Michael Löwy
In den verschiedenen Diskursen über das Klima findet man eine große Anzahl von Gemeinplätzen, die tausendmal in allen Tonlagen wiederholt werden, die falsche Fährten darstellen und ‒ absichtlich oder unabsichtlich ‒ dazu führen, dass man die wahren Herausforderungen ignoriert oder an Pseudolösungen glaubt. Ich beziehe mich hier nicht auf die Diskurse der Leugner:innen der menschengemachten globalen Erwärmung, sondern auf Diskurse, die sich als „grün“ oder „nachhaltig“ bezeichnen. Es handelt sich um Behauptungen ganz unterschiedlicher Art: Einige sind echte Manipulationen, Fake News, Lügen, Mystifizierungen; andere sind Halbwahrheiten oder ein Viertel der Wahrheit. Viele sind voll von gutem Willen und guten Absichten ‒ Material, mit dem bekanntlich der Weg zur Hölle gepflastert ist. Auf dieser Straße befinden wir uns übrigens auch: Wenn wir mit „Business as usual“ weitermachen (auch wenn es grün angestrichen ist), werden wir uns in einigen Jahrzehnten in einer Situation befinden, die weitaus schlimmer ist als die meisten Kreise der Hölle, die Dante Alighieri in seiner Göttlichen Komödie beschrieben hat.
Die folgenden elf Beispiele sind nur einige dieser Gemeinplätze, die es zu vermeiden gilt.
Diesem Satz begegnet man überall: auf Plakaten, in der Presse, in Magazinen, in Erklärungen von Politikern etc.
In Wirklichkeit ist es Unsinn: Der Planet Erde ist in keiner Weise gefährdet! Unabhängig vom Klima wird sie sich in den nächsten Millionen Jahren weiterhin ruhig um die Sonne drehen. Was durch die globale Erwärmung bedroht ist, sind unzählige Lebensformen auf diesem Planeten, darunter auch unsere eigene: die Spezies Homo Sapiens.
Der Begriff „Rettung des Planeten“ erweckt den falschen Eindruck, dass es sich um etwas handelt, das außerhalb von uns liegt, das sich irgendwo anders befindet und uns nicht direkt betrifft. Die Menschen werden nicht aufgefordert, sich um ihr Leben oder das ihrer Kinder zu sorgen, sondern um eine vage Abstraktion, den „Planeten“. Kein Wunder, dass die am wenigsten politisierten Menschen reagieren, indem sie sich sagen: Ich bin zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt, um mir Sorgen um „den Planeten“ zu machen.
Rettet die Erde Klimastreik 2021, Foto: Ivan Radic |
Dieser unendlich oft wiedergekäute Gemeinplatz ist eine Variante der vorherigen Formel.
Er enthält eine Halbwahrheit: Jeder muss persönlich dazu beitragen, die Katastrophe zu verhindern. Er vermittelt jedoch die Illusion, dass es ausreicht, „kleine Beiträge“ zu sammeln ‒ das Licht auszuschalten, den Wasserhahn zuzudrehen usw., ‒ um das Schlimmste zu verhindern. Auf diese Weise wird ‒ bewusst oder unbewusst ‒ die Notwendigkeit tiefgreifender struktureller Veränderungen in der gegenwärtigen Produktions- und Konsumweise ausgeblendet, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems in Frage stellen, das auf einem einzigen Kriterium beruht: der Profitmaximierung.
Es ist ein Bild, das man überall findet und das bis zum Überdruss wiederholt wird: ein armer Eisbär, der versucht, inmitten von treibenden Eisschollen zu überleben. Sicherlich ist das Leben des Eisbären ‒ und vieler anderer Arten in den Polarregionen ‒ bedroht. Dieses Bild mag das Mitgefühl einiger großzügiger Seelen wecken, aber für die Mehrheit der Bevölkerung ist es eine Angelegenheit, die sie nicht betrifft.
Das Schmelzen des Polareises bedroht nicht nur den tapferen Eisbären, sondern letztendlich auch die Hälfte oder mehr der Menschheit, die in großen Städten am Meer lebt. Das Schmelzen der riesigen Gletscher in Grönland und der Antarktis kann den Meeresspiegel um einige Dutzend Meter ansteigen lassen. Nun reichen aber nur wenige Meter, um Städte wie Venedig, Amsterdam, London, New York, Rio de Janeiro, Shanghai und Hongkong unter Wasser zu setzen. Zwar wird dies nicht im nächsten Jahr passieren, aber die Wissenschaftler können nur feststellen, dass sich das Schmelzen dieser Gletscher beschleunigt … Es ist unmöglich, vorherzusagen, wie schnell dies geschehen wird, da viele Faktoren im Moment schwer zu berechnen sind.
Wenn man nur den armen Eisbären in den Vordergrund stellt, verschweigt man, dass es sich um eine Furcht erregende Angelegenheit handelt, die uns alle betrifft …
Hierbei handelt es sich um eine Halbwahrheit voller gutem Willen: Die globale Erwärmung wird vor allem die armen Länder des Südens treffen, die am wenigsten für die CO2-Emissionen verantwortlich sind. Es stimmt, dass diese Länder am stärksten von Klimakatastrophen, Hurrikanen, Dürren, schwindenden Wasserquellen usw. betroffen sein werden. Es ist aber auch falsch, dass die Länder des Nordens nicht in sehr hohem Maße von denselben Gefahren betroffen sein werden: Gab es nicht schreckliche Waldbrände in den USA, Kanada und Australien? Haben Hitzewellen in Europa nicht zahlreiche Opfer gefordert? Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.
Auch vom Kliamwandel bedroht: Polarfuchs Foto: Quartl |
Wenn man den Eindruck aufrechterhält, dass diese Bedrohungen nur die Völker des Südens betreffen, wird man nur eine Minderheit von überzeugten Internationalisten mobilisieren können. Früher oder später wird jedoch die gesamte Menschheit mit beispiellosen Katastrophen konfrontiert werden. Man muss den Menschen im Norden erklären, dass diese Bedrohung auch sie ganz direkt betrifft.
Diese Behauptung findet sich leider in vielen seriösen Dokumenten. Das scheint mir ein doppelter Fehler zu sein:
Aus wissenschaftlicher Sicht: Wir wissen, dass der Klimawandel kein linearer Prozess ist: Er kann „Sprünge“ und plötzliche Beschleunigungen erfahren. Viele Dimensionen der Erwärmung haben Rückkopplungen, deren Folgen unvorhersehbar sind. Beispielsweise setzen Waldbrände enorme Mengen an CO2-frei, das zur Erwärmung beiträgt und so die Waldbrände intensiviert. Es ist daher sehr schwer vorherzusagen, was in vier oder fünf Jahren passieren wird; wie kann man da behaupten, ein Jahrhundert in die Zukunft zu schauen?
Aus politischer Sicht: Am Ende des Jahrhunderts werden wir alle tot sein, und für die Älteren unter uns auch ihre Kinder und Enkelkinder. Wie können wir die Aufmerksamkeit und das Engagement der Menschen für eine Zukunft mobilisieren, die sie weder nah noch fern betrifft? Müsste man sich also um die kommenden Generationen sorgen? Edler Gedanke, lang und breit argumentiert von dem Philosophen Hans Jonas: unsere moralische Pflicht gegenüber denen, die noch nicht geboren sind. Eine kleine halbe Minderheit sehr angesehener Menschen könnte sich von diesem Argument angesprochen fühlen. Für den Normalbürger ist die Frage, was im Jahr 2100 passieren wird, eine Angelegenheit, die ihn nicht sonderlich interessiert.
Dieses Versprechen der Europäischen Union und verschiedener Regierungen in Europa und anderswo ist weder Halbwahrheit noch naiver guter Wille: Es ist schlicht und ergreifend eine Mystifizierung. Aus zwei Gründen:
Anstatt sich jetzt, sofort, für die dringenden Veränderungen einzusetzen, die von der wissenschaftlichen Community (dem International Panel on Climate Change, IPCC, auf Deutsch meist: Weltklimarat) für die nächsten drei bis vier Jahre gefordert werden, versprechen unsere Regierenden Wunder für 2050. Das ist natürlich viel zu spät. Außerdem wechseln die Regierungen alle vier bis fünf Jahre, welche Garantie gibt es also für diese fiktiven Verpflichtungen in 30 Jahren? Es ist eine groteske Art, die gegenwärtige Untätigkeit mit einem vagen Versprechen in der Ferne zu rechtfertigen.
Außerdem bedeutet „CO2-Neutralität“ nicht, dass die Emissionen drastisch reduziert werden, ganz im Gegenteil! Es ist eine irreführende Rechnung, die auf Ausgleichsmaßnahmen, den „Klimakompensationszahlungen“ [Zertifikatehandel], beruht: Unternehmen XY stößt weiterhin CO2 aus, pflanzt aber einen Wald in Indonesien, der die gleiche Menge CO2 aufnehmen soll ‒ wenn er nicht in Flammen aufgeht. Die Umwelt-NGOs haben die Farce der Ausgleichsmaßnahmen bereits ausreichend angeprangert, ich will nicht weiter darauf eingehen. Aber es zeigt die perfekte Mystifikation, die mit dem Versprechen der „CO2-Neutralität“ verbunden ist.
Auch dieser Gemeinplatz des Greenwashing ist eine Täuschung und Manipulation. Zwar investieren auch Banken und multinationale Konzerne in erneuerbare Energien, aber genaue Studien von Attac und anderen NGOs haben gezeigt, dass es sich dabei nur um einen kleinen ‒ manchmal winzigen ‒ Teil ihrer Finanzgeschäfte handelt: Der Großteil fließt weiterhin in Öl, Kohle, Gas … Es ist eine einfache Frage der Rentabilität und des Wettbewerbs um Marktanteile.
Alle „vernünftigen“ Regierungen schwören ‒ im Gegensatz zu Trump, Bolsonaro und Co. ‒ auch in allen Tonlagen, dass sie sich dem ökologischen Wandel und den erneuerbaren Energien verschrieben haben. Aber sobald es ein Problem mit der Lieferung eines fossilen Energieträgers gibt ‒ zuletzt Gas wegen der aggressiven russischen Politik ‒ flüchtet man sich in Kohle, indem man Braunkohlekraftwerke wieder in Betrieb nimmt, oder man beschwört die (blutige) Königsfamilie Saudi-Arabiens, die Ölproduktion zu erhöhen.
Die schönen Reden über den „ökologischen Wandel“ verschleiern eine unangenehme Wahrheit: Es reicht nicht, erneuerbare Energien auszubauen. Zunächst einmal sind diese intermittierend: Die Sonne scheint nicht immer in Nordeuropa … Zwar gibt es auf diesem Gebiet technische Fortschritte, aber sie können nicht alles lösen. Vor allem aber erfordern die erneuerbaren Energien Bodenschätze, die bald erschöpft sein könnten. Wind und Sonne sind zwar unbegrenzt verfügbar, aber die Materialien, die für ihre Nutzung benötigt werden (Lithium, seltene Erden usw.), sind es nicht. Daher müssen wir eine Reduzierung des Gesamtenergieverbrauchs und ein selektives Schrumpfen in Betracht ziehen: Maßnahmen, die im Kapitalismus unvorstellbar sind.
Zum AutorMichael Löwy wurde 1938 in Brasilien geboren und ist emeritierter Forschungsdirektor am französischen Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS) in Paris.Zuletzt erschienen von ihm auf Französisch die Bücher Kafka, Welles, Benjamin: Éloge du pessimisme culturel (2019), La Comète incandescente: Romantisme, surréalisme, subversion (2020), Marx Inconnu (2022), alle in Orange bei den éditions le Retrait. Auf Deutsch erschienen in den letzten Jahren: Ökosozialismus ‒ Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe (Hamburg: Laika, 2016); Revolutionäre Annäherung: Unsere roten und schwarzen Sterne (mit Olivier Besancenot, Berlin: Die Buchmacherei, 2016);Rosa Luxemburg: Der zündende Funke der Revolution (Hamburg: VSA, 2020); Erlösung und Utopie: Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft, 3. dt. Ausg., (Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2021); ad Walter Benjamin: Die Revolution als Notbremse (Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2022). |
Dieses Argument wird immer häufiger von Regierungen verwendet und ist sogar in einigen seriösen Dokumenten (z. B. des IPCC) zu finden. Es ist die Illusion einer technologischen Wunderlösung, die das Klima retten würde, ohne dass wir etwas an unserer (kapitalistischen) Produktionsweise und unserem Lebensstil ändern müssten.
Leider ist die traurige Wahrheit, dass diese wundersamen Techniken zum Einfangen von CO2 aus der Atmosphäre und Sequestrieren [Wegspeichern] weit davon entfernt sind, Realität zu werden. Zwar gab es einige Versuche, und hier und da laufen einige Projekte, aber bislang kann man nicht sagen, dass diese Technologie effektiv und einsatzbereit ist. Sie hat noch nicht die Schwierigkeiten gelöst, weder die des Einfangens noch die der Sequestrierung (in unterirdischen Regionen, die für Lecks undurchlässig sind). Und es gibt keine Garantie, dass sie dies in Zukunft tun kann.
Dies ist ein weiteres Beispiel für eine Halbwahrheit: Zwar sind Elektroautos weniger umweltschädlich als Verbrennungsmotoren (mit Benzin oder Diesel) und daher weniger ruinös für die Gesundheit der Stadtbewohner. Aus Sicht des Klimawandels ist ihre Bilanz jedoch viel durchwachsener. Sie stoßen weniger CO2 aus, tragen aber zu einer katastrophalen Devise bei: „Alles mit elektrischem Strom“. In den meisten Ländern wird Strom jedoch mit fossilen Brennstoffen (Kohle oder Öl) erzeugt. Die geringeren Emissionen von Elektroautos werden durch die höheren Emissionen, die durch den höheren Stromverbrauch entstehen, „kompensiert“. In Frankreich wird der Strom durch Kernenergie erzeugt, eine weitere Sackgasse. In Brasilien sind es die Mega-Staudämme, die Wälder zerstören und somit für eine schlechte CO2-Bilanz verantwortlich sind.
Wenn man die Emissionen drastisch senken will, kommt man nicht umhin, den privaten Autoverkehr deutlich zu reduzieren, indem man alternative Verkehrsmittel fördert: kostenlose öffentliche Verkehrsmittel, Fußgängerzonen und Fahrradwege. Das Elektroauto nährt die Illusion, dass man mit einer anderen Technologie weitermachen kann wie bisher.
Für aufrichtige Umweltschützer:innen ist das eine Illusion; im Mund der Regierenden ist es immer noch eine weitere Mystifizierung. Marktmechanismen haben sich überall als völlig unwirksam bei der Reduzierung von Treibhausgasen erwiesen. Es sind nicht nur unsoziale Maßnahmen, die die Arbeiterklasse den Preis für den „ökologischen Wandel“ zahlen lassen wollen, sondern sie sind vor allem unfähig, einen substanziellen Beitrag zur Begrenzung der Emissionen zu leisten. Das spektakuläre Scheitern der im Rahmen des Kyoto-Abkommens eingeführten „Kohlenstoffmärkte“ ist der beste Beweis dafür.
Die Allmacht der fossilen Energieträger, die das System seit zwei Jahrhunderten am Laufen halten, kann nicht durch „indirekte“, „anreizorientierte“ Maßnahmen gebremst werden, die auf der Logik des kapitalistischen Marktes beruhen. Der erste Schritt ist die Enteignung der kapitalistischen Energiemonopole und die Schaffung eines öffentlichen Energiedienstes, dessen Ziel es ist, die Ausbeutung fossiler Brennstoffe drastisch zu reduzieren.
Diese Art von fatalistischer Behauptung findet man in den Medien und bei politischen „Verantwortlichen“. So erklärte beispielsweise Christophe Béchu, Minister für den ökologischen Übergang in der neuen Regierung Macron, kürzlich: „Da wir die globale Erwärmung nicht verhindern können, egal wie sehr wir uns bemühen, müssen wir es schaffen, ihre Auswirkungen zu begrenzen und uns gleichzeitig daran anzupassen.“
Das ist ein hervorragendes Rezept, um Untätigkeit, Stillstand und die Aufgabe aller „Bemühungen“ zu rechtfertigen, die versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Die Wissenschaftler des IPCC haben jedoch deutlich gemacht, dass die Erderwärmung zwar bereits begonnen hat, es aber immer noch möglich ist, die rote Linie von 1,5 °C nicht zu überschreiten ‒ vorausgesetzt, man beginnt sofort mit einer deutlichen Reduzierung der CO2-Emissionen.
Sicherlich muss man versuchen, sich anzupassen. Aber wenn der Klimawandel außer Kontrolle gerät und sich beschleunigt, ist „Anpassung“ nur Augenwischerei. Wie kann man sich an Temperaturen von 50 °C „anpassen“?
Es ließen sich noch viele weitere Beispiele anführen. Sie alle führen zu dem Schluss, dass wir das System, d. h. den Kapitalismus, ändern und durch eine andere Form der Produktion und des Konsums ersetzen müssen, wenn wir den Klimawandel verhindern wollen. Das nennen wir Ökosozialismus. Aber das ist das Thema eines anderen Texts …
Paris, 27. August 2022 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz