Nach vier Regierungsjahren der neofaschistischen Rechten wurde der einstige Metallarbeiter Lula für seine dritte Amtszeit als Präsident Brasiliens wiedergewählt. So groß die Hoffnungen sind, so groß sind auch die Herausforderungen: konkrete Verbesserungen der Lebensbedingungen der Bevölkerung zu schaffen, das Land aus seiner wirtschaftlichen und sozialen Krise zu befreien und die nach wie vor von der extremen Rechten in Brasilien ausgehende Gefahr abzuwenden. Ein Rückblick auf die ersten beiden Monate.
Gabriella Lima
Die Wahlen im Oktober 2022 fanden vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise statt. Diese mehrdimensionale Krise war jedoch nicht neu, sondern Teil einer Abfolge, die mit den Volksaufständen von 2013 begann, 2016 zum Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff (Arbeiterpartei) führte und dann zum Aufstieg der extremen Rechten in Form der Bolsonaro-Regierung. Während der Corona-Pandemie hat sich die Lage weiter verschärft. Bolsonaros Ignoranz hat mehr als 700 000 Menschen das Leben gekostet, der Amazonas-Regenwald stand in Flammen, indigene Völker wurden durch illegale Goldförderung vertrieben und Mitglieder der LGBTQIA+-Gemeinschaft wurden auf offener Straße angegriffen und getötet, ebenso wie die schwarze und arme Bevölkerung in den Favelas, die regelmäßig Opfer hochgerüsteter Polizeieinsätze wurde, bei denen Dutzende Unschuldige starben.
In der Pandemie schnellten auch wieder die Arbeitslosenzahlen massiv nach oben und Hunger und Elend gehören für Tausende von Familien, die wieder auf der Straße leben müssen, erneut zum Alltag, ganz zu schweigen von den beispiellosen Inflationsraten. Trotz dieser katastrophalen Bilanz gelang es Bolsonaro, Unterstützung bei der Armee, den evangelikalen Kirchen, mehreren Sektoren der Unternehmer*innen sowie die Zustimmung eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung zu seinem neofaschistischen politischen Vorhaben zu gewinnen, das er während seiner Amtszeit nicht auf legalem Wege umsetzen konnte.
In diesem Szenario, wo es v. a. darum ging, Bolsonaro in der Regierung abzulösen, war Lula der einzige, der ernsthaft Paroli bieten konnte. Eigentlich wären Lula und die PT bereits während der Pandemie in der Lage gewesen, Bolsonaro zu stoppen, wenn die Partei sich entschlossen hätte, die Basis zu mobilisieren und die Demonstrationen für ein Amtsenthebungsverfahren zu unterstützen. Doch während die gesamte Linke, die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften und sogar die Rechte trotz des hohen Ansteckungsrisikos auf die Straße gingen, entschied sich der ehemalige Metallarbeiter stattdessen für eine Taktik, die darauf abzielte, den rechtsextremen Präsidenten an der Macht zu halten, ihn politisch zu isolieren und langsam zu demontieren. Damit sollte im Wahlkampf ein angeschlagener Bolsonaro einem Lula gegenüberstehen, der sich als Held und schlechthinniger Kämpfer für die Demokratie inszeniert.
Es ging also darum, die Bedingungen für einen Wahlsieg zu schaffen, indem man die Unternehmer*innen davon abhielt, einen weiteren Kandidaten aufzustellen, der Lulas Chancen schmälern könnte. Die Bourgeoisie hätte dennoch gern den vormaligen Justizminister unter Bolsonaro, Sergio Moro, (berühmt berüchtigt durch seine Rolle bei der Operation „Lava Jato“) präsentiert, wenn dessen Popularität und Glaubwürdigkeit nicht seither weitgehend untergraben worden wären. Mit Bolsonaro im Rennen gab es jedoch keinen Raum für einen dritten ernsthaften Kandidaten.
So fanden die Wahlen 2022 in einem extrem polarisierten Umfeld statt, in dem sich die Bourgeoisie vor die Wahl zwischen Lula und Bolsonaro gestellt sah. Zugleich befand sich Lula in einem Dilemma: Er brauchte die Unterstützung der gesamten Linken und musste daher ein Sozialprogramm vorlegen, das auf die dringenden Bedürfnisse der Bevölkerung eingeht, und zugleich die Unterstützung der Teile der Bourgeoisie gewinnen, mit denen er sich in der Vergangenheit stets verbündet hatte.
Luiz Inácio Lula da Silva Offizielles Foto des Präsidentenpalasts (Ausschnitt), Foto: Ricardo Stuckert |
Dass Lula eine breite Front von links bis rechts hinter sich scharen konnte, überrascht nicht. In erster Linie, weil Lula an der Regierung stets eine Politik der Klassenkollaboration betrieben hat. Als Zeichen der Verpflichtung gegenüber der Bourgeoisie ernannte er folgerichtig und entgegen allen Lehren aus der Vergangenheit Geraldo Alckmin zum Kandidaten als Vizepräsidenten, der – notabene – 2016 den institutionellen Staatsstreich gegen Dilma Rousseff unterstützt hatte. Zweitens sei daran erinnert, dass ein Teil der brasilianischen Bourgeoisie Bolsonaro den Rücken gekehrt und sich zunehmend von ihm distanziert hat, als dieser die Demokratie im Laufe des letzten Jahres zu untergraben versucht hat. Um nur ein Beispiel zu nennen: Am 1. Mai 2022 wurde im Rahmen einer heftigen Kampagne gegen die Demokratie eine Demonstration von Bolsonaro-Anhänger*innen organisiert, deren Hauptforderungen die Abschaffung des Obersten Gerichtshofs und eine Reform des Wahlsystems waren. Zwei Monate später wurde ein Manifest zur Verteidigung der Demokratie veröffentlicht, das von Unternehmerverbänden aus Industrie und Banken unterstützt wurde.
Es war zwar erforderlich, eine taktische Einheit mit der Rechten in den Mobilisierungen zur Verteidigung der Demokratie einzugehen, aber die Einbindung der Rechten in die Regierung ist aus mehreren Gründen ein schwerer Fehler. Erstens erfordert die aktuelle Lage, in der sich Brasilien befindet, dass alle Kräfte mobilisiert werden, um die Bedrohung durch die extreme Rechte zurückzudrängen. Dafür gibt es keine Abkürzungen: Es müssen radikale soziale Maßnahmen ergriffen werden, um die materiellen Lebensbedingungen der Bevölkerung konkret zu verbessern und die soziale Basis von Bolsonaro zu schwächen. Zweitens darf man nicht vergessen, dass die extreme Rechte dank einer politischen Krise erstarkt ist, als nämlich das Vertrauen in die PT-Regierungen geschwunden war. Daher kann man es sich in einem historischen Moment, in dem die rechtsextreme Gefahr nicht gebannt ist, nicht leisten, wieder auf dieselben Rezepte zurückzugreifen, in der Hoffnung, sie könnten diesmal verfangen. Und drittens sind breite Bündnisse zwischen der Rechten und der Linken per se widersprüchlich: Die am weitesten links stehenden Kräfte werden versuchen, die Politik der Regierung nach links zu verschieben, während die Liberalen sie so weit rechts wie möglich positionieren wollen.
Diese Widersprüche kommen bereits zu Beginn der Amtszeit zum Vorschein: Obwohl eine reale und substanzielle Erhöhung des Mindestlohns notwendig gewesen wäre, um weiten Teilen der Bevölkerung aus der Misere zu helfen, war die Erhöhung marginal, ja sogar lächerlich gering, da sie kaum den Anstieg der Lebenshaltungskosten ausgleichen konnte. Hinzu kommt, dass die Zinssätze mit fast 14 % zu den höchsten der Welt gehören, wodurch faktisch keine Kredite von der Bevölkerung aufgenommen werden können.
Das Thema Geldmarktpolitik verdeutlicht die Widersprüche der Regierung: Die brasilianische Zentralbank, die diese Zinssätze festlegt, ist ein unabhängiges Organ, dessen Präsident nicht in denselben Zeiträumen wie die Bundesregierung gewählt wird. Der derzeitige Präsident der Zentralbank, Roberto Campos Neto, ist jedoch ein treuer Anhänger von Bolsonaro und der Enkel eines berüchtigten Technokraten der Militärdiktatur, Roberto Campos, der von 1964 bis 1967 Planungsminister war. Das 2021 verabschiedete „Autonomiegesetz“ der Zentralbank unterstreicht noch einmal die Trennung zwischen dieser Institution und der Regierung und ermöglicht eine Amtszeit von vier Jahren für Campos Neto.
Lula scheut sich zwar nicht, die horrenden Zinssätze öffentlich zu kritisieren, ohne jedoch das Gesetz zu widerrufen, das die Instrumentalisierung der Zentralbank durch die Finanzkreise ermöglicht, die zu den größten Sektoren der Bourgeoisie gehören, die ihn unterstützt haben. Diese Kontrolle der Finanzkreise über die brasilianische Geldpolitik ist jedoch nicht erst seit Bolsonaro bekannt. In seiner ersten Amtszeit hatte Lula Henrique Meirelles zum Leiter der Zentralbank ernannt, der zuvor international als Präsident der BankBoston tätig war. Der war dann auch einer der ersten, der öffentlich seine Unterstützung für Lulas Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2022 erklärte, da er in ihm den Garanten für die Beibehaltung dieser Politik sah.
Auch wenn die PT in der Vergangenheit eine Politik der Klassenzusammenarbeit betrieben hat, richtet die Arbeiterklasse große Hoffnungen in die neue PT-Regierung: mehr Kaufkraft, Arbeitsplätze, Recht auf Wohnraum und massive Investitionen in Gesundheit und Bildung. Die neue Regierung bietet auch bessere Bedingungen für die Linke und die sozialen Bewegungen, um auf der Straße ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, die von der vorherigen Regierung unterdrückt worden waren.
Protest gegen Bolsonaro Mai 2019, Foto: Joalpe |
Lula ließ es sich nicht entgehen, bei der Amtseinführung einen historischen Auftritt zu inszenieren, umgeben von Aktivist*innen der sozialen Bewegungen, die unter Bolsonaro im Visier gestanden hatten. Anielle Franco, die Schwester von Marielle Franco, wurde zur Ministerin für Rassengleichheit ernannt. Sônia Guajajara, eine führende Vertreterin der Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens (APIB) und gewählte Abgeordnete der PSOL in Brasilia, übernahm das Ministerium für indigene Völker und wurde damit zur ersten indigenen Ministerin in der Geschichte des Landes.
Diese Ämter verleihen historisch unterdrückten Bevölkerungsgruppen Sichtbarkeit und wichtige Anerkennung und geben diesen Bewegungen wieder Hoffnung und Handlungsfähigkeit. Für sie ging es zunächst um die Wahl des ehemaligen Gewerkschafters und nachfolgend auch um dessen tatsächliche Amtsübernahme. Nun muss es ihm aber auch gelingen, sein Programm umzusetzen. Daneben muss auch der Kampf gegen die extreme Rechte unermüdlich fortgesetzt werden. In dieser Hinsicht bekräftigte Lula sein Engagement nach dem Putschversuch vom 8. Januar, indem er die neofaschistischen Putschisten beim Namen nannte und harte Maßnahmen zur Bestrafung der Schuldigen ergriff.
Ganz offensichtlich jedoch sind Lulas Regierungsmaßnahmen zugunsten der Unterdrückten und Ausgebeuteten im Moment eher symbolisch als substanziell. Die Erhöhung der Zinssätze und die geringe Anhebung des Mindestlohns fanden statt, obwohl die Regierung gleichzeitig mit den Gewerkschaftsbünden an einem neuen Verfahren zur Anhebung der Löhne arbeitete. In der derzeitigen Regierungskonstellation bedeutet die Verabschiedung ehrgeiziger sozialer Maßnahmen unweigerlich, dass man sich mit den jeweiligen Interessen der eigenen Verbündeten auseinandersetzen muss. Bei seinem Balanceakt zwischen links und rechts bekennt sich Lula einerseits zur Landlosenbewegung und postiert die Umweltaktivistin Marina Silva an die Spitze des Umweltministeriums; andererseits überträgt er das Ministerium für Planung der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Simone Tebet, die die Interessen des Agrarbusiness und der Großgrundbesitzer vertritt.
Diese Ambivalenz birgt Fallstricke, denn man kann den Reichtum nicht umverteilen und gleichzeitig die Interessen einer privilegierten Minderheit wahren. Lula hat zwar einen Schritt in Richtung Umverteilung getan, indem er ein Gesetz der Regierung Temer, das eine Deckelung der öffentlichen Ausgaben vorsah, zu Recht abgeschafft hat. Dies reicht jedoch nicht aus, wenn nicht zugleich eine umfassende Steuerreform durchgeführt wird und große Vermögen, Erbschaften, Gewinne und Dividenden besteuert werden. Nur so können soziale Ungleichheiten bekämpft und die notwendigen Mittel freigesetzt werden, um angemessene öffentliche Dienstleistungen für die Bevölkerung zu gewährleisten. In Brasilien, einem der ungleichsten Länder der Welt, erhalten mehr als 60 % der Einkommenssteuerpflichtigen weniger als 6000 R$ pro Monat (ca. 1084 €). Während Lula im Wahlkampf versprochen hatte, diese Schicht der Lohnabhängigen von der Einkommensteuer zu befreien, gilt diese Maßnahme bislang nur für Einkommen unter 2640 R$ (ca. 477 €).
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Neben den wirtschaftlichen sind auch andere soziale und ökologische Fragen noch offen. Neben der Erhaltung des Amazonas-Regenwaldes ist auch der Schutz der Yanomami-Völker äußerst dringlich. Wohl hat die Regierung durch ihre ersten Maßnahmen und weiteren Versprechen international an Vertrauen und Unterstützung gewonnen. Zugleich aber reicht es keineswegs aus, die indigenen Opfer der bisherigen Vernichtungspolitik mit Nahrungsmitteln und medizinischer Betreuung zu versorgen, wenn nicht zugleich das Gesetz aufgehoben wird, wonach die illegale Goldförderung als „Verbotsirrtum“ straffrei gestellt wird, was die Hauptursache für den Völkermord an den Yanomami ist. Dieses Gesetz, das übrigens 2013 von einem PT-Abgeordneten erlassen wurde, besagt, dass eine einfache Erklärung über die rechtmäßige Herkunft des Goldes ausreicht, um damit Handel treiben zu dürfen, obwohl schätzungsweise 30 % des in Brasilien verkauften Goldes aus illegaler Goldförderung stammen.
Im Bildungssektor ist es dringend erforderlich, die „Bildungsreform“ zurückzunehmen, die die Arbeitsbedingungen aller Lehrer*innen verschlechtert, indem sie das Ausbildungsniveau senkt, das für das Unterrichten an den Oberschulen erforderlich ist. Die Weigerung des neuen Bildungsministers Camilo Santana (PT), diese Reform anzutasten, zeugt nicht nur von einer Missachtung der Beschäftigten im Bildungswesen, die bereits unterbezahlt sind und die Kosten der Sparmaßnahmen in diesem Sektor tragen, sondern auch von einer Kontinuität der Politik von Michel Temer, der die „Reform“ 2017 veranlasst hatte.
Auch wenn die Wiederwahl Lulas Hoffnungen geweckt hat, darf man sich keine Illusionen darüber machen, dass ein radikales Reformprogramm umgesetzt würde, das die Lebensbedingungen der Arbeiter*innen und der Armen Menschen substanziell verbessern würde. Im Gegenteil, es liegt an der Linken und den sozialen Bewegungen, die neu entstandenen Räume zu nutzen, um dies durchzusetzen. Die Mobilisierung auf der Straße, an den Arbeits- und Bildungsplätzen muss den Druck erhöhen, damit die Regierung der Rechten, die versucht, ihre neoliberale Agenda umzusetzen, nicht nachgibt.
Die radikale Linke ihrerseits muss ihre politische Unabhängigkeit bewahren, um sich an den sozialen Bewegungen zu beteiligen und sie bei der Verteidigung eines Programms zu unterstützen, das mit jeder Form der Klassenzusammenarbeit bricht. Demokratische und soziale Kämpfe sind zudem unerlässlich, um das Erbe des Bolsonarismus auszulöschen, denn auch wenn der Wahlsieg eine notwendige Voraussetzung war, ist der Kampf gegen die extreme Rechte noch lange nicht vorbei. Nur durch die ständige Mobilisierung der Bevölkerung wird es möglich sein, sie endgültig zurückzudrängen.
Gabriella Lima ist Mitglied von solidaritéS Schweiz |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2023 (Mai/Juni 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz