Die Hoffnung liegt auf den von der NATO unabhängigen Anti-Kriegsbewegungen in Russland und im Westen sowie auf dem ukrainischen Widerstand.
Charlie Kimber
„Wenn du nicht willst, dass die NATO ihre Macht und ihre Waffen benutzt, wie willst du dann die Russen stoppen? Du lässt die Mörder gewinnen.“ Mit dieser Frage dürfte jeder, der gegen eine westliche Eskalation in der Ukraine ist, bereits mehr als einmal konfrontiert worden sein. Dabei handelt es sich um ein echtes Problem angesichts der blutigen Realität russischer Angriffe auf Kiew, Charkiw, Mariupol und andere Orte.
Die erste und wichtigste Antwort ist, dass auch dieser unbestreitbare, von Wladimir Putins Invasion ausgelöste Horror kein Grund ist, die Situation in einen noch entsetzlicheren Krieg zu eskalieren. Immer aggressiver werdende Forderungen der NATO sowie ihre Waffenlieferungen drohen den Weg zu einem noch größeren Konflikt zu bereiten, in dem dann möglicherweise auch Atomwaffen zum Einsatz kämen.
Sozialer Protest in Odessa (März 2022) „Odessa ist immer noch Ukraine“, „Durchgang geschlossen“Foto: Lidonchik |
Im Juli 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, sagte der russische Revolutionär Leo Trotzki: „Die Programme der aktuellen Regierungen wirken wie das Spiel von Kindern am steilen Hang eines Vulkans, der in Kürze ausbrechen wird.“ Dieser Ausspruch hallt jetzt durch Europa und die ganze Welt. Täglich gibt es Hinweise darauf, wie durch den Krieg noch mehr Grauen ausgelöst werden kann.
Jens Stoltenberg, Generalsekretär der NATO, warnte Russland, dass Angriffe auf in die Ukraine führenden Versorgungslinien des Westens eine Eskalation bedeuten würden. „Putin will weniger NATO, jetzt bekommet er mehr NATO!“, fügte Stoltenberg hinzu. Putins Sprecher Dimitri Peskow verlautbarte, (noch in der Überlegung befindliche) Pläne, die Ukraine mit polnischen MiG-Kampfflugzeugen zu beliefern, würden ein „sehr unerwünschtes und potenziell gefährliches Szenario darstellen“.
Doch das Argument, die Sache nicht noch zu verschlimmern, ist nicht die ganze Antwort. Wir wollen natürlich, dass Putin scheitert und gestürzt wird, aber dabei kommt es auf die Art und Weise an, wie dies geschieht.
Es ist kein Sieg, wenn damit nur die Macht des amerikanischen Imperialismus noch weiter zementiert wird, der eine solch mörderische Kraft war – und immer noch ist. Wir wollen kein Ergebnis, das noch mehr Blutbäder nach sich zieht, wie es bei den amerikanischen Kriegen in Afghanistan und im Irak der Fall war. Die Unterstützung der Ukraine durch US-amerikanischen Imperialismus wird die Unabhängigkeit dieses Landes nicht verteidigen. Die amerikanische Unterstützung der kurdischen Streitkräfte in Syrien zum Beispiel hat keine Befreiung gebracht. Der Grund dafür ist, dass das Hauptaugenmerk der USA darauf liegt, die eigenen imperialistischen Interessen, und nicht die Freiheit zu fördern. Dafür unterstützen sie lokale Streitkräfte nur, um sie später einfach wieder fallen zu lassen.
Eine zentrale Bedeutung für einen positiven Ausgang kommt der russischen Anti-Kriegsbewegung zu, die wachsen und den Hass auf den Krieg mit allen anderen Bereichen der Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse kombinieren muss. Trotz schwerster Unterdrückungsmaßnahmen sind Zehntausende von Menschen auf die Straße gegangen, um Putins Krieg zu verurteilen. Wie hoch der Mobilisierungsgrad ist, zeigen die 14 000 Verhaftungen, die bis Freitagnachmittag vorgenommen wurden.
Wie sich die Demonstrationen genau entwickeln werden, ist unmöglich vorherzusagen. Sozialist*innen in Russland haben mit Nachdruck über die Notwendigkeit geschrieben, „in die Proteste revolutionäre Parolen und Forderungen“ hineinzutragen. Außerdem müsse darauf hingearbeitet werden, dass „die Unzufriedenen den Krieg nicht nur stoppen, sondern aus dem imperialistischen Krieg einen Klassenkrieg machen“. Irgendwann könne dann der Moment kommen, an dem die Angst die Seiten wechselt, wenn nämlich Polizisten und Richter plötzlich genau die fürchten, die von ihnen bisher verprügelt und ins Gefängnis gesteckt wurden. Die gegen den Krieg Protestierenden lassen sich definitiv nicht länger einschüchtern.
So wie einer der Demonstranten in St. Petersburg vor kurzem schrieb: „Trotz all der Einschüchterungsmaßnahmen sind heute viele Menschen auf die Straßen gegangen! Das hatte ich, ehrlich gesagt, wirklich nicht erwartet. Als ich die Fotos und Videos der Demonstranten in Isakia und auf dem Newski-Prospekt sah, konnte ich gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Ich konnte leichter atmen! All die Versuche der Staatspropaganda, uns Angst einzujagen, wirkten einfach lächerlich klein im Vergleich zu den reinen Herzen und der Furchtlosigkeit der Demonstranten.“ Würden Millionen protestieren, wäre das das Ende von Putins Kriegstreiberei. Und auch wenn Proteste noch keine Kriege beendet haben, so können sie sie zumindest eindämmen.
Nun mag der Westen zwar behaupten, Aufstände gegen Putin wären für ihn ein Grund zum Feiern, in Wirklichkeit sind diese Revolten jedoch auch für den Westen eine Herausforderung, da mit ihnen generell die Ablehnung wächst, imperialistische Metzeleien zu unterstützen. Auf dieselbe Weise wurden 1917 die russischen Proteste gegen den ersten Weltkrieg von deutschen Generälen voller Schadenfreude verfolgt. Doch dann befeuerte die Anti-Kriegsstimmung auch in ihrem eigenen Land eine Revolution.
Und es ist nicht einfach nur Anti-Kriegs-Agitation, die Putin schaden kann. Letzte Woche konnte man ein leuchtendes Beispiel für das Potenzial sehen, das Arbeitskämpfe in einem Betrieb entfalten können. Einige Arbeiter der großen Gemont-Fabrik in Nischnekamsk streikten. Diese Arbeiter sind in der Mehrzahl türkische Migranten, deren Löhne an den Wechselkurs von Dollar und Rubel gebunden sind. Infolge des Absturzes des Rubels brachen auch ihre Löhne ein, also beschlossen sie zu streiken.
Laut der russischen Zeitung Business Gazeta (BISNESS Gaseta) machten die Bosse dort dem Streik dann nicht etwa mit Gewalt ein Ende, sondern erklärten sich umgehend bereit, die Arbeiter*innen wenigstens zum Teil für ihre Verluste zu entschädigen. Das könnte auf ein gewisses Widerstreben hindeuten, sich in einer Zeit, in der sich bereits Unzufriedenheit aufgrund des Krieges breitmacht, auf Klassenkämpfe einzulassen.
Es gibt Mut machende historische Beispiele für das, was geschieht, wenn russische Machthaber Kriege verlieren. Die Niederlage im russisch-japanischen Krieg führte zur Revolution von 1905. Die niederschmetternden Rückschläge im ersten Weltkrieg befeuerten die Februar-Revolution 1917. Die Niederlage in Afghanistan in den 1980er-Jahren war eine der Ursachen, die zur Schwächung der Sowjetunion und zur Ermutigung zu den Aufständen im Jahr 1989 gegen die osteuropäischen Diktaturen beitrugen.
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Ein wichtiger Faktor in all diesen Beispielen war Unzufriedenheit in den Streitkräften, die sich auch bis zur Meuterei steigern konnte. Natürlich sollte man den bruchstückhaften Meldungen während eines Krieges nicht unbesehen Glauben schenken, allerdings wird immer wieder von russischen Soldaten, vor allem von Wehrpflichtigen berichtet, die in der Ukraine nicht mehr weiterkämpfen wollen, ihre eigenen Fahrzeuge sabotieren und ihren Familien von dem Grauen erzählen, das sie dort erleben.
In derselben Weise, in der sich das amerikanische Militär im Vietnamkrieg einer Rebellion erwehren musste, kann eine wachsende Unzufriedenheit fatale Auswirkungen auf die russische Invasion in der Ukraine haben. Das würde Putin zutiefst erschüttern, aber keine Verbindung mit irgendwelchen NATO-Manövern nahelegen.
Und was geschieht in der Ukraine selbst? Wir heben die Art der Proteste hervor, die wir in Cherson und anderen besetzten Gebieten gesehen haben. Hier stellen sich Massen ganz gewöhnlicher Menschen den russischen Soldaten, diskutieren mit ihnen und verbrüdern sich auch mit ihnen, alles mit dem Ziel, diese Soldaten gegen den Krieg zu beeinflussen.
Solch eine Opposition, gänzlich außerhalb der Kontrolle durch die NATO und unabhängig von NATO-Waffen, wird auf längere Sicht entscheidend sein, selbst wenn Russland eine wie auch immer geartete militärische Eroberung gelingen sollte. Während der US-amerikanische Imperialismus keine wirkliche Unabhängigkeit bringen kann, kann die Befreiung von unten hingegen gelingen.
Aufgeblasener Imperialismus hat seine üble Macht häufig genutzt, um schwächere Gegner zu besiegen. Doch dann sah er sich genauso häufig jahrelangem Widerstand auf niedriger Stufe gegenüber, der ihm demütigende Verluste zufügte. Genau das passierte Frankreich in Algerien von 1954–62, den USA und Großbritannien im Irak nach der Invasion von 2003 und Russland in Afghanistan.
Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf die Rolle der Anti-Kriegsbewegung in den NATO-Ländern. Jeder Demonstrationsmarsch und jede Protestveranstaltung, jede Verbindung mit einem Klassenkampf auf breiterer Ebene machen es den USA schwerer, ihre Kontrolle auszubauen und die Ukraine zu einem Vasallenstaat zu machen. Dies wiederum erlegt uns eine Verantwortung auf, für solch einen Aufstand zu agitieren und uns zu organisieren.
Diese vier Faktoren – Russlands Anti-Kriegsbewegung, Meuterei im Militär, ukrainischer Widerstand von unten, Anti-Kriegsagitation in den NATO-Ländern – sind unsere positive Alternative zu einer Involvierung der NATO. Und in dieser Kombination könnte der Krieg als Vorläufer für eine Revolte gegen all die herrschenden Klassen, die jetzt die Kämpfe intensivieren, genutzt werden.
Der aus Trinidad stammende Marxist CLR James war ein überzeugter Anti-Imperialist, der Italiens Invasion in Äthiopien im Jahr 1935 verurteilte. Aber er machte sehr klar, dass das nicht bedeutete, sich auf die Seite anderer Imperialisten zu schlagen, nur um die Italiener zurückzutreiben. James schrieb: „Lasst uns nicht nur gegen den italienischen Imperialismus kämpfen, sondern auch gegen die anderen Räuber und Unterdrücker, gegen den französischen und den britischen Imperialismus. Lasst euch nicht von ihnen vereinnahmen. In den Dunstkreis imperialistischer Politik zu geraten, bedeutet, von dessen Gestank krank zu werden, in einem Morast aus Lügen und Heuchelei zu ersticken.
Arbeiter*innen von Großbritannien, Bauern, Bäuerinnen und Arbeiter*innen von Afrika, haltet euch fern von den Imperialisten und ihren Bündnissen, Abkommen und Sanktionen. Seid nicht der Fliegenköder in ihrem Spinnennetz.
Lasst uns jetzt wie schon immer für unabhängige Organisation und unabhängige Aktion kämpfen.“
Diese Geisteshaltung sollte uns auch heute inspirieren.
Aus: Socialist Worker, 13.03.2022
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz