräumig koordinierte radikale Niedriginzidenzstrategie und zwar verschränkt mit einer weltweiten solidarischen Impfkampagne ermöglicht eine solidarische und emanzipatorische Perspektive. Das ist die Orientierung der ZeroCovid-Initiativen. Solange nicht mindestens 90 % Bevölkerung immunisiert sind, durch Ansteckung oder Impfung, wird die Pandemie weitergehen. Da die Evolution Viren mutieren lässt, können neue Virusvarianten die Immunisierung allerdings mehr oder weniger erodieren lassen.

31. 12. 2021
Christian Zeller lehrt Wirtschaftsgeographie und Global Studies an der Universität Salzburg. Er publizierte zu global ungleicher Entwicklung, Bedeutungszunahme des Finanzkapitals, Inwertsetzung der Natur und Stadtentwicklung. Er setzt sich für eine transnationale ökosozialistische Bewegung von unten ein.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Verena Kreilinger und Christian Zeller: Corona-Pandemie – eine historische Wende. Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen, Produktion kurzzeitig und geplant runterfahren! 21. März 2021
[2] Nur drei Beispiele für derartige absurde Vergleiche: Soiland, Tové: Der permanente Pflegenotstand. Neues Deutschland. 4. Juni 2021. Albrecht Kieser: Corona und (k)ein Ende? Vom Versagen der Kritik. Sozialistische Zeitung, November 2020.
[3] Hofbauer, Hannes und Komlosy, Andrea (2020): Corona-Panik. Schrittmacher einer kybernetischen Wende.Lunapark21, 21. Juli 2020
[4] Hirsch, Joachim (2021): Angst und Herrschaft – Einige staatstheoretische Überlegungen. Links-netz. 8. März 2021. Hirsch, Joachim (2021): Was ist aus der Linken geworden?. Links-netz. 7. November 2021.
[5] Demirovic, Alex: Über die Null hinaus denken. Zur Kritik des Aufrufs #Zero Covid Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis. Januar 2021.
[6] Rudhof-Seibert, Thomas: Wann hört das endlich alles auf ... und wie soll es weitergehen? Was unter Corona links sein könnte. Neues Deutschland. 1. Januar 2021. .
[7] Soiland, Tové: Alle Räder stehen still? Zero Covid vernachlässigt die Erkenntnisse der feministischen Ökonomie sträflich. Neues Deutschland. 5. Februar 2021.
[8] Kulldorff, Martin; Gutpa, Sunetra und Bhattacharya, Jay (2020): The Great Barrington Declaration. October 4, 2020.
[9] Soiland, Tové: Der permanente Pflegenotstand. Neues Deutschland. 4. Juni 2021. Zugriff 29. Dezember 2021
[10] Marx, Karl (1867): Das Kapital, Erster Band. Karl Marx-Friedrich Engels-Werke (MEW) Band 23. 1988. Berlin: Dietz Verlag, S. 192; Marx, Karl (1894): Das Kapital, Dritter Band. Karl Marx-Friedrich Engels-Werke (MEW) Band 25. 1988. Berlin: Dietz Verlag, S. 821
[11] Wallace, Rob (2020): Was COVID-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat. Köln: Papyrossa Verlag
[12] Kreilinger, Verena; Wolf, Winfried und Zeller, Christian (2020): Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in Zeiten der Pandemie. Köln: Papyrossa, S. 137ff
[13] Hannes Hofbauer: Der Alpenfaschismus. Rubikon, 30. Oktober 2021
[14] Demirovic, Alex: Über die Null hinaus denken. Zur Kritik des Aufrufs #Zero Covid Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis. Januar 2021.