Von der Ukraine bis nach Taiwan, ist Eurasien wieder einmal zum Zentrum einer größeren Konfrontation zwischen den Großmächten (USA, China und Russland) geworden. Um das zu analysieren, müssen wir uns von den Denkmustern aus Zeiten des Kalten Krieges befreien, alles neu überdenken und den Gesamtzusammenhang des planetaren Kontextes berücksichtigen – den einer globalen multi-dimensionalen Krise.
Pierre Rousset
Die internationale politische Situation ist durch den Konflikt zwischen einer neu aufstrebenden Macht, China, und der etablierten Macht, den Vereinigen Staaten, bestimmt. Diese Auseinandersetzung wird hier als Konflikt zwischen Imperialismen analysiert. Die soziale Struktur Chinas ist sicherlich sehr spezifisch (das ist keine Nebensächlichkeit), aber das Ausmaß des Bruchs zwischen dem maoistischen Regime und dem von Xi Jinping ist gut dokumentiert. [1] Darüber gibt es offensichtlich Kontroversen und auch der Begriff des Imperialismus hat verschiedene legitime Interpretationen (wenn wir zum Beispiel über den Imperialismus des zaristischen Russlands sprechen). Es ist absolut möglich, die stattfindenden politischen Konflikte zu untersuchen und gleichzeitig Vorbehalte in Bezug auf den Entwicklungsstand der chinesischen (und russischen) Gesellschaft zu haben, ohne dadurch die Analyse über den Haufen zu werfen – es sei denn, man denkt, dass die Regime von Xi Jinping und Putin, die das Ergebnis von Konterrevolutionen sind, nach wie vor „fortschrittlich“ seien.
Der Konflikt zwischen einer aufstrebenden und der etablieren Macht ist ein klassisches Szenario. Aber er muss zwingend in seinem historischen Zusammenhang analysiert werden. Der gegenwärtige Kontext ist der einer globalen Krise, in die uns die kapitalistische Globalisierung gestürzt hat, ein Kontext mit noch nie dagewesenen Auswirkungen.
USA in Afghanistan Foto: Kenny Holston |
Das große Spiel zwischen der aufstrebenden und der etablierten Macht wird weltweit gespielt, aus historischen und geostrategischen Gründen, aber besonders intensiv in Eurasien. Bei dem Kontinent handelt es sich um eine Wirtschaftszone von höchster Bedeutung (mit China im Zentrum), die im Westen an den Nord-Atlantik grenzt und im Osten an die Indo-Pazifische Zone, von wo aus wiederum China bis in den Südpazifik hineindrängt. Er war das Epizentrum der revolutionären und konterrevolutionären Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, an denen Europa, Russland, Vietnam und viele andere Länder der Region beteiligt waren. Er wurde von Nazismus, Stalinismus, Blockteilung und Kriegen erschüttert.
Er trägt die Narben dieser Epoche. Die nukleare Bedrohung ist eine weltweite, aber Eurasien hat das Monopol auf die „heißen Punkte“, wo die Besitzer dieser Waffe gemeinsame Grenzen haben: Russland und Nato-Mitglieder im Westen, Indien und Pakistan in der Mitte, Taiwan im Süden (China – Vereinigte Staaten), die Halbinsel Korea im Osten.
Diese Vergangenheit ist jedoch vorbei. Die internationale Niederlage meiner Generation in den 1980er-Jahren öffnete den Weg für die Ausbreitung der neo-liberalen Konterrevolution und der kapitalistischen Globalisierung. Das Vokabular und die Reflexe des Kalten Krieges (der in Asien heiß war) sind als Reaktion auf die Invasion in der Ukraine wieder aufgetaucht, aber dieser Analyserahmen ist veraltet. Russland und China sind ebenso wie die Vereinigten Staaten und Europa in den gleichen Weltmarkt integriert. Eine der großen aktuellen Fragen sind die Widersprüche, die durch die Konflikte zwischen Staaten ausgelöst werden, in einer Welt interdependenten Welt, die von der freien Bewegung von Waren und Kapital regiert wird.
Wir müssen uns von den mehr oder weniger unbewussten Denkmustern des Kalten Krieges befreien, um besser neu nachzudenken in einer Zeit, wo Eurasien erneut zum Schauplatz einer scharfen Konfrontation zwischen den Großmächten geworden ist, sei es im Osten um Taiwan, seit Xi Jinpings in China an die Macht kam, sei es im Westen seit der Invasion der Ukraine.
Die Vereinigen Staaten bleiben bei Weitem die führende Militärmacht der Welt, aber das bedeutet nicht, dass sie immer überall in einer Position der Überlegenheit wären. Ihre Überlegenheit hängt ab vom Schauplatz der Operationen, der Verlässlichkeit der Alliierten, der innenpolitischen Situation, der Logistik usw. Tatsächlich können wir sagen, dass sie an allen „Fronten“ Eurasiens in einer Situation der Schwäche waren.
Präsident Obama hätte gern die Achse des politisch-militärischen Apparates der USA nach Asien verschoben. Er konnte es nicht, weil er in die Krise im Nahen Osten verstrickt war. Peking nutzte die Gelegenheit, um seinen Zugriff auf das gesamte Südchinesische Meer zu festigen, ohne sich im Geringsten um die maritimen Rechte der übrigen Anrainerstaaten zu scheren. Es beutet die dortigen wirtschaftlichen Reichtümer aus und baut auf Riffen künstliche Inseln und schafft dabei ein dichtes Netzwerk von Militärbasen. Donald Trump war nicht in der Lage, eine kohärente Chinapolitik zu entwickeln. Joe Biden hat es geschafft, die USA wieder auf den asiatisch-pazifischen Raum zu orientieren, aber er steht vor vollendeten Tatsachen.
Krieg ist bei weitem nicht nur eine militärische Sache, aber das Ergebnis von Schlachten ist auch nicht bedeutungslos. Nun, ein Konflikt um das Südchinesische Meer würde auf den ersten Blick wahrscheinlich zugunsten Pekings verlaufen, das seine modernsten Waffen, die gebündelte Feuerkraft auf See und einer militarisierten Küstenlinie, die Nähe kontinentaler Basen (Raketen, Luftwaffe usw.) ebenso nutzen könnte, wie die Logistik eines modernen Straßen- und Schienennetzes (Schnelligkeit von Transporten und von Truppenverlegungen und Munitionstransporten an der Front). Der Krieg in der Ukraine dauert lange, und wir sehen, welche Mengen an Granaten verbraucht werden! Die dauerhafte Versorgung mit neuen Waffen ist eine große Herausforderung, die für Peking einfacher zu bewältigen wäre als für Washington. Das Pentagon steht vor einer komplizierten Aufgabe.
Diese Analyse ist jedoch umstritten. [2] China hat keine Erfahrung mit moderner Kriegsführung. Die maoistische Strategie war defensiv, basierend auf Heer und Volksmobilisierung. Xi Jinping hat im Eiltempo die Attribute einer Großmacht mit Schwerpunktsetzung auf die Flotte aufgebaut. Allerdings wurden seine Truppen, sein Material, die Verlässlichkeit und Präzision seiner Bewaffnung, seine Kommandolinien, die Organisation seiner Logistik, sein System von Information (Beherrschung des Weltraums) und automatisierter Auswertung (künstliche Intelligenz) noch nie unter Realbedingungen getestet – wie seine Flotte strategischer Unterseeboote, die immer noch eine Achillesferse ist.
Zum Zeitpunkt der Invasion der Ukraine befand sich Washington auch in Europa in einer Position der Schwäche. Russland hatte sich seit mindestens zwei Jahren auf eine Offensive an der europäischen Front vorbereitet, sowohl ökonomisch als auch militärisch. Obwohl Putin auf einen schnellen Sieg in der Ukraine (ein Irrtum, der ihn teuer zu stehen kam) und die Lähmung der Nato (er war sich ihrer Krise bewusst) gehofft hatte, hatte er andere Ziele im Auge und wusste, dass die Spannungen an seinen Grenzen dauerhaft sein würden. Andererseits war die mangelnde Vorbereitung Washingtons offensichtlich.
Nach dem Fehlschlag in Afghanistan befand sich die Nato in einer Situation der Krise und ihre Kräfte in Europa befanden sich nicht in großer Zahl an der russischen Grenze. Donald Trump hatte die multilateralen Kooperationsnetzwerke des westlichen Lagers gesprengt. Die Ohnmacht der Europäischen Union war offensichtlich; sie war unfähig zu einer kohärenten Diplomatie gegenüber Russland und China.
Mit dem Brexit war die Kooperation zwischen den beiden Ländern mit einer Interventionsarmee, Frankreich und Britannien, an einem Nullpunkt, und ihre Mittel waren sehr begrenzt. Die Moral ist nicht hoch (die Serie von Fehlschlägen, die Paris in Afrika erlitten hat, kam nicht von ungefähr). Die französischen Streitkräfte haben keine autonome Strategie, für die Aufklärung sind sie abhängig von Washington … und von Russland und der Ukraine für den Transport. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Paris lange Zeit Großraumtransporter für den Truppentransport gemietet hat, die russischen und ukrainischen Unternehmen gehören. Ich gehe davon aus, dass das nicht mehr der Fall ist (obwohl ja Kapitalismus und Handel sind, was sie sind).
Die Nato war weder der einzige noch der Hauptgrund für die Invasion. Gemäß Putins eigenen Worten, sollte dadurch die Ukraine – ein Staat, der nach seiner Meinung nie hätte existieren dürfen - von der Landkarte getilgt werden. [3] Es ist unmöglich zu wissen, was geschehen wäre, wenn es Russland durch einen Blitzkrieg gelungen wäre, das Land zu besiegen, zu balkanisieren und in Kiew ein Marionettenregime einzusetzen. Das war nicht der Fall, da die russische Offensive am massiven nationalen Widerstand von Armee, Territorialkräften und der Bevölkerung scheiterte. Unter diesen Bedingungen wurde der Krieg in der Ukraine zu einer bedeutenden geopolitischen Tatsache, die geostrategische Neuausrichtungen auslöst, die komplexer sind, als man sich vorstellen kann.
Chinesische Zerstörer Foto: Took-ranch |
Inwieweit war die Führung der chinesischen Kommunistischen Partei (KPCh) in die russischen Pläne eingeweiht? Am Vorabend der Invasion verkündeten Xi Jinping und Putin mit großem Getöse ein Abkommen über unbegrenzte strategische Zusammenarbeit. Allerdings griff Peking Taiwan nicht an, obwohl das eine zweite Front eröffnet hätte, die Gelegenheit günstig schien und Xi aus der „Wiedereroberung“ dieses Territoriums ein Kennzeichen seiner Herrschaft gemacht hätte. Tatsächlich hat China in der UN von Anfang an eine vorsichtige Position eingenommen, in dem es sich nicht ausdrücklich von Moskau distanzierte, aber auch kein Veto gegen die erste Verurteilung der Invasion einlegte und sogar betonte, dass internationale Grenzen zu beachten seien. Erinnert sei daran, dass für die Führung der KPCh (und die UN) Taiwan eine chinesische Provinz und kein fremder Staat ist.
Warum diese Zurückhaltung? Wir wollen verschiedene Gründe in Betracht ziehen. Der erste ist militärischer Natur. Taiwan ist eine riesige befestigte Blase im Herzen des Südchinesischen Meers, die Peking gerne zum Platzen bringen würde, aber die Überquerung der 120 km breiten Meerenge macht eine Invasion sehr gefährlich. Die Taiwanesen haben offensichtlich die Mittel, solange Widerstand zu leisten, bis US-Streitkräfte zum Schutz herangekommen wären. Was auch immer die bisher erreichten Fortschritte sein mögen, Chinas See- und Luftstreitkräfte können da nicht mithalten. Xi hat sicher nicht die vergangenen Fehlschläge vergessen, als Mao am Ende des Bürgerkrieges drei Mal versuchte, Tschiang Kai-scheks Kuomintang Kräfte auf der Insel anzugreifen. Umgekehrt ist auch wahr: eine US-Invasion Chinas scheint undenkbar.
Zweitens stimmen die Interessen Russlands und Chinas nicht immer überein, weit entfernt. Ihre Allianz macht in einem defensiven Kontext Sinn, und Russland hat Erfahrung, von der China profitieren will, zum Beispiel durch gemeinsame Militärmanöver in Sibirien. Allerdings wiegt der historische Streit zwischen Moskau und Peking vor dem Hintergrund des chinesisch-sowjetischen Bruchs 1969 sehr schwer (das führte damals zu bewaffneten Auseinandersetzungen über die Kontrolle der Grenze am Amur). Durch Xi Jinpings zentrale Initiative der „Neuen Seidenstraße“ wurde der chinesische Einfluss in Zentralasien bedeutend gestärkt, und das ist eine Region, die Putin als die seine betrachtet. Die Invasion der Ukraine stellt die chinesischen Interessen östlichen (inkl. der Ukraine) und westlichen Europa in Frage. Für die Aufgabe der eigenen Interessen in Europa zugunsten der imperialen Interessen Moskaus gibt es keinerlei Anzeichen. Dennoch wäre es für Peking das schlimmste Szenario, allein gegen Washington zu stehen.
Drittens ist Xi Jinpings Position in der KPCh nicht gefestigt. Sein Management der Covid-19-Pandemie wird kritisiert. Der Generalstab der Armee hat die Säuberungen, denen er unterworfen war, noch nicht verdaut. Die Fraktionen, die gnadenlos aus den Führungsorganen entfernt wurden, warten auf die Stunde ihrer Revanche. Xi hat eine konstitutionelle Reform durchgesetzt, die es ihm erlaubt, so lange den Vorsitz zu führen, wie er will – aber wird er es können? Eine Partei mit 90 Millionen Mitgliedern in einem riesigen Land lässt sich nicht herumkommandieren, und seine Stellung ist möglicherweise schwächer als es den Anschein hat.
Die Situation von Joe Biden in den Vereinigen Staaten war schon zum Zeitpunkt der Invasion der Ukraine kritisch, ohne funktionierende Mehrheit im Kongress und mit einer drohenden Rückkehr des Trumpismus. Seitdem haben sich die Dinge mit dem schleichenden juristischen Staatsstreich durch die sechs ultra-konservativen Mitglieder des Supreme Court (gegenüber drei vernünftigen) verschlechtert.
Wir wissen nun, wie die extreme Rechte (insbesondere ihr evangelikaler Teil) seit Jahrzehnten die Übernahme der Institutionen vorbereitet hat, in dem sie Rechtsanwälte und Richter ausbildete und ihnen Schlüsselpositionen verschaffte. [4] Wir kennen das Ausmaß von Trumps Komplott, das zum Sturm auf das Kapitol führte. [5] Und dennoch kann ich nicht verstehen, wie in den Vereinigten Staaten sechs Leute (sechs!) ihre Diktatur errichten können, in dem sie mit dem traditionellen Funktionieren des Supreme Court brechen, Reproduktionsrechte angreifen, das (ach so moderate) Programm zum Kampf gegen die Erderwärmung angreifen und ankündigen, dass das erst der Anfang sei und dass ihre finstere Offensive auf anderen Gebieten fortgesetzt werden wird, unter anderem dem der Wahlen. [6]
In den Vereinigten Staaten gibt es wichtige Gegenmächte wie die Rolle der Staaten. Das ist in Frankreich nicht der Fall, einem Land des Hyper-Präsidentialismus, wo Macron versucht, eine autoritäre „Überholung“ der bürgerlichen Demokratie durchzusetzen; ein Projekt, das glücklicherweise (für den Augenblick) durch die letzten Wahlen durchkreuzt wurde. Die Situation ist jenseits des Atlantiks nicht weniger desaströs als in Europa (man denke an die burleske Farce von Boris Johnson). Wir erleben einen Todeskampf der Demokratie.
Die Marktglobalisierung ist zu einem Halt gekommen, selbst wenn das nicht notwendigerweise für die Finanzglobalisierung gilt. Die Geopolitik beschäftigt sich im Prinzip mit dem Zusammenwirken vieler Faktoren, was eine gemeinsame Arbeit erfordert. [7] Das ist hier außerhalb meines Arbeitsbereichs. Allerdings hat Eurasien einen neuen geopolitischen Faktor größter Wichtigkeit produziert: die Covid-19-Pandemie. Entstanden in China breitete sie sich nach Europa aus, das als Sprungbrett für die Ausbreitung in die ganze Welt diente.
Die Geschwindigkeit, mit der aus der Epidemie eine Pandemie wurde, erklärt sich aus der Nachlässigkeit der Regierungen, die nur langsam begannen zu agieren (das gilt auch für Europa), die Handelsdichte des globalisierten Kapitalismus und die Charakteristika des Sars-Cov-2 Virus, insbesondere seine Fähigkeit neue Varianten zu entwickeln und fast alle Lungen-, Blut-, Nerven-, Verdauungs- und andere Systeme anzugreifen (es hat also nichts mit einer Grippe [Influenza] zu tun).
Wir sind zusätzlich zur Klima- und ökologischen Krise in einer Ära von Epidemien angekommen. Covid-19 hat die Widersprüche einer auf Just-in-Time-Produktion und unbegrenztem Handelswachstum basierenden globalen Wirtschaft zur Explosion gebracht. Es wird keinen Weg zurück geben.
Fast 5 Monate nach der Invasion der Ukraine ist es scheinbar einfach, die Weltsituation zu charakterisieren: Eurasien und der Indo-pazifische Raum bleiben das Epizentrum der geopolitischen Konflikte; die Führung der USA im westlichen Lager ist wiederhergestellt; die Nato wurde umgebaut und hat neue Ambitionen; Russland und China stehen trotz der angesprochenen Dispute zusammen; eine „Deglobalisierung des Krieges“ findet auf allen Ebenen statt; demgemäß beschleunigen sich die Klima-, die ökologische und die Gesundheitskrise; das Leiden der Bevölkerungen verstärkt sich im Zuge der stattfindenden Katastrophen.
Der Umbau der Nato: Die Invasion der Ukraine hat, wie erwartet, die Nato in die Lage versetzt, ihre Nach-Afghanistan-Krise zu überwinden, in dem sie ihr eine neue Existenzberechtigung und Legitimität verliehen hat – ein schwerer Schlag für den Kampf gegen die Organisation und alle Militärbündnisse. Der Madrid-Gipfel Ende Juni 2022 war eine Gelegenheit, um ein unbegrenztes Mandat zu erlangen, das weltweite Einsätze gegen egal welche „Gefahr“ autorisiert. [8] Russland wird als akut „größte Bedrohung“ bezeichnet und China als auf die Dauer hauptsächlicher „strategischer Konkurrent“ auf allen Ebenen.
Das „neue strategische Konzept“ der Nato ist unzweideutig. Die Frage bleibt: hat die Organisation die Mittel für diese Politik? Das ist alles andere als offensichtlich. Während die meisten Länder der Vereinten Nationen die Invasion verurteilten, begab sich nur eine kleine Minderheit auf den Pfad der Sanktionen. Heute verlangen Joe Biden und die Nato, dass die Länder Eurasiens und des Indo-Pazifiks sowohl gegen Russland als auch gegen China zusammenstehen. Was haben sie bekommen? Den Beitritt neuer europäischer Länder zur Organisation mit, und das ist wichtig, der Unterstützung durch die Bevölkerung; die Zustimmung der großen Masse der Mitglieder der Europäischen Union unter den militärischen Schutzschirm der USA zu gehen; der enthusiastische Anschluss Japans.
Japan: Die Verfassung des Landes enthält eine pazifistische Klausel (Artikel 9), die es dem Land verbietet, wieder eine Armee aufzubauen („das japanische Volk verzichtet für immer auf das souveräne Recht der Nation Krieg zu führen“) und auf die Drohung oder den Gebrauch von Gewalt, um internationale Streitigkeiten zu regeln. Diese Klausel wurde seit 1954 von der (rechten, nationalistischen) Liberaldemokratischen Partei umgangen („neu interpretiert“), die „Selbstverteidigungskräfte“ aufbaute, im Gegensatz zu Artikel 9, der spezifizierte, dass, „um das Ziel des vorhergehenden Paragraphen zu erreichen, Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie anderes Kriegsgerät niemals unterhalten werden“.
Japan hat jetzt die fünftgrößte Armee der Welt, nach den Vereinigten Staaten, Russland, China und Indien. Es hat 1450 Flugzeuge (nur die USA haben mehr) und eine Flotte von 36 Zerstörern. Zerstörer sind nach Flugzeugträgern die kampfkräftigsten Kriegsschiffe. [9] Tokio hat keine Atomwaffen, aber könnte sie sehr schnell beschaffen. Die Regierung glaubt, dass sie durch die Teilnahme an multilateralen Operationen, in der Lage sein wird, vollendete Tatsachen zu schaffen und ihre Kräfte zu auswärtigen Operationsschauplätzen zu schicken. Tokio wird seine eigene Rolle spielen und kein untergeordneter Verbündeter von Washington sein.
Indien: Joe Biden fördert das Konzept einer Indo-Pazifischen Zone, um Neu-Delhi in eine gemeinsame Front gegen China zu integrieren. Er hat zurzeit keine Chance, eine Zustimmung der Modi-Regierung zu erhalten, gemeinsam mit Washington gegen Russland zu stehen. Aus offensichtlichen Zweckmäßigkeitsgründen stellt Indien anscheinend das Prinzip diplomatischer Neutralität zur Schau. Es unterhält seit den 1960er-Jahren durchgehend Beziehungen zu Moskau und ungefähr 60 Prozent seines Militärbedarfs werden von Moskau gedeckt. Es würde sogar zustimmen, Handel in Rubel (der Währung Russlands) abzuwickeln statt in Dollar. [10]
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Die neuen Blockfreien: „Blockfreiheit“ wurde wieder neu entdeckt. Der Begriff ist verführerisch, erinnert er doch an die Bandung-Konferenz von 1955. Diese Konferenz wurde unter der Schirmherrschaft des indonesischen Führers Sukarno abgehalten; es beteiligten sich Zhou Enlai für China, Nasser für Ägypten, Sihanouk für Kambodscha, Tito für Jugoslawien, ebenso wie Japan (als einziges industrialisiertes Land) und Hocine Ait Ahmed für die algerische FLN. Die blockfreie Bewegung war Teil eines gewaltigen Kampfes für Dekolonialisierung und stellte die herrschende Ordnung in Frage.
Das hat mit den heutigen „blockfreien“ Ländern nichts zu tun; unter ihnen befinden sich Regimes, die nicht im Mindesten progressiv sind. So wird Modis Indien von linken Strömungen als faschistisch charakterisiert. [11] Die Bezugnahme auf „blockfrei“ bedeutet nur, dass die Geschäfte wie vorher abgewickelt werden und dass Russland international nicht isoliert ist, auch da seine Verurteilung der Niederträchtigkeiten des Westens mit der Erinnerung der Menschen an die Kolonialisierung und Besetzung des Iraks zusammenfällt.
An Russlands europäischen Grenzen scheinen (alles ist relativ) die Nato und die Europäische Union demokratischer als Putins Regime zu sein, obwohl das Programm zum Wiederaufbau der Ukraine, das in Lugano diskutiert wurde, versucht, der Bevölkerung die Regeln der neoliberalen Ordnung aufzuzwingen. [12]
Die Zukunft bleibt ungewiss. Wir wissen nicht, wie die Krisen nationaler demokratischer Zersetzung sich auf die internationale Situation auswirken werden; ob eine plötzliche Krise morgen im Mittelmeer rund um die Türkei oder im Nahen Osten ausbricht; wie der „totale Krieg“ (einschließlich Sanktionen und wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen) fortgesetzt wird; ob die Brutalität der Auswirkungen der Klimakrise Migrationswellen auslösen und zu einer weiteren Verhärtung der Festung Europa führen wird.
Die ukrainische Krise war allerdings eine Gelegenheit für die westeuropäische Linke, die Bedeutung der Erfahrungen der osteuropäischen Linken zu verstehen und sie in ihre eigene „Sicht“ zu integrieren. Wir können nicht über Geopolitik nachdenken, ohne über unseren nationalen Horizont hinauszugehen und zu lernen, die Welt von anderswo zu betrachten. Es genügt nicht, unsere Genossen/Genossinnen zu unterstützen, die auf beiden Seiten der russischen Grenze kämpfen, insbesondere Sozialnyj Ruch, die ukrainische „Soziale Bewegung“; wir müssen ihnen auch zuhören und von ihnen lernen.
Genauso darf die Ukraine uns nicht den schrecklichen Krieg in Burma (Myanmar) vergessen lassen oder die gefährliche Natur des fortwährenden Kampfes auf den Philippinen nach der Rückkehr des Marcos-Klans an die Macht. Die radikale Linke muss internationalistisch in Aktion sein, oder sie wird nichts sein.
13. Juli 2022 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz