Iran

Vorsicht vor den falschen Freunden

Trotz des Einsatzes von Armee, Polizei, Revolutionsgarden und Basidsch-Miliz und trotz des weiterhin stark eingeschränkten Zugangs der Bevölkerung zum Internet gehen die Proteste gegen das Regime weiter.

Yassamine Mather

Auslöser war bekanntlich die Tötung von Mahsa Amini (mit ihrem kurdischen Namen Jîna Emînî) durch die Sittenpolizei, nachdem sie vor drei Wochen verhaftet wurde, weil sie ihr Kopftuch nicht ordnungsgemäß getragen hatte. Arbeiter- und inzwischen auch Lehrer*innen, Studierende und Schüler*innen haben gestreikt, demonstriert und Widerstand gegen das Regime geleistet. Vor allem die Schülerinnen zeigten offen ihre Abscheu vor dem Religionsstaat und seinen Gesetzen, die sich in das Privatleben von Jung und Alt einmischen, indem sie sich den Protesten anschlossen, Kopftücher schwenkten und Lieder gegen die Islamische Republik anstimmten.

Die normale Bevölkerung hat keine Angst mehr vor dem Regime und seinen Sicherheitskräften. Die Tatsache, dass das Regime Fotos retuschieren musste, um die Gegendemonstrationen viel größer als in Wirklichkeit erscheinen zu lassen, spricht Bände.

Videos und Fotos in den sozialen Medien zeigen Demonstrationen in weiterführenden Schulen und auch in den umliegenden Straßen. Es gibt ein kurzes Online-Video aus Karaj in der Nähe von Teheran, in dem Schülerinnen einen Basidsch-Milizionär, der versucht, die „Kopftuch-Regeln“ durchzusetzen, aus ihrer Schule drängen, indem sie „Schande über dich“ rufen und leere Plastikflaschen auf den Mann werfen, bis er verschwindet. Genial, wunderbar, inspirierend!

Offensichtlich sind weite Teile der Bevölkerung, insbesondere die Jugend, so wütend, dass sie sich nicht so bald geschlagen geben werden und keine noch so große Repression sie abzuschrecken scheint. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Demonstrationen risikolos verlaufen wären. Nach vorsichtigen Schätzungen sind in den letzten Wochen über 140 Menschen getötet worden. Wie angespannt die Lage ist, zeigt ein detaillierter Bericht vom 2. auf den 3. Oktober an der Scharif-Universität, der von der Islamischen Vereinigung der Scharif-Universität auf ihrem Twitter-Account veröffentlicht wurde und das Ausmaß der Einschüchterung und Unterdrückung verdeutlicht.

Die Islamische Vereinigung ist nicht für ihre radikalen politischen Ansichten oder gar für ihre Opposition gegen das Regime bekannt – daher die Bedeutung ihres Social-Media-Berichts über diese Ereignisse. In dem Bericht sieht man, wie Sicherheits- und Lehrkräfte der Universität die Studierenden zum Parkplatz der Universität bringen, damit sie über den Timuri-Platz zur U-Bahn, zu den Wohnheimen oder zu ihren Autos gehen können, und wie dann uniformierte Kräfte mit Gewehren auftauchen. Nachdem eine große Anzahl von Personen eingetroffen ist, wird denjenigen, die sich auf dem Parkplatz befinden, mitgeteilt, dass die Eingangstüren verriegelt bleiben und die Studierenden diesen Bereich zunächst durch einen Supermarkt verlassen müssen. Daraufhin gehen die uniformierten Kräfte mit Schlagstöcken, Gewehren und Motorrädern gegen die Studierenden vor.


Die Rolle der Regierung …


Wissenschaftsminister Mohammad Ali Zolfigol beschuldigte die protestierenden Studierenden, Eigentum zu beschädigen und „öffentliche Mittel zu verschwenden“. Ein Online-Video zeigt den Minister inmitten von Studierenden, die ihm von den Sicherheitskräften erzählen, die mit Kugeln und Tränengas auf sie schießen. Die Studierenden berichten, sie seien besorgt um die Menschen, die auf dem Campus eingeschlossen sind. Ein Student berichtet Zolfigol, dass viele von ihnen in anderen Instituten eingeschlossen sind und „jetzt machen wir uns Sorgen um ihre Sicherheit … Wir machen uns Sorgen um ihr Leben“.

Ayatollah Chamenei (dem es im Gegensatz zu einigen westlichen Presseberichten recht gut zu gehen scheint) hielt am 3. Oktober seine erste Rede zu den jüngsten Ereignissen. Er machte die Feinde Irans für die Proteste verantwortlich, die durch den Tod von Mahsa in Haft ausgelöst wurden, den er als „bitteren Vorfall“ bezeichnete. Er fügte hinzu: „Ich erkläre unmissverständlich, dass der Aufruhr und die jüngsten Unruhen im Iran von den USA, dem falschen zionistischen Usurpatorenregime, ihren Söldnern und einigen iranischen Verrätern im Ausland, die ihnen geholfen haben, geplant wurden.“

Ohne Zweifel könnten sich die US-Regierung und der israelische Staat keine bessere Entwicklung wünschen als die derzeitige Rebellion, aber in diesem speziellen Fall kann nur das islamische Regime selbst verantwortlich gemacht werden, nicht nur für die Ermordung von Mahsa Amini – und vieler anderer – sondern auch für die politische und wirtschaftliche Situation, die zu diesen Protesten geführt hat.

In einer wirtschaftlich prekären Phase – verbunden mit großem Unmut über die Korruption auf allen Ebenen der staatlichen Bürokratie, mit der Wut über die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, ganz zu schweigen von der Aufkündigung des Atomabkommens – erklärt die Regierung von Präsident Ibrahim Raisi die Einhaltung des „korrekten Tragens des Kopftuchs“ zum vorrangigen Thema unserer Zeit, nachdem es während der Präsidentschaft von Rohani einige kleinere Lockerungen gegeben hatte.

Nachdem sie etliche Jahre im Dämmerzustand verbracht hatten, versuchen die iranischen „Reformisten“ nun, aus diesem Debakel Honig zu saugen. Viele „Prominente“, die mit dieser Fraktion des Regimes verbunden sind – Schauspieler, Sänger, Filmregisseure, Fußballspieler – haben in den sozialen Medien ihre Unterstützung für die Proteste zum Ausdruck gebracht. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, wie angeschlagen das Regime ist und dass nicht wenige das sinkende Schiff verlassen wollen.

Mir Hossein Mousavi, Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen 2009 und Führer der grünen Bewegung, hat seine Unterstützung für die Protestwelle zum Ausdruck gebracht und die Streitkräfte aufgefordert, sich „auf die Seite der Wahrheit, auf die Seite der Nation“ zu stellen.

Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Hätte Mousavi 2009, als Hunderttausende gegen die gefälschten Wahlen protestierten, ähnlich geklungen und hätte er damals den Obersten Führer herausgefordert, wäre ihm und seinen Anhängern vielleicht die anschließende Repression ihres halbherzigen Widerstands erspart geblieben. So aber kommen seine Äußerungen zu spärlich und zu spät. Männer und Frauen, Arbeiter*innen und Student*innen, fordern den Sturz des gesamten Regimes, und ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeine Fraktion des Regimes der Islamischen Republik es jetzt noch retten kann.


… und der Opposition


Der größte Teil der organisierten Opposition ist jedoch wenig prinzipientreu. Es gibt diejenigen, die eine „ausländische Intervention“ und vermehrte Sanktionen fordern Maßnahmen, die die derzeitigen Machthaber nur stärken würden. Dabei handelt es sich entweder um Parolen von Dummköpfen oder solchen, die tatsächlich mit der derzeitigen US-Regierung in Verbindung stehen oder mit neokonservativen Republikanern verbündet sind (wie die Anhänger des Ex-Schahs oder der verrückten islamischen Sekte Mudschahedin-e-Khalk, die von Saudi-Arabien unterstützt wird).

Alle Teile der iranischen „Linken“, die einen „Regimewechsel von oben“ unterstützen, sowie diejenigen, die in den letzten Jahren von israelischen, saudischen oder VAE-Geldern profitiert haben, fordern die westlichen Regierungen auf, auf jede erdenkliche Weise zu intervenieren. Ich muss wohl nicht betonen, dass ein solches Eingreifen US-amerikanischer oder europäischer Staaten der derzeitigen Bewegung schaden würde. Sie würde die schwindende Unterstützung des Regimes stärken und sollte daher unbedingt vermieden werden. Ausländische Staaten sollten nach wie vor dazu aufgefordert werden, ihre Hände vom Iran weg zu lassen. Das iranische Volk braucht zwar internationale Unterstützung, aber diese sollte von sozialistischen, demokratischen und proletarischen Kräften kommen.

Dann gibt es noch die Führer der – in meinen Augen – reformistischen Linken, angeführt von der Fedayin-Mehrheit, die nach wie vor Illusionen in bestimmte Fraktionen der Islamischen Republik hegen. Bei Farrokh Negahdar, dem ehemaligen Führer der Fedayin-Mehrheit und Anhänger der „Reformer-Fraktion“ des Regimes, liest sich das so:

„Es ist 40 Jahre her, dass allen Gegnern des Wali-Faghih-Systems (der Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten) das Recht entzogen wurde, an Wahlen teilzunehmen. Vor vier Jahren wurde allen Strömungen innerhalb des Systems, ob fundamentalistisch oder reformorientiert, das Recht auf Teilnahme an den Wahlen verweigert. Sie haben die Wahlen angeordnet, damit sich Parlament und Regierung in den Händen der Gegner des JCPoA (Atomabkommen mit dem Iran) befinden. Der Führer sagte: ‚Ich werde eine Regierung bestimmen‘, und die Menschen sollen kommen und dafür stimmen. In diesen vier Jahren habe ich Hinz und Kunz angeschrieben und an jedes Bündnis appelliert mit den Worten: ,Die Wiederbelebung des Nuklearabkommens‘ und ,freie Wahlen‘ sind die Fenster der Hoffnung. Verschließt sie nicht … Lasst die Menschen wieder an die Urnen gehen. Biden ist an die Regierung gekommen, und das Team von Sarif/Araghchi (Außenminister bzw. Atomverhandlungsführer während der Präsidentschaft von Rohani) soll die Arbeit zu Ende bringen.“

Dies sind interessante Kommentare. Was die Linke betrifft, so dauert die Unterdrückung durch die Islamische Republik nicht nur 40, sondern 44 Jahre an. Es ist jedoch verständlich, warum Negahdar die drei Jahre und neun Monate, in denen er und die prosowjetische Tudeh-Partei auf der Seite des Khomeini-Regimes und seiner Revolutionsgarden standen, nicht als eine Ära der Unterdrückung betrachtet. In dieser Zeit hielt er es (und hält es noch immer) für legitim, Mitglieder der Linken anzugreifen, zu verhaften und zu töten!

Dann erzählt er uns, dass in den letzten vier Jahren, anstatt sich an die Demonstrant*innen zu wenden und sich um wirklich grundlegende radikale Alternativen zu bemühen, alle Anstrengungen unternommen wurden, sich mit den Machthabern zu arrangieren. Negahdar fügt hinzu: „Die Islamische Republik ist mit einer geschlechts-, länder- und klassenübergreifenden Bewegung konfrontiert.“

Als wäre diese Position nicht schon schlimm genug, lässt sich noch eines obendrauf setzen: Im Grunde genommen rät die reformistische „Linke“ den Demonstrant*innen, Gewalt zu vermeiden – als ob in einer Diktatur brutale Unterdrückung und Gewalt von ihnen ausgehen würden!

Eine andere führende Person der Fedayin-Mehrheit, Roghiyeh Daneshgari, äußert sich so: „Es liegt an den klugen Kräften des Landes – insbesondere an den Aktivist*innen des Irans, die nach Gerechtigkeit und Freiheit streben –, die Polarisierung des Landes und die Zunahme von Wut und Gewalt bei den Protesten nicht zu schüren, damit das Land nicht in Asche zerfällt.“

Sie lehnt auch weiterhin jede Form von Gewalt ab. Dabei haben die Demonstrant*innen keine Gewehre und keine Waffen. Gelegentlich haben Student*innen Molotowcocktails eingesetzt, aber das diente zur Verteidigung und als Vergeltung für Tränengas, Pfefferspray und Kugeln, die von der Armee und anderen Sicherheitskräften abgefeuert wurden. Man könnte sich vielmehr fragen, warum Roghiyeh Daneshgari sich in den letzten 44 Jahren nicht gegen die Gewalt des Staates verwahrt hat. Warum hat sie nicht die Gewalt in den frühen 1980er Jahren verurteilt, als sie Teil der „legalen“ Opposition war, während wir als Fedayin-Minderheit Angriffen von Hubschraubern auf unsere kurdischen Stützpunkte ausgesetzt waren? Offensichtlich war staatliche Gewalt damals für sie in Ordnung und ist auch heute noch akzeptabel – nur der Widerstand von unbewaffneten Demonstranten ist demnach verwerflich.

      
Mehr dazu
Aufruf: Unterstützung des Aufstands „Frau, Leben, Freiheit“ - Nein zu Todesurteilen!, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023) (Online-Vorabdruck). Auch bei intersoz.org
Babak Kia: Kurze Chronik der Unterdrückung, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023) (nur online). Auch bei intersoz.org
Interview mit Amir Kianpur: Das Besondere an den aktuellen Protesten im Iran, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Gruppe der Aktivistinnen der Frauenbewegung Iran: Zwei wertvolle Schritte!. Kommuniqué Nr. 6, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023) (nur online)
Gruppe der kämpfenden iranischen Frauen in Iran: Lobbyismus ‒ unter welchem Namen auch immer ‒ ist zu verurteilen, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023) (nur online)
Bahman Ajang: Iranisches Regime durch beispiellose Revolte erschüttert, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022) (nur online)
Büro der Vierten Internationale: Solidarität mit der Protestbewegung im Iran, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022)
Wirtschaftliche Lage, Repression und Widerstand, die internationale Nr. 1/2020 (Januar/Februar 2020)
Houshang Sepehr: Wohin treibt die islamische Republik?, Inprekorr Nr. 458/459 (Januar/Februar 2010)
Babak Kia: Krise des Regimes und Mobilisierungen der Bevölkerung, Inprekorr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009)
Erklärung des Büros der IV. Internationale: Unser Platz ist an der Seite des iranischen Volkes!, Inprekorr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009)
 

Diese Menschen haben prinzipielle Angst vor radikalen Veränderungen. Sie sind froh, wenn das derzeitige System mit einigen „Reformen“ bestehen bleibt, und sie geben vor, mit den Demonstrant*innen zu sympathisieren, während sie sie in Wirklichkeit ablehnen.

Teile der Linken wiederholen den alten Fehler, die „Einheit mit allen“ anzustreben, nach der Devise: „Lasst uns unsere Reihen nicht spalten – wir sind alle Iraner*in­nen“. Nun, man muss schon völlig idiotisch sein, um sich nicht daran zu erinnern, wohin diese „Einheit“ beim letzten Mal geführt hat: zur Unterstützung von Ayatollah Khomeini!

Es ist unmöglich vorherzusagen, was in den nächsten Wochen geschehen wird. Die Polizei und die Armee haben hauptsächlich Gummigeschosse eingesetzt, die schwere Verletzungen und Schmerzen verursachen können, aber nicht unbedingt töten. Wenn die Proteste zunehmen, könnte es durchaus sein, dass sie auch scharfe Munition einsetzen und dass viel mehr Menschen getötet werden.

Auch andere internationale Entwicklungen könnten die Lage im Iran beeinflussen. Offensichtlich sind Raisi und Chamenei enge Verbündete von Wladimir Putin, Fans seiner „Entschlossenheit und Initiative“ in der Ukraine. Dies könnte eine Rolle gespielt haben bei der harten Reaktion des Regimes auf die Trauerbekundungen und Proteste unmittelbar nach dem Tod von Mahsa Amini. Da Putin in der Ukraine fast sicher eine Niederlage droht und seine Zukunft ungewiss scheint, muss sich die iranische Führung gewahr sein, einen engen Verbündeten zu verlieren.

Wir können nur hoffen, dass es nicht zu einer „Intervention“ des Westens kommt.

Aus: weekly worker vom 6.10.22
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz