Energie

Energiekrise in Europa und die Lage in Frankreich

Der folgende Artikel beleuchtet einerseits die spezifische Situation auf dem französischen Energiesektor, verschafft aber darüber hinaus einen Überblick über die Mechanismen, die auf dem europäischen Markt wirksam sind und die Preise für die Verbraucher und ebenso die Profite für die Konzerne explodieren lassen.

Ökologiekommission der NPA

Wie überall auf der Welt steigen auch in Europa die Energiepreise in die Höhe und die Engpässe werden immer größer. Im Januar 2021 lagen die Strompreise auf den Großhandelsmärkten bei rund 47 €/MWh. Im September 2021 erreichten sie mit über 100 €/MWh einen damals historischen Höchststand. Im August 2022 lagen sie bei fast 750 €/MWh. Heute bewegen sie sich um die 200 €/MWh. Es ist davon auszugehen, dass die Preise in Europa zumindest bis zum Ende des Winters weiterhin hoch bleiben werden. Die Auswirkungen sind vielfältig: explodierende Gewinne der großen Energiekonzerne, Schwächung der „unabhängigen“ Energieversorger, die die Preiserhöhungen an ihre Kunden weitergeben etc. Aber auch Mehrkosten für Gebietskörperschaften und Unternehmen und massive Probleme für die Privathaushalte, insbesondere für die ärmsten – trotz der von einigen Regierungen eingeführten flankierenden Maßnahmen.


Konjunkturelle, aber v. a. strukturelle Ursachen


Nach der Corona-Pandemie kam es zu einem Anstieg der Nachfrage, während das Angebot aus verschiedenen Gründen stockte, was die Spekulation auf den Märkten anheizte. Neben dem Krieg in der Ukraine, der meist als alleiniger Grund für den Preisanstieg angeführt wird, sind auch Spekulationen mit fossilen Brennstoffen und die Kohlenstoffpreise für die Emissionen von CO2 für den Anstieg verantwortlich. In Frankreich kommen noch weitere spezifische Ursachen hinzu: die geringere Verfügbarkeit der Kernkraft (45 % seiner Gesamtleistung im letzten Halbjahr 2022) aufgrund der alternden Reaktoren und die Wasserknappheit in den Staudämmen aufgrund der Dürre etc. Doch die Konjunktur ist nicht die einzige Erklärung für den unkontrollierten Anstieg der Energie- und insbesondere der Strompreise.

Hauptverantwortlich ist der ECT (Energiecharta-Vertrag), der 1994 ratifiziert wurde, um die Versorgung Westeuropas mit fossilen Brennstoffen zu sichern und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Staaten im Energiebereich zu fördern. Die Energiecharta ist ein rechtlicher Schutzschild für die „Investoren“ im Energiesektor. Auf dieser Grundlage können sie Staaten verklagen, die eine Klimapolitik zulasten ihrer Geschäftstätigkeit verfolgen. Dadurch können Energiekonzerne von Regierungen „Entschädigungen“ in Milliardenhöhe fordern. Außer dass die Charta zulasten der Klimapolitik geht, ist sie ein Dukatenesel für die Kapitalisten: 85 Milliarden US-Dollar an Zahlungen zu Lasten der [Vertrags-]Staaten im Jahr 2021 für Fälle, die bis dahin entschieden oder noch anhängig waren.


Der Energiemarkt als Dukatenesel


Die Hauptursache des Problems ist jedoch die Öffnung der europäischen Strommärkte für den Wettbewerb. Die von der OECD vorangetriebene Deregulierung erforderte zunächst die Beseitigung jeglicher Residuen der öffentlichen Daseinsvorsorge, was in Frankreich zu der organisierten Zerschlagung des staatlichen Strommonopols (EDF) führte. Die Verstaatlichung des Sektors durch de Gaulle 1946 im Rahmen einer Regierung der Nationalen Union mit kommunistischen Ministern zielte darauf ab, die kapitalistische Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufzubauen. Im Jahr 1996 formalisierte eine EU-Richtlinie die wirtschaftsliberale Politik des „freien und unverfälschten“ Wettbewerbs in der EU und besiegelte das Ende des EDF-Monopols. Andere private Anbieter konnten nun Strom an Privat- und Geschäftskunden verkaufen, ohne selbst Erzeuger zu sein und stattdessen als Handelsvermittler zwischen Erzeugern und Verbrauchern fungieren. In der Vergangenheit verkaufte der angestammte Betreiber EDF seinen Strom direkt an die Verbraucher zu einem Preis, der die Produktionskosten widerspiegelte. Nun verkauft EDF seinen Strom mit Verlust an Versorger, die ihn wiederum an die Verbraucher weiterverkaufen und sich dabei selbst bereichern.

Das Beispiel EDF ist besonders aufschlussreich für diesen Taschenspielertrick, der darauf abzielt, den Energiemarkt der kapitalistischen Profitlogik wieder zu unterwerfen. Möglich machen dies zwei quasi-mafiöse Konstrukte:

Seit 2010 geht das NOME-Gesetz (Neue Organisation des Strommarktes, Nouvelle organisation du marché de l‘électricité, NOME) noch einen Schritt weiter: Bei der Berechnung der EDF-Verkaufstarife werden die Kosten für die Versorgung dieser „alternativen Anbieter“ auf den Großhandelsmärkten berücksichtigt. Das Ergebnis: ein Bonus für die privaten Versorger, immer größere Verluste für EDF … und steigende Preise für die Nutzer (die inzwischen „Kunden“ heißen). Da die ARENH auf 25 % begrenzt ist, sind private Versorger, die nicht mehr zum Marktpreis einkaufen konnten, in Konkurs gegangen und haben ihre Kunden im Regen stehen lassen. Andere, wie Enercoop, änderten ihre Geschäftsbedingungen, die ihren Abonnenten „grünen, nicht nuklearen Strom“ garantierten, um von EDF nuklearen Strom zum „Spottpreis“ von 42 €/MWh zu kaufen!


Energie ist keine Ware


Der Verbund der Stromnetze verbindet 35 Länder Europas miteinander. Dies ermöglicht es, Ressourcen zu bündeln, um die Produktion an den Verbrauch anzupassen. Für die Kapitalisten ist dies jedoch vor allem ein Mittel, um Strom zu tagesaktuellen Börsenkursen (Großhandelsmärkte, SPOT-Märkte) zu verkaufen, indem sie auf das Angebot und die Nachfrage in den verschiedenen Ländern spekulieren. Um die Gewinne unter dem Deckmantel der „Dekarbonisierung“ zu sichern, funktioniert der Strommarkt nach dem System der „Merit Order“. Der Preis pro MWh wird auf der Grundlage der am Ende produzierten MWh berechnet. Dieser ist je nach Energiequelle unterschiedlich: niedrig für erneuerbare Energien, mittel für Kernkraft und hoch für fossile Energieträger (hauptsächlich Gas). Wenn die Nachfrage nach Strom gering ist, reichen erneuerbare Energien und Kernkraft aus: Der Preis ist dann niedrig. Wenn die Nachfrage jedoch höher ist, werden wieder Wärmekraftwerke in Betrieb genommen. Der Preis, zu dem der Strom auf dem Markt verkauft wird, gleicht sich dann den Produktionskosten der Wärmekraftwerke an. Und alle Akteure in der Erzeugungs-/Verteilungskette profitieren davon, da die zu niedrigen Kosten erzeugte MWh zum teuersten Preis (weiter-)verkauft wird. Die Rechnung für diesen undurchsichtigen und hochspekulativen Energiemarkt zahlen natürlich letztendlich die Verbraucher und Steuerzahler.

Diese Spekulationsblase schürt vor dem Hintergrund der Klimakrise den Zorn in der Bevölkerung und die globale Rezession und schwächt die kapitalistische Weltwirtschaft. Die Verfechter der herrschenden Ordnung sind über die Ohnmacht der Staaten verärgert. „Niemand weiß, was an den virtuellen Handelspunkten für Erdgas geschieht; wie hoch sind die Einkaufspreise, wenn das Gas in den europäischen Häfen ankommt, und wie kommt es, dass die Preise für den Weiterverkauf an die Verbraucher so hoch sind? Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden, und deshalb brauchen wir Transparenz (…)“ (Dan Nica, S&D Europaabgeordneter, zuständig für Energie). Im Oktober 2022 verabschiedete das EU-Parlament eine Resolution, in der die Staatsoberhäupter aufgefordert wurden, diese infernalische Dynamik zu stoppen, und nach Italien bekundeten mehrere EU-Länder wie Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Spanien, Polen, Slowenien und Luxemburg ihre Absicht, aus dem ECT auszusteigen. Unter dem Druck der Energielobbys unterstützt die Europäische Kommission lediglich eine „Modernisierung des Vertrags“ und hat die Abstimmung auf April 2023 verschoben.

Diese Zögerlichkeit, der spekulative Markt und die Anpassung an den Gaspreis sind die Gründe für die Explosion der Energie- und insbesondere der Strompreise. Mit einem Anteil von 40 % an der Nettostromerzeugung der 27 EU-Länder (Eurostat-Daten für 2020) sind der deutsche und der französische Strommarkt die beiden größten in Europa. Aber weder Deutschland mit Gas noch Frankreich mit Atomstrom sind vor Engpässen gefeit. Am 5. September 2022 schlug Macron Bundeskanzler Scholz einen Deal vor: „Deutschland braucht unser Gas und wir brauchen den Strom, der im restlichen Europa und insbesondere in Deutschland erzeugt wird“. 100 % des Urans, das die französischen Atomkraftwerke antreibt, wird importiert. Und die Framatome-Fabrik in Lingen in Deutschland stellt Brennelemente mit in Russland angereichertem Uran für schweizerische, belgische oder französische Kraftwerke her. Am 13. September 2022 lieferte Rosatom eine Ladung dieser Brennelemente über den französischen Hafen Dunkerque nach Deutschland. Und hier gibt es keine Handelssanktionen gegen Russland. Putins Staatsterrorismus, der das ukrainische Kernkraftwerk Saporischja bombardiert, das Personal unter Aufsicht stellt und den Direktor entführt, hindert weder Macron noch Scholz daran, Rosatom zu einem durchaus respektablen Handelspartner für das Atomgeschäft zu machen.

In Anbetracht der angespannten Versorgungslage auf dem von Katar (dem größten Gasproduzenten der Welt) dominierten Gasmarkt und entgegen den Zielen des Weltklimarats haben die EU-Länder in Windeseile 26 Flüssiggasterminals projektiert, davon 11 in Deutschland. Frankreich unterstützt das H2Med-Projekt (Wasserstoff-Pipeline), ein „großes europäisches Netz für grünen Wasserstoff“ (in Wirklichkeit eine verkappte Gaspipeline), das die Iberische Halbinsel mit Deutschland und Nordeuropa über Frankreich verbindet.


Energie unter dem Zeichen des Klassenkampfs


Auf internationaler Ebene verschärfen die explodierenden Energie- und Lebensmittelpreise die strukturellen Spannungen, die seit der weltweiten Corona-Krise rasch zugenommen haben. Die wiederauflebenden Klassenkämpfe in mehreren Ländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas, insbesondere in Peru, sind ein Beispiel dafür. Die Arbeiter*innen und und die Völker Europas werden ebenfalls nicht tatenlos zusehen, wie die Energie- und Rohstoffpreise steigen. Dies gilt umso mehr, als die europäischen Staats- und Regierungschefs vor dem Hintergrund des Katargate-Skandals durch das Wiederaufleben fossiler Brennstoffe und die Vergabe eines „grünen Labels“ für Gas und Atomkraft im Juli 2022 immer mehr als Lakaien der kapitalistischen Interessen und als Saboteure jeglicher Klimapolitik erscheinen.

Aus Angst vor Aufständen wie den „Gelbwesten“ in Frankreich kriminalisieren die europäischen Länder die Widerstandsaktionen gegen ihre Energiepolitik. Im Oktober 2022 wurden vier Streikende einer EDF-Tochtergesellschaft 96 Stunden in Polizeigewahrsam genommen, weil sie wegen einer Aktion zur Unterbrechung der Stromversorgung des Cyberterrorismus beschuldigt wurden. Im November 2022 wurden deutsche und französische Wissenschaftler*innen des internationalen Kollektivs Scientists Rebellion sechs Tage lang inhaftiert, weil sie einen BMW-Showroom in München besetzt hatten. Im Januar 2023 wurde Greta Thunberg zusammen mit anderen Aktivist*innen, die gegen die Erweiterung des Kohlebergwerks in Lützerath (Deutschland) protestierten, mehrere Stunden lang festgenommen. Diese Unterdrückungs- und Einschüchterungsaktionen belegen eindeutig eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den Repressionsapparaten der europäischen Staaten in diesem Bereich.


Energie als Schlüsselfrage


Jede Gesellschaft braucht Energie: Sie ist eine der materiellen Grundlagen unserer Existenz. Sie ist unverzichtbar und ihre Produktion seit der industriellen Revolution ist zum großen Teil für den Klimawandel verantwortlich: ein Widerspruch ohne Ausweg, solange Energie dem Gesetz des Profits unterworfen ist. Der kapitalistische Konsumismus schafft gesellschaftlich überflüssige Märkte. Die Ausgaben für Energie werden im BIP verbucht! Die billigste, umweltfreundlichste und treibhausgasfreie Energie ist jedoch die, die nicht verbraucht wird. Die größte Energiequelle ist die Mäßigung: keine Verschwendung mehr, kein Autofahren um jeden Preis, keine unnötigen Spielereien, keine geplante Obsoleszenz etc.

Angesichts des sozialen und klimatischen Notstands brauchen wir Sofortmaßnahmen:

Aber in der Sache wissen wir als revolutionäre Marxist*innen, dass kein Kompromiss zwischen dem Kapitalismus und dem Überleben der menschlichen Spezies möglich ist; es gibt kein technologisches Wunder, das aus diesem Widerspruch herausführen würde: Rettung des Systems oder des Klimas.

      
Mehr dazu
Jawad Moustakbal: Marokkanische Energiewirtschaft, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023)
Thierry Labica: Enough is enough, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022)
Léon Crémieux: Die Wege des Zorns, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022)
 

Eine Energiewende ist unumgänglich: Entwicklung eines sparsamen Energieverbrauchs und Ersatz von Energie auf Vorrat (fossile Brennstoffe und Kernkraft) durch erneuerbare Energien: Wind, Sonne, Wasserkraft, Geothermie etc. Der Einsatz erneuerbarer Energien wird jedoch nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken, wenn dieser nicht grundlegend verändert wird. Die Gesellschaft muss mit der produktivistischen-extraktivistischen Logik des Kapitalismus brechen und die Bedingungen für eine radikale Demokratie schaffen: Die Produzent*innen und Nutzer*innen informieren sich, diskutieren, schlichten und werden zu Akteuren der Entscheidungen, die das Leben eines jeden Einzelnen betreffen. Wie in anderen strategischen Sektoren sind die Enteignung und die Kontrolle der Arbeiter*innen über den Energiesektor zusammen mit einer demokratischen und ökologischen Planung die Voraussetzungen für eine effiziente und egalitäre alternative Energiepolitik, die die Natur und die biologische Vielfalt bewahrt, und zwar durch ein öffentliches Energiemonopol, das dezentralisiert, denuklearisiert und dekarbonisiert ist.

Die Menschheit steht an einem Scheideweg: auf der einen Seite die Sackgasse des „grünen Kapitalismus“, auf der anderen Seite der Weg zu einer ökosozialistischen Gesellschaft. Die Dialektik der Energierevolution: technologisch (Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer technischen Entwicklungen im Dienste der Menschheit) und politisch (Art und Weise der wirtschaftlichen Entwicklung, des Verkehrs, des Wohnens, der Gestaltung der Umwelt, in der wir leben etc.). Als revolutionäre Marxist*innen treten wir für diesen Weg ein, um hoffentlich noch lange einen Planeten zu erhalten, der für alle Menschen bewohnbar ist.

 Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz